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A brilliant collection of short stories from the double Man Booker Prize winning author of Wolf Hall and Bring Up the Bodies. In this new collection of ten stories, all of Mantels gifts of characterisation, observation and intelligence are once again fully on display. With settings ranging from Saudi Arabia to Greece to London, they reveal a great writer at the peak of her powers.

Produktbeschreibung
A brilliant collection of short stories from the double Man Booker Prize winning author of Wolf Hall and Bring Up the Bodies. In this new collection of ten stories, all of Mantels gifts of characterisation, observation and intelligence are once again fully on display. With settings ranging from Saudi Arabia to Greece to London, they reveal a great writer at the peak of her powers.
Autorenporträt
Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte fünf Jahre lang in Botswana und vier Jahre in Saudi-Arabien. Im Jahr 2013 wurde sie mit dem David Cohen Prize for Literature ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2014

Gespenster überall

Die englische Star-Autorin Hilary Mantel hat ein neues Buch geschrieben. Ein Buch voller Erzählungen, und sie sind das Beste, was wir derzeit an zeitgenössischer Literatur haben. Es geht um die Welt der Armen und Reichen, um Oben und Unten, um lebende Tote und um Margaret Thatcher, die in einer der Erzählungen ermordet wird. Was nicht bedeutet, dass Margaret Thatcher hätte ermordet werden sollen. Es bedeutet nur, dass alles anders sein könnte

Was ist eine Geschichte? Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie anders darüber denken. Hilary Mantel erweist sich mit diesem Band als die unumstrittene Königin der zeitgenössischen Literatur, etwas Besseres gibt es derzeit nicht. Wir bestaunen das Werk einer Autorin, die mit amüsierter Souveränität die Welt beschreibt, sie dann aus den Angeln hebt, ein wenig mit ihr spielt und dann, einfach weil sie es kann, schnell mal aufzeigt, dass sich alles auch anders verhalten könnte, und sie tut dies so, dass wir auch in diesem ganz anderen Zustand unsere Welt wiedererkennen und denken: So könnte es ja auch sein! Das ist die Zauberformel der Literatur.

Eine Geschichte handelt beispielsweise an entscheidender Stelle von einem Stück Watte, das in ein Röhrchen mit Kopfschmerztabletten gerutscht ist, und niemand kommt mehr an die Tabletten. Die Erzählerin hat aber Kopfschmerzen. Nun geht es darum, wer die Watte wie aus dem Röhrchen bekommt. Diese Szene in der Szene findet in einem Gerichtssaal statt. Der Vater der Erzählerin, einer jungen Frau, die gerade die Schule beendet hat, arbeitet dort als Anwalt. Und die Kopfschmerztabletten kommen aus der Handtasche von Nicolette, einer Assistentin des Vaters, für die er, bald schon, die Familie der Erzählerin verlassen wird. In dem Gerangel um den Wattebausch ist alles enthalten: Die Erzählerin fühlt sich peinlich berührt, weil ausgerechnet die Freundin des Vaters als Einzige solche Tabletten dabeihat, der Vater versucht irgendwie männlich hilfreich zu sein, ohne zu fragen, was seiner Tochter eigentlich fehlt, es sind diverse andere Männer beteiligt, die nach einer Pinzette und allerlei Tipps in den Raum rufen. Bis es Nicolette selbst fertigbringt, die Watte zu fassen zu kriegen. Nicolette, die, so heißt es in der Geschichte, "aussah, wie ihr Name eben klingt", mit runden, "goldfarbenen Armen und Beinen, als ob sie in Asien gegossen worden wären". Über den Vater erfahren wir lediglich, es sei "ein Mann gewesen, der nicht viel Arbeit machte". Am Ende der Geschichte bekommt er mit seiner Nicolette Zwillinge. Die erwachsene Tochter kommt noch mal zu Besuch und wird freundlich empfangen, erkennt das Glück des neuen Paares. Auch ihre Mutter kommt zurecht. Bleibt bloß sie, die übrig gebliebene Tochter, von der wir erfahren dass "an der Uni etwas nicht funktioniert hatte". Gefolgt von dem für Mantel so typischen, die Imagination nur noch weiter ansprechenden Abblockmanöver: "Wir wollen das nicht weiter vertiefen." Ihr Schicksal wird im letzten Satz der Geschichte zusammengefasst: "Soweit ich sehen konnte, hatten alle bis auf mich bekommen, was sie bestellt hatten. Nur ich hatte verpasst zu sagen, worauf ich Lust hatte."

