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Eine Dachkammer in einem abgelegenen Gehöft ist der Raum von Imaginationen und Erinnerungen. Hier beginnt der Erzähler sein "Journal", und was er aufzeichnet, sind Vorgänge in nächster Umgebung und in ferner Vergangenheit, im Traum und in der Wirklichkeit. Beckers Beobachtungen streifen die Hügellandschaft seiner rheinischen Heimat, wandern nach Berlin und in den deutschen Osten, richten sich auf Bilder der ersten Jahre nach dem Krieg, erinnern sich an einen Karmann Ghia und an lange Fernsehabende, daran, wie man vor dem Radio saß, um Welt zu empfangen, an Möbel und Bilder. Indem sich der…mehr

Produktbeschreibung
Eine Dachkammer in einem abgelegenen Gehöft ist der Raum von Imaginationen und Erinnerungen. Hier beginnt der Erzähler sein "Journal", und was er aufzeichnet, sind Vorgänge in nächster Umgebung und in ferner Vergangenheit, im Traum und in der Wirklichkeit. Beckers Beobachtungen streifen die Hügellandschaft seiner rheinischen Heimat, wandern nach Berlin und in den deutschen Osten, richten sich auf Bilder der ersten Jahre nach dem Krieg, erinnern sich an einen Karmann Ghia und an lange Fernsehabende, daran, wie man vor dem Radio saß, um Welt zu empfangen, an Möbel und Bilder. Indem sich der Autor seiner Wahrnehmungen vergewissert, geht er ihren Spuren nach, reflektiert sie, variiert ihre Motive, schreibt sie - und damit sein wie das Leben anderer - fort.In Schnee in den Ardennen vermischt Jürgen Becker die Formen von Tagebuch, Reiseerzählung und Roman. Täuschende Wahrnehmungen, ironische Berichte, lakonische Mitteilungen, poetische Notate - im Wechsel der Schreibweisen hält er seinen Lesern einen Spiegel vor, in dem jeder sich selbst, seine Erfahrungen und Geschichten erkennen wird.
Autorenporträt
Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück. 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. Große Aufmerksamkeit fand Jürgen Becker mit seinem ersten Prosabuch Felder (1964); die beiden folgenden Bücher Ränder (1968) und Umgebungen (1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten Hörspielen (Bilder, Häuser, Hausfreunde) am Entstehen des "Neuen Hörspiels" mit. In seinem 1971 veröffentlichten Fotobuch Eine Zeit ohne Wörter verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die künstlerischen Grenzüberschreitungen der Avantgarde hatte er 1965 bereits mit dem Band Happenings dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-Künstler Wolf Vostell. In den Siebziger und achtziger Jahren konzentrierte sich Jürgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtbücher - darunter Das Ende der Landschaftsmalerei (1974), Odenthals Küste (1986), Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft (1988) - plazierte die Kritik in die obersten Ränge der zeitgenössischen Poesie. Gleichzeitig schrieb Jürgen Becker weiterhin Hörspiele und die beiden Prosabücher Erzählen bis Ostende (1980) und Die Türe zum Meer (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: Fenster und Stimmen (1982), Frauen mit dem Rücken zum Betrachter (1989), Korrespondenzen mit Landschaft (1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, Geräumtes Gelände (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker. Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben Jürgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der Orte und Landschaften zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald motivierten seine Gedichtbände Foxtrott im Erfurter Stadion (1993) und Journal der Wiederholungen (1999), die Erzählung Der fehlende Rest (1997) und vor allem den im Sommer 1999 erschienenen Roman Aus der Geschichte der Trennungen. Mit den Vorbereitungen dazu begann er während eines Stipendiums im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf. Es ist Jürgen Beckers erster Roman; eine bewegende, persönliche Geschichte, die zugleich von den Widersprüchen der deutschen Erfahrungen erzählt. Jürgen Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. erhielt er den Preis der Gruppe 47, den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste, das Stipendium der Villa Massimo, den Bremer Literaturpreis, den Heinrich-Böll-Preis. Jürgen Becker ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, sowie des PEN-Clubs. 2001 erhält er für seinen Roman Aus der Geschichte der Trennungen den Uwe-Johnson-Preis, der von der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft vergeben wird. 2006 wird er für sein Prosa-Werk, insbesondere den Journalroman Schnee in den Ardennen, mit dem Hermann-Lenz-Preis ausgezeichnet, 2009 erhält er den Schiller-Ring. 2014 wird Jürgen Becker als »maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Rabe und Elster im Streit um Lufthoheit
Magie des Kamerablicks: Jürgen Becker gibt den poetischen Naturburschen / Von Walter Hinck