Das Leben ist ein Restaurantbesuch, der nicht für jeden gleich verläuft. Man muss selbst auf Zack sein, denn die anderen sind zu abgelenkt. Mantels Geschichten finden einen neuen Weg zwischen cooler Beschreibung und emphatischer moralischer Wertung, oft wählt sie dazu einen lakonischen Humor. In einer Geschichte wird die Freundschaft zu einem interessanten, ausgegrenzten Unterschichtsmädchen beschrieben. Dieses Mädchen hat eine allzu begründete Angst, in eine besondere Anstalt, ein Erziehungsheim, eingewiesen zu werden, von dem sie nur weiß, dass dort die Kinder geschlagen werden. Die Antwort des anderen, diese Geschichte später erzählenden Mädchens darauf: "Schlagen die werktags oder auch am Wochenende?" Ihre Familie gehört eindeutig zur Unterschicht, aber das andere Mädchen ist noch darunter, bei denen, die keine Bettwäsche aufziehen und von Parasiten befallen sind. Immerhin ist dieses Subproletariat aus der Abteilung arm, aber dreckig ihr aber noch näher als die Reichen, die nur als exotische Wesen und anhand der Stoffe, die sie tragen, beschrieben werden.

Obwohl das Milieu und die Epoche genau zu erkennen sind - das nördliche England der sechziger bis achtziger Jahre bildet den Schwerpunkt -, sind Mantels Storys für Leser auf der ganzen Welt passend und einladend, weil sie im Kosmos ihrer Geschichten ein altmodisches Koordinatensystem aufspannt: Es gibt auf krude Weise die Welt der Reichen und die der Armen, die stumme Welt der Männer und das Schnattern der Frauen, deren höchste Bestimmung das Gebären von Kindern ist. Oben und Unten, Mann und Frau, Drinnen und Draußen, Menschen und Geister - und über all das staunt die Erzählerin, als ginge es sie nur zum Teil etwas an, als liege es in ihrer Macht, etwas völlig anderes aus diesem Material zu machen. Das sind die Geschichten.

Die erste, in Saudi-Arabien angesiedelte Geschichte lebt zunächst von der Spannung zwischen den Geschlechtern, um dann ein völlig abseitiges Gleis zu nehmen. Gleich zu Beginn des Bandes erweitert der Leser seinen Begriff davon, was Spannung ist, worin die Relevanz und das Thema einer literarischen Erzählung liegen können. Eine Engländerin ist in einer Wohnung im saudischen Dschidda mehr oder weniger gefangen. Während ihr Mann dort arbeitet, muss sie die Schattenexistenz arabischer Frauen teilen, bis, wie es dazu kommt, wird nie ganz klar, ein Mann an ihrer Tür klingelt und darum bittet, das Telefon benutzen zu dürfen.

Er wird dann noch öfter kommen und ihr von seiner Familie erzählen, sie und ihren Mann einladen. Er bleibt dabei eine zwielichtige, kaum bemerkenswerte und nicht besonders sympathische, unberechtigt präsente Figur in dem völlig ereignislosen Leben der Erzählerin. In jeder auf herkömmliche Art geschriebenen Kurzgeschichte würde sich ein Geheimnis entwickeln, vielleicht eine Liebesbeziehung aufscheinen, aber bei Mantel läuft das anders. Zwar werden diese Themen, werden Intimitäten, Romantik und Sex, durchaus verhandelt, aber sogleich amüsiert beiseitegeschoben, um die Aufmerksamkeit des Lesers wieder auf das Absurde, Zufällige und Flüchtige dieser Besuchsbeziehung zu lenken, die dann völlig folgenlos bleibt und dennoch existiert hat. Es ist eine Lektion über die poetische Pointenlosigkeit des Lebens.

Und auch hier erscheint wie ein Wasserzeichen das Verblüffendste der Mantelschen Stilelemente: die lakonische Beschreibung übersinnlicher oder physikalisch nicht erklärbarer Phänomene. Hier ist es die nächtliche Aktivität der schweren Möbel in der saudischen Mietwohnung, die an jedem Morgen völlig verrückt in den Zimmern herumstehen, als hätten sie die Nacht durch getanzt und seien an wahllosen Orten eingeschlafen.

In einer anderen Geschichte des Bandes, "Endstation", wird das Thema drängender: Da beschreibt sie, wie sie von einem Vorortzug in einen anderen sieht und plötzlich ihren verstorbenen Vater erkennt. Den Rest des Tages verbringt sie am Bahnhof, gestresst, und versucht herauszufinden, was ihn wohl aus dem Reich der Toten vertrieben hat, wonach ihm in der Stadt ist.

In ihrer 2003 erschienenen, bislang nur auf Englisch erhältlichen Autobiographie "Giving up the Ghost" ist der Umgang mit den Untoten ein zentrales Element der Lebensgeschichte. Mantel beschreibt, wie sie als kleines Mädchen ganz am Ende des heimischen Gartens eine unerklärliche, ganz und gar furchterregende Präsenz wahrnahm, eine Art wirbelnder Schatten. Seitdem hat sie das Bewusstsein einer parallel existierenden, spirituellen Realität nicht verlassen, ganz unabhängig von ihrer katholischen Internatserziehung übrigens. Der Titel der Autobiographie bezieht sich auf das zweite zentrale Motiv der Mantelschen Lebensbeschreibung, nämlich den Umzug. Als die Schriftstellerin mit ihrem Mann in ein anderes Haus zieht, muss sie das Haus der Eltern verkaufen und lässt dort den Geist ihres Stiefvaters, der, dessen Nachnamen sie trägt, zurück. Bis zu diesem Punkt aber war Mantels Leben von, das wäre das dritte, die Biographie prägende Element, schwerer, durch das Versagen der Ärzte verschlimmerter Krankheit geprägt oder treffender: völlig sich selbst entfremdet. Als junge Frau plagen sie höllische, plötzlich auftretende Schmerzen, auf die die Ärzte sich keinen Reim machen können. Sie wird falsch behandelt, kommt sogar in die Psychiatrie. Erst durch eigenes Studium kommt sie auf die Idee, sie könne an einer schweren Form von Endometriose leiden, bessere Ärzte bestätigten diese Selbstdiagnose später. Die daraufhin notwendigen Eingriffe und die Behandlung mit Steroiden führen auch zu einer Metamorphose ihrer äußeren Erscheinung, die in ihren Essays immer wieder ein Thema ist.

Dieses Leben aus Umzügen, in der Kommunikation mit Geistern und unter dem Joch der Krankheit geht dem Ruhm Hilary Mantels voraus.

Sie hat den Gipfel literarischer Fertigkeit, den wir in diesem Band bewundern können, zu Fuß und auf dem Landweg erklommen, nichts flog ihr zu. Die ersten Romane sind nicht zu Unrecht vergessen. Wenn man heute etwa ihre historische Betrachtung der Französischen Revolution zur Hand nimmt, den 1992 erschienenen Roman "Brüder" , blitzen zwar hier und da schon ihr Eigensinn, ihr Humor und ihre Gabe zu historischen Schilderungen auf, insgesamt aber wiegen der große Stoff, die weltbekannte Geschichte mit all diesen großen, dem Publikum schon seit Büchners "Dantons Tod" vertrauten Männern zu schwer, die Sache schleppt sich voran, wie beschwert von nassen Decken. Mantels Kunst zeigt sich vor allem darin, was sie weglässt, wo sie Verzicht übt. Der Roman der Französischen Revolution ist gewissermaßen zu vollständig, es sind noch zu viele Quellen da, und alle fordern ihr Recht. Bei dem Projekt, das sie so berühmt machte, war der Ausgangspunkt schon leichter, kaum jemand wusste viel über diesen Thomas Cromwell, der am Hofe Heinrichs VIII. so eine wichtige Rolle spielte. Und in dieser auf drei Bände angelegten Geschichte ist der erste, der den Aufstieg Cromwells zum Berater des Königs beschreibt, der etwas schwerer zu lesende, erst der zweite, vom Sujet her weitaus diffizilere - es geht um die Enthauptung einer Königin - ist ein unabweisbares Meisterwerk, eine Komposition aus historischer Akkuratesse, kühner Interpretation und entschiedenem Weglassen.