Das Gedächtnis ist ein stummes Archiv, in das nur die Erinnerung Leben hineinbringt, oder anders, aus dem sie ihre Bilder hervorholt." So heißt es im neuen Buch von Jürgen Becker. Der Satz hätte auch in einem seiner früheren Texte stehen können. Schon im Debüt "Felder" von 1964 tauchen im experimentellen Spiel mit der Grammatik die Umrisse erinnerter Orte auf, und im Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999) ruft die Erinnerung des Erzählers Bilder von Lebensepisoden ab, die zu Facetten einer Geschichte des "Dritten Reichs" werden. In der Folge seiner Lyrik- und Prosabände verfestigen sich zunehmend Spurenelemente des Epischen und Situationen einer eindringlichen Wiederbegegnung mit deutscher Geschichte. Am Titel des langen "Gedichts von der wiedervereinigten Landschaft" (1988) und an den Gattungsbezeichnungen Erzählung ("Der fehlende Rest", 1997) und Roman läßt sich diese Entwicklung ablesen.

Aber wie bisher kein neues Buch Beckers den Zusammenhang mit dem vorhergehenden preisgab, so kopierte keines das bereits benutzte literarische Muster. Der neue Band, "Schnee in den Ardennen", ist als Journalroman deklariert. In den Teilen I und III verflüchtigt sich das Romanhafte zugunsten des Journal-, also Tagebuchhaften. Tagebücher binden sich an die jeweilige Situation, aus der geschrieben wird, sprechen aus der Unmittelbarkeit des Erlebens, der Erfahrung oder der geistigen Auseinandersetzung, überlassen viel Spielraum der Subjektivität. Aber was sich dem Augenblick verdankt, muß nicht interessant bleiben, und so schlüpfen, ähnlich wie in Walter Kempowskis Tagebüchern, in den Aufzeichnungen mitunter kleine Eintagsfliegen aus.

Viele Alltagsbeobachtungen Beckers weiten sich jedoch zum Entwurf höchst anschaulicher Szenen. Ihr Gegenstand wird durch das Lebensumfeld des Autors bestimmt, und das ist, seit seinem Abschied aus der Leitung der Hörspielredaktion beim Deutschlandfunk, eindeutig ein Dorf im Bergischen Land. Ist Becker ein neuer Candide, der sich nach den Abenteuern des Lebens zurückzieht, um seinen "Garten zu bebauen"? Hält er es mit Arno Schmidt, der seine Wortwerkstatt nach Bargfeld in der Lüneburger Heide verlegte? Daß der Ort, in dem Becker ein altes Gehöft bewohnt, Heide heißt, könnte dann Anlaß für eine ironische Glosse sein. Aber weder mit der philosophischen Parabelfigur Voltaires noch mit dem Artisten der Anspielung und des Zitats, dem Autor von "Zettels Traum", teilt Becker einen Rückzug ins Abseits - die Verbindung zur Kulturmetropole Köln bleibt lebendig.

Immerhin, der Journal-Schreiber hat seinen Standort vornehmlich im ländlichen Raum. Und oft scheint es, als beobachte er seine Umgebung, wie der Kameramann des Tierfilms, aus einem Versteck. Der Vergleich ist nicht herbeigeholt. Schon früh hat Becker den Kontakt mit den audiovisuellen Medien gesucht, als Hörspielschreiber und als Autor eines Fernsehfilms (1970), der das Verhältnis von Wort und Bild am Beispiel des "Schreibens und Filmens" zeigt. Der Fotoband "Zeit ohne Wörter" (1971) kommt sogar ganz ohne Sprache aus. Mehrfach deuten seine Texte an, daß Bewußtseinsvorgänge ablaufen wie Filme.