Man muss all das wissen und im Sinn haben, um die finale und so kontroverse letzte Story des Sammelbandes würdigen zu können, die "Ermordung Margaret Thatchers". Die sofortige Empörung mancher Politiker nach der Veröffentlichung der Geschichte im "Guardian" vor zwei Wochen kommt aus einer anderen Welt. Im Kosmos von Mantels Werk verlieren die berühmten Protagonisten schon mal den Kopf, Blut fließt reichlich, aber der Tod ist nicht das Ende der Geschichte. Mantel schreibt, und das passt nicht in unsere so allseitig freundliche und, wie Joachim Gauck zu Recht bemerkte, "glückssüchtige" Gegenwartskultur, nicht besonders nett über ihre Mitmenschen. Am krassesten und lustigsten erkennt man das in der Geschichte, in der die Schriftstellerin eine Lesung in der Provinz beschreibt. Es geschieht ihr dort nichts Schlimmes. Ein Ian McEwan hätte, um den Leser auch zuverlässig zu empören, mindestens ein Gewaltverbrechen aus der vermischten Rubrik einer Zeitung abgeschrieben, Mantel aber begnügt sich mit der detaillierten Beschreibung der durch eine Provinzherberge wabernden Gerüche, des Lichts und des Lärms der Ausfallstraßen: "Hier hatten die Mülleimer Räder, dafür waren die Autos auf Ziegeln aufgebockt", und dann hat man genug. Zur Lesung kommen tatsächlich ein paar Menschen, die im Saal verstreut Platz nehmen und "taktvoll voneinander Abstand halten: für den Fall, dass die Toten doch noch kommen".

Nur ein einziges Mal begegnet ihr ein wirklich attraktiver, noch dazu zuvorkommender Mann, dann schreibt sie ohne großes Drama: "Ich dachte dass ich mit jemandem von seiner Art gern einmal ins Bett gegangen wäre, der Abwechslung halber" - um sogleich ablehnend festzustellen: "Aber er gehörte einer anderen Wesensart an, flog in einem anderen Flugzeug."

Die Erfüllung durch romantische Liebe, in der Mutterrolle, die erbauliche Weltbetrachtung, all das gibt es bei Hilary Mantel nicht. Wenn sie über Politik schreibt, wie in der Geschichte um Margaret Thatcher, dann geht es zwar ohne Pathos und ohne Anklage, aber präzise und durchaus brutal zur Sache. In ihrer Welt gibt es die Poesie der Geister, die sinnliche Erfüllung bei einer guten, selbstgefertigten Mahlzeit oder in der Handhabung schöner Stoffe, den Rest des angeblich normalen sozialen Lebens aber regelt eine mehr oder weniger geistlose Mechanik der Machtbeziehungen, die man studieren und beherrschen sollte, wenn man nicht unter die Räder kommen will.

Und danach kann man eben schon zu dem Ergebnis kommen, dass ein Anschlag auf Thatcher denkbar gewesen wäre, damals. Das zentrale Motiv dieser Geschichte ist, neben dem Klassengegensatz, der eine große Rolle spielt, die verborgene Tür zu einer parallelen, kontrafaktischen Realität: In der Geschichte wird Thatcher erschossen, in der Realität natürlich nicht - aber wer hat recht? Das erfährt nur, wer verborgene Türen zu erkennen vermag.

Trotz der ausgedehnten Spaziergänge in den Gefilden des magischen Realismus, die sicher nicht nach jedermanns Geschmack sind, ist Hilary Mantel das beste Antidot zum Gift der Beliebigkeit und Kunstfertigkeit, das unsere Gegenwart zu verseuchen droht, wo dem Publikum bevorzugt das vorgesetzt wird, von dem die Vermarkter bereits errechnet haben, dass es ihm gefallen wird. Gefällig ist im Werk Mantels nichts. Die Männer sind stumm und weitgehend nutzlos, die Mütter schrecklich, ihre Kinder oft genug auch. In der in Saudi-Arabien spielenden Geschichte schreibt sie: "Eine der älteren Frauen vertraute mir an, ihre Kinder seien beide adoptiert. Ich sah sie an und dachte, Himmel, woher, aus dem Zoo?" Und den ewig ihrem Nachwuchs hinterherschreienden Eltern empfiehlt sie, beim nächsten Mal doch gleich Erwachsene zu gebären.

In der Zeit der Tudors, in der die Meisterwerke von Mantel spielen, wären unsere alltäglichen Begleiter wie W-Lan und Skype nichts als Hexerei gewesen, alle vernünftigen Männer hätten befunden, dass es so etwas nicht geben könne und mit dem Tode zu ahnden sei. Umgekehrt hielten sie Institutionen wie die von Gottes Gnaden gegebene Monarchie für unumstößlich, während wir längst andere Gesetze kennen.

Wir heutigen Zeitgenossen sind oft versucht, den Deckel der Geschichte zu schließen, den Horizont als bekannt abzutun und die Existenz von Geistern, von anderen Geschichten, anderen Formen des Staunens unter Berufung auf die Alternativlosigkeit der Gegenwart abzulehnen. Hilary Mantel lehrt uns in diesem wichtigen, wundervollen Band, genauer hinzusehen, präziser zu beschreiben und nicht zu schnell zu urteilen. Denn alles könnte anders sein, das ist die Moral dieser meisterlich amoralischen Geschichten.

NILS MINKMAR.

Hilary Mantel: "Die Ermordung Margaret Thatchers". Erzählungen. Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. DuMont, 158 Seiten, 18 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2014

Der Tod fährt mit bis Waterloo
Zwischen Machiavelli und der Horror-Tradition: Hilary Mantels Erzählungsband
„Die Ermordung Margaret Thatchers“ machte in England Furore – jetzt ist er auch auf Deutsch erschienen
VON ALEXANDER MENDEN
Ich will es sehen. Das verpasse ich nicht“, sagt die Frau, und der Attentäter tut ihr den Gefallen. Er lässt sie zuschauen, wie er sich hinkniet und seine Position einnimmt: „Er sieht, was ich sehe, den glitzernden Helm ihres Haars. Er sieht ihn wie eine Goldmünze in der Gosse leuchten, groß wie den vollen Mond.“ Dieser Haarhelm ziert einen Kopf, auf den der Attentäter gleich seine Waffe richten wird. Wessen Kopf das ist, und wie das Ganze ausgehen wird, darüber lässt der Titel der Kurzgeschichte, der diese Szene entstammt, keinen Zweifel: „Die Ermordung Margaret Thatchers“.
  Es ist nicht unbedingt ein Wunschtraum, den Hilary Mantel da beschreibt, obwohl sie nie einen Hehl aus ihrem „kochenden Ekel“ vor der Tory-Premierministerin gemacht hat. Sie spinnt nur ein Szenario weiter, das einmal in ihrem Hirn aufblitzte, als sie Thatcher 1983 zufällig aus dem Fenster ihrer Wohnung in Windsor sah. „Ich dachte, wenn nicht ich es wäre, sondern jemand anders, wäre sie jetzt tot“, verriet die britische Autorin dem Guardian. Mehr als drei Jahrzehnte danach ist der mörderische Impuls in eine verstörende Kurzgeschichte eingeflossen, in der eine wohlhabende Frau in ihrer Wohnung in Windsor auf den Klempner wartet, und stattdessen versehentlich einen Attentäter einlässt. Der Mann, vermutlich von der IRA, will von ihrem Schlafzimmerfenster aus Margaret Thatcher erschießen, die gerade in der privaten Augenklinik gegenüber operiert worden ist.
  Vielleicht war es Hilary Mantel etwas zu gemütlich geworden. Vielleicht hatten die britischen Leser am konservativen Ende des politischen Spektrums sie für ihren Geschmack ein bisschen zu sehr ins Herz geschlossen. Vielleicht brauchte sie auch einfach einen literarischen Gaumenreiniger zwischen dem zweiten und dritten Band ihrer phänomenal erfolgreichen Thomas-Cromwell-Trilogie. Wie auch immer, mit dem Kurzgeschichtenband „Die Ermordung Margaret Thatchers“ hat die zweimalige Booker-Preis-Gewinnerin einen boshaften kleinen Fuchs im publizistischen Hühnerstall losgelassen.
  Die titelgebende Geschichte wurde vom Daily Telegraph, der sich anscheinend ohne Ansicht des Textes für viel Geld die Erstveröffentlichungsrechte gesichert hatte, entsetzt abgelehnt. Thatchers Weggefährten regten sich mächtig auf. Dabei wird es ihnen herzlich egal gewesen sein, dass die Kurzgeschichte, in der die imaginäre Ermordung vorbereitet (aber nicht gezeigt) wird, zum Besten gehört, was Hilary Mantel geschrieben hat. Wie in ihren Historienromanen spürt man in der „Ermordung“ eine machiavellistische Nüchternheit, die auch die Tudorwelt von „Wölfe“ und „Falken“ durchzieht. Sie vermischt sich mit einem Gefühl geradezu erotischer Genugtuung, die das Gedankenspiel mit alternativen Realitäten und der Entfernung eher unliebsamer Personen aus dieser Parallelwelt bereithalten kann.