Der Kamerablick, mit dem der Journal-Schreiber nun seine Umgebung absucht, ist mit einer magischen Kraft begabt: Er bannt sein Gegenüber, die Landschaft, die Tiere, die Dinge so, daß sie zu erzählen beginnen. Wundersame Erzählungen entstehen, vom Lichtwandel der Tage und Jahre, vom morschen Birnbaum und der Technik des Fällens, vom Sterben der Katze, vom Kampf der Raben, Elstern und Eichelhäher um die Lufthoheit, von den Strategien der Singvögel, ans Futter des Vogelhäuschens zu gelangen, vom früheren Bauernleben, über das die Sense, ausgebaggerte Scherben und alte Schriftstücke Auskunft geben.

Aber ins Dorf hat längst die neueste Zivilisation ihren Einzug gehalten. Über die "Radiostimmen im Kopf", über die "Tonspur früherer Geräusche" legt sich der Lärm der Einflugschneise des Flughafens Köln-Bonn und des Staus auf der Straße; ein Kreisverkehr wird in der Dorfmitte gebaut. Längst ist die Stadt ins Land hinein unterwegs. Auf die Hausiererin, die alle paar Monate in die Gehöfte schlurft, wartet hinter der Kurve ein Mercedes.

Das poetische Journal protokolliert die unaufhaltsame Besiedlung des Bergischen Landes, hält aber auch den Reichtum verbleibenden Lebens auf den Naturinseln fest. Insofern deutet der Titel "Schnee in den Ardennen", der an ein Kriegsfoto von Robert Capa anknüpft, auf die besondere Nähe zur Landschaft, die den Roman kennzeichnet. Widerruft Becker die Absage im Titel seines Gedichtbandes "Das Ende der Landschaftsmalerei" (1974), und zwar noch einmal? Schon das "Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft" deutete ja eine Umkehr an, war Ausdruck des Wunsches, daß die Trennung der Landschaften durch Mauer und Stacheldraht aufgehoben werde. Tatsächlich greift Becker, im Mittelteil des neuen Buchs, die Frage wieder auf.

Dieser Mittelteil ist ein Block, der sich in der Schrittfolge des Tagebuchs wie ein Hindernis aufbaut. Hier setzt sich eine erzählerisch bündige Schreibweise durch. Der Binnenroman des Journalromans erzählt vom Aufenthalt auf einer griechischen Insel, auf der sich längst auch westeuropäische Wohlstandsbürger eingenistet haben. Jörn, das zweite Ich des Erzählers (eine aus früheren Büchern vertraute Zwillingsfigur), trifft unerwartet einen Bekannten von früher - einen Maler, der während der sechziger Jahre in Düsseldorf auf Aktionen, auf Event-Kunst setzte. Dieser Maler ist Jörn schon in der Künstlerkolonie des Ostseebades Ahrenshoop wiederbegegnet. Der Star des Kunstmarkts von einst war in ein künstlerisches Dilemma geraten; ihn hatte "Heimweh nach der Landschaftsmalerei" ergriffen, aber zugleich war ihm bewußt, daß die Gegend "längst ihre Unschuld verloren" hatte. In dieser Ratlosigkeit findet Jörn den Maler noch immer.

Bedenkt man die experimentellen Anfänge Beckers und seine Zweifel an der Tauglichkeit überlieferter Formen von Naturlyrik und Landschaftsdichtung, so wird die Gestalt des Malers zur Gleichnisfigur für Beckers schriftstellerische Entwicklung. Zugleich aber widerlegt "Schnee in den Ardennen" diesen Gleichnischarakter. Denn Becker wagt es, den Weg aus der Sackgasse einzuschlagen. Schon in "Aus der Geschichte der Trennungen" fiel die Ausdauer auf, mit der Becker eine Landschaft und die Bewegung in ihr erfaßte. Im neuen Roman gewinnt die Landschaftsdarstellung eine neue Qualität. Was anfangs "Kamerablick" genannt wurde, kann jetzt als filmische Optik bezeichnet werden. Das Auge des Erzählers gleicht dem Objektiv der Kamera, und als objektiv empfindet der Leser die neue Darstellungsweise. Das Auge des Erzählers, die Kamera schwenkt von der Naheinstellung in die Totale. Sie mogelt keine Geheimnisse in die Gegenstände hinein, die poetische Prosa bleibt auf Distanz, vertraut aufs Schauen; die Erzählung entsteht aus der Bewegung des Kameraauges. Im Roman "Das Jahr der Trennungen" spiegelte sich Geschichtserfahrung intensiver. Aber noch nie hat Becker eine filmische Optik mit solcher poetischen Konsequenz übernommen wie im neuen Roman.