  Wenn etwas die zehn vordergründig disparaten Stories in dem 158-Seiten-Band verbindet, dann ist es das Gefühl einer meist ebenso unkonkreten wie tief sitzenden Unzufriedenheit mit der Existenz ihrer Protagonisten und Erzähler. Nur im Falle Thatchers werden – sehr radikale – Maßnahmen ergriffen, diese Unzufriedenheit zu lindern. In der ersten Geschichte „Der Besucher“, die bereits 2009 als Erinnerung der Autorin an ihre Zeit im saudiarabischen Dschidda im London Review of Books erschien, greift diese Unzufriedenheit auf die Physis der Erzählerin über: „Das Herz wurde mir schwer. Es war ein körperliches Gefühl, ein Gefühl verlorener Monate, in denen ich wenig natürliches Licht abbekommen hatte.“ Es ist eine Klaustrophobie erweckende Geschichte, in der Ijaz, ein arabischer Geschäftsmann, der eines Tages hilfesuchend vor der Tür der Erzählerin steht, sich ebenso langsam wie hartnäckig in ihr Leben schiebt. Sie verbringt ihre Tage allein in einer von der Außenwelt weitgehend abgeriegelten Wohnung, während ihr Mann bei der Arbeit ist, und versucht, sich der verkrampften Zutraulichkeit des Besuchers zu erwehren, ohne ihn zu beleidigen. Mantel entlockt der rigiden wahhabitischen Gesellschaftsordnung, der erstickenden Einsamkeit der westlichen Ausländerin eine grimmige Komik – die Unbeholfenheit von Ijaz’ Annäherungsversuchen, die wenigen, peinlichen Besuche bei Freunden und Nachbarn, das alles ist ebenso lächerlich wie traurig.
  In einer surrealen Szene betritt die Erzählerin ihr Wohnzimmer, in dem sich die Möbel in unerklärlicher – und unerklärter – Weise umarrangiert haben. Solche Momente unvermittelten Grusels sind ein bedeutender Aspekt in Mantels Werk, am ausdrücklichsten in ihrem Geisterroman „Beyond Black“(2005). Metaphysischer Horror bildet ein Gegengewicht zu ihrem sachlichen, unsentimentalen Blick auf die Menschen und ihre Verhältnisse. Mantel selbst berichtet in ihrer Autobiografie „Giving up the Ghost“ (2003) ohne jede Ironie von einer Begegnung mit einer dämonischen Präsenz: Die siebenjährige Hilary sieht hinter dem Gartenzaun eine Gestalt „so groß wie ein zweijähriges Kind“, das „keine Ränder, keine Masse, keine Dimensionen“ hat. Die Präsenz schlüpft kurz in sie hinein, und bringt ihren Körper „auf kranke Art zum Schwingen“.
  Denkt man diese überaus seltsame Kindheitsepisode mit, bereichert das die Lektüre vieler ihrer Stories: In „Wie soll ich dich erkennen“ muss eine Autorin auf einer albtraumhaft deprimierenden Lesereise in einem heruntergekommenen Bed & Breakfast übernachten. Sie riecht Gas, und träumt „unter der schwammartigen Tagesdecke“ von der geriatrischen Gruppe, zu der sie an diesem Abend gesprochen hat: „Ihre Mitglieder rollten unter dem Bett hervor, kicherten und verstopften die Ritzen und Fenster und Tür mit ihren zerrissenen Manuskriptseiten.“ „Endstation“ beginnt mit dem Satz: „Am 9. Januar, kurz nach elf an einem dunklen Morgen mit Schnee und Regen, sah ich meinen toten Vater in einem Zug aus dem Bahnhof Clapham Junction fahren, Richtung Waterloo.“
  „Das Herz versagt ohne Vorwarnung“ schließlich erzählt von der essgestörten Morna, die sich zu Tode hungert, während ihre Eltern und ihrer Schwester Lola ebenso genervt wie entsetzt dabei zusehen müssen. Am Ende sind alle Spuren der toten Morna „aus dem Zimmer verschwunden, doch Lola weiß, dass sie immer noch da ist“. Und richtig, beim Blick aus dem Fenster sieht Lola ihre Schwester im nächtlichen Garten stehen: „Ihr großer, gerader Körper flackert in ihrem Nachthemd, ihr Gesicht wirkt verwischt, wie von Tränen oder Nieselregen, und sie trägt keinen lesbaren menschlichen Ausdruck.“
  Natürlich ist Hilary Mantel keine Horror-Autorin. Aber in solchen Momenten rückt die Booker-Preis-Gewinnerin englischen Genre-Autoren wie M.R. James oder Ramsey Campbell doch sehr nahe. Der scharfe Schockeffekt des letzten Satzes von „Winterferien“, der Beschreibung einer Italienreise, die eine fürchterliche Wendung nimmt, steht in bester Gothic-Tradition. Nicht immer liefern Mantels Kurzgeschichten ein solch befriedigendes oder überraschendes Ende. Doch das wiegt meist ihr scharfer Blick für die triste Realität auf, und auch ihre sparsame, stilsichere Sprachbeherrschung, die jeder Überzogenheit und ungewollten Lächerlichkeit vorbeugt.
  Es ist keine gemütliche und keine menschenfreundliche Welt, Mantels England der Händler in „heruntergekommenen, von zweiter, dritter Hand vermieteten Büros, Läden für Billigflüge nach Miami und Bangkok sowie abgesperrten Höfen, in denen überzüchtete Terrier knurrten und Autos flott überspritzt wurden, bevor sie einen glücklichen neuen Besitzer fanden“. Aber es ist eine Welt, durch die man von niemandem lieber geleitet würde als von dieser Autorin auf der Höhe ihres Könnens.
Aus ihrem „kochenden Ekel“
vor der Tory-Ikone hat Hilary
Mantel nie einen Hehl gemacht
Hilary Mantels England ist
weder eine gemütliche noch eine
menschenfreundiche Welt
Geliebt, gehasst, bewundert: Meryl Streep als „Iron Lady“ Margaret Thatcher.
Foto: Concorde Filmverleih
  