Jürgen Becker: "Schnee in den Ardennen". Journalroman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 186 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2003

Gen Westen, gen Osten
Der Landvermesser: Jürgen Beckers „Schnee in den Ardennen”
Mit den Prosabüchern „Felder” (1964), „Ränder” (1968) und „Umgebungen” (1970) ist Jürgen Becker früh als Topograph des „rheinischen Kapitalismus” in Erscheinung getreten. „Erstaunlich” fand seinerzeit Heinrich Böll Beckers Debüt, weil „in diesem Buch einer der jüngsten Autoren einen Boden betritt, Land vermisst und etwas zu suchen unternimmt, das zu finden er sich nicht ziert noch sträubt: einen Ort.” Der Ort, den Becker fand, war Köln, das Land das Bergische, eine Gegend, von der aus der Blick des Betrachters gern westwärts ging, über die diesige Kölner Bucht hinweg nach Belgien und bis an die Nordsee.
„Erzählen bis Ostende” heißt ein späteres Buch von Becker, und in dieselbe Himmelsrichtung schaut der Protokollant der Wetter und Winde auch in seinem jüngsten Buch: „Schnee in den Ardennen”. So eindeutig ist Beckers literarische Westbindung jedoch schon lange nicht mehr. „Beispielsweise am Wannsee” (1992) und „Foxtrott im Erfurter Stadion” (1993) hießen die Gedichtbände, die das Interesse des Autors an östlicheren Orten bekundeten. Beckers Regionalismus hatte sich neuen Gegenden und Wahrnehmungen zugewandt, von denen schon im prophetischen Titel seines Lyrikbandes „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft” (1988) eine Ahnung zu vernehmen war. In seinem ersten Roman „Aus der Geschichte der Trennungen” von 1999 – keinem Wenderoman zwar, aber vielleicht ein deutscher Trennungs- und Vereinigungsroman – erzählt Becker von seiner Wiederentdeckung des Ostens, und er tut dies mit Hilfe eines Alter Ego. Jörn Winter ist sein Name, und er geht Becker auch in seinem neuen Buch wieder zur Hand.
Wettermeldungen, alte Fotos, Erinnerungen: Vieles ist gleich auf der ersten Seite fast wie immer in Beckers Büchern. Ein kursiv gedrucktes Wort, hier heißt es Winterkämpfe, leitet eine Notiz, eine Reflexion von oft nur ein paar Sätzen ein. Hier ist es ein Foto von Robert Capa aus dem Winter 1944, „das ich, ohne danach gesucht zu haben, beim Blättern plötzlich wiederfinde.” Es zeigt Soldaten der 101. US-Luftlandedivision kurz vor dem Ende der deutschen Winteroffensive. Schnee in den Ardennen also, und Schnee fällt auch in der folgenden Betrachtung, nun aber auf einen bergischen Garten in der Gegenwart, in dem sich die Krähen, Elstern und Eichelhäher „Winterkämpfe” anderer Art liefern. Ganz unangestrengt verschränkt Becker hier und anderswo Geschichts- mit Naturbildern, historische Zeit und die Zeit des Spaziergängers. So etwas muss man, fast vierzig Jahre nach Beckers Debüt, weder besonders „experimentell” noch innovativ finden. Gut ist es aber immer noch.
Der Karnevalsprinz
„Hausgeschichte”, „Angaben über Schneehöhen” oder „Russischer Tee” heißen die Überschriften dieser Kurzkapitel, oder zum Beispiel „Apfelpfannekuchen”, ein Sittenbild aus dem Rheinland von gestern, heute und morgen: „Der junge Bestattungsunternehmer, der jedes Jahr den Karnevalsprinzen abgibt, kommt Geld sammeln für den Karnevalszug. Im August hat er in der Sarghalle angefangen, mit seiner Truppe die neuen Lieder der Saison einzuüben. Ein frostiger Tag, der von morgens bis abends dunkel bleibt. In den Häusern tut sich nichts, außer dem Geräusch des Abladens, das vom Lieferwagen des Sargtischlers kommt.” Viele dieser Geschichten spielen im eigenen Wohnzimmer, andere vor der Haustür, wieder andere spielen „drüben”, in Ahrenshoop oder in Wiepersdorf. Und dann ist Jörn wieder da, „der Hausbewohner”, das Alter Ego, der Ichschatten, und hat Neues von überallher zu erzählen. Und wie sein Bruder im Erzählen führt er Buch über die verbleibende Zeit. „Von den täglichen Ereignissen, die er notiert”, so wird gesagt, „erkenne ich einige wieder; manche kommen mir vor, als lebte Jörn in einer anderen Zeit.”
Das „Ich” in diesem Buch scheint zuständig zu sein für das zeitlich und räumlich Naheliegende; Jörn Winter hingegen erzählt von Reisen und besonderen Begebenheiten. Nur er erzählt, wohingegen sein Gesprächspartner, der Lyriker, am liebsten nur mitschreibt, was er sieht und hört. Jörn erzählt von und schreibt aus Griechenland, von einem Malerfreund aus Ahrenshoop, der plötzlich von dort verschwunden ist und nun unter dem Namen Micha ebenso plötzlich in Griechenland wieder auftaucht. Das ist ziemlich mysteriös, ja geradezu spannend, aber trotzdem nur halb so interessant wie die spröden Notizen des eingefleischten Nicht-Erzählers Jürgen Becker mit ihren unerwarteten Entdeckungen an Wegrändern oder in Schubladen.
So ist man beinahe froh, wenn nach dem Jörn-Winter-Exkurs die Rede erneut auf das Robert-Capa-Foto kommt. Zwei Jahre sind vergangen, seitdem der Schreiber dieser Zeilen, nennen wir ihn Jürgen Becker, das Foto wiedergefunden hat. „Inzwischen weiß ich aus der Kriegsgeschichte, dass der amerikanische Fotograf das Bild in der Nähe von Bastogne aufgenommen hat, einem Städtchen in den belgischen Ardennen.” Und er weiß auch, dass er nach Belgien fahren wird, in die Gegend von Bastogne, und dass er dort den genauen Ort des Capa-Fotos finden will. „In jedem Fall”, so sagt er sich, „muss ich im Winter fahren, denn auf dem Foto liegt Schnee in den Ardennen.” Wir kämen gerne mit.
CHRISTOPH BARTMANN
JÜRGEN BECKER: Schnee in den Ardennen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 186 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Noch nie hat Jürgen Becker in seiner Erzählweise eine filmische Optik mit solcher poetischen Konsequenz übernommen, wie im neuen Roman, meint Rezensent Walter Hinck. Ihm zufolge ist das Buch ein poetisches Journal, dass die unaufhaltsame Besiedelung des Bergischen Landes protokolliert. In diesem Journalroman fand der Rezensent außerdem einen Binnenroman enthalten, der vom Einnisten westeuropäischer Wohlstandsbürger auf einer griechischen Insel erzählt. Das Auge des Erzählers findet Hinck einem Kameraobjektiv gleich, und objektiv auch die Darstellungsweise. Von der Naheinstellung schwenke sie in die Totale, mogele keine Geheimnisse in die Gegenstände hinein, die poetische Prosa bleibe auf Distanz, vertraue aufs Schauen: So entstehe die Erzählung aus der Bewegung. Aus der magischen Kraft dieser Erzählweise sieht der Rezensent wunderbare Erzählungen wachsen, "vom Lichtwandel der Tage und Jahre, vom morschen Birnbaum und der Technik des Fälschers". Tiere und Dinge würden von Beckers Kamerablick so gebannt, dass sie zu leben begännen. Alltagsbeobachtungen sieht der Rezensent sich zum Entwurf höchst anschaulicher Szenen weiten.

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