  
Hilary Mantel: Die
Ermordung Margaret
Thatchers. Erzählungen.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont, Köln 2014.
158 Seiten, 18 Euro.
E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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'An exhilarating, if dark, collection ... 'The Assassination of Margaret Thatcher' is a small triumph: a lesson in artfully controlled savagery' Sunday Times

'Remarkably good: taut, engaging and shocking ... acutely observed' Evening Standard

'I would recommend the brilliantly chilling ...The Assassination of Margaret Thatcher over most other long or short works this year.' Telegraph, Books of the Year

'What a fabulously nasty concoction Hilary Mantel has served up ... It's a fugu fish of a book; parts of which will leave you dizzily elated, while other parts may make you very ill indeed ... The venom is distilled, bottled and dripped like slowly staining bitters into the cocktail of the entertainment ... That title story, wickedly good, is alone worth the price of admission to the book' Simon Schama, Financial Times

'The best stories in the collection ... combine sharp observation and sly wit with a subtle burrowing into the recesses of her protagonists' heads. The darker stories recall both the metaphysical speculations of Jorge Luis Borges and the trickery of Roald Dahl' Mail on Sunday

'Infused with Mantel's almost lush evocations of isolation and distress ... All in all, these are alluring portraits of interior disquiet' Observer

'No one else quite sounds like Mantel in this vein, although a top-level summit of Muriel Spark and Alan Bennett might conceivably come close. Mantel takes absolutely nothing on trust. Bodies can, and will, malfunction; ditto minds, and marriages. Malice, power or simple chance may always undermine the ground beneath your feet' Independent

'These are the sticky slices of suburban noir that Mantel served up so well in her pre-Wolf Hall output and they never fail to deliver' The Times

'Much of Mantel's glorious power comes from her unsentimental, forensic gaze and willingness to describe the uncomfortable ... Mantel's brutally dissecting eye is much in evidence here ... Her prose is sublime ... the glittering details exquisite' Independent on Sunday

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