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Märchenglobalisierung: Jorge Bucay leistet Lebenshilfe
Ein Märchen fehlt in der Sammlung: nämlich das vom kleinen Märchen. Das war ganz einsam, und keiner wollte es hören. Da ging es zu einem argentinischen Psychologen. Er war ein weiser Mann und noch dazu ein Bestsellerautor. Er setzte das Märchen in ein Therapiebuch mit Artgenossen aus allen Teilen der Welt, half ihnen dabei, ihre Hemmungen und Sprachbarrieren zu überwinden, und lehrte sie die Grundlagen der Gestalttherapie. Zum Abschied gab er ihnen eine wissenschaftliche Bibliographie mit auf den Weg - von Bettelheims "Kinder brauchen Märchen" bis Watzlawicks "Anleitung zum Unglücklichsein". Und wenn sie nicht gestorben sind, verkaufen sie sich noch heute millionenfach.
Daß dies gar kein Märchen, sondern die wirkliche Geschichte seines eigenen Buches ist, dürfte den Psychiater, Therapeuten und Schriftsteller Jorge Bucay kaum stören. Schließlich gibt er uns Lesern im Epilog als Abschiedsgeschenk die Einsicht mit auf den Weg, daß jedes Märchen nur der sichtbare Markierungspunkt einer wertvollen vergrabenen Wahrheit ist. Ein wenig märchenhaft muß dem Autor dennoch der atemraubende Triumphzug seiner kleinen Erzählsammlung "Komm, ich erzähl dir eine Geschichte" vorkommen. Dieses Buch ist einer der großen literarischen Überraschungserfolge der letzten Jahre. Allein in Spanien hat es sich in über einer Million Exemplaren verkauft. Nun wartet es darauf, in der Sprache der Brüder Grimm den Siegeszug anzutreten.
"Komm, ich erzähl dir eine Geschichte" ist eine buntgemischte Sammlung. Was ihr den Reiz verleiht, sind die eigenartigen Kontraste. Ganz entgegen dem Programm der von ihm zitierten Vorbilder nämlich möchte der Autor Märchen für Erwachsene bieten - und zugleich eine Anleitung zum Glücklichsein. Dazu versammelt er Geschichten aus allen Kulturkreisen an einem literarischen Ort. Seine Auswahl folgt einem verschlungenen Pfad von Antoine de Saint-Exupéry über Martin Buber und Anthony de Mello bis zu Bhagwan Shree Rajneesh. Grimmsche Märchenkönige, buddhistische Mönche, ein orientalischer Dattelpalmenpflanzer und ein talmudischer Freudenhausportier treffen auf Sokrates, Diogenes und den amerikanischen Erfinder des Lügendetektors.
Verbunden werden die Steine dieses globalisierten Geschichtenmosaiks durch eine Rahmenhandlung in der Jetztzeit. In ihrem Protagonisten zeichnet sich die unschwer zu erkennende wohlbeleibte Figur des Autors Bucay selbst ab. Jorge ist Gestalttherapeut, und sein junger Patient, der in bester Hessescher Manier Demian heißt, ist eine Art Emil Sinclair der Jahrtausendwende, desorientiert und auf dem Wege zu sich selbst. Dabei hilft ihm Jorge, und um ihm zur Einsicht zu führen, erzählt er ihm Geschichten. So entspinnt sich die Handlung sphärenübergreifend zwischen westlichen und östlichen Weisheiten, und geschlechtsübergreifend verwandelt sich Jorge zu einer pummelig-postfreudianischen Scheherezade aus Tausendundeiner Therapiesitzung.
Während Scheherezade bei Abbruch des Märchenflusses die Enthauptung drohte, muß Jorge berufsbedingt und dem neoliberalen Zeitalter entsprechend mit einer anderen Sanktion rechnen: Ihm droht die Insolvenz. Seine Geschichten haben eindeutig Suchtpotential, und genau das treibt seine Patienten immer wieder in die Praxis respektive den Buchladen. Bewiesen wird dies nicht nur durch die Leserzahl, sondern auch durch Demian selbst. Bereits in der dritten Sitzung muß Demian Jorge gestehen, daß er sich "sehr abhängig von ihm fühle".
Sicherlich ist dies ebensowenig vertrauenerweckend wie die ja explizit mit der Bhagwan-Sekte kokettierenden Lehren Jorges oder seine Thesen, daß man "das Verantwortungsgefühl fahrenlassen", ja, daß man sämtliche "positiven Werte, nach denen wir erzogen werden", einfach in den Wind schlagen soll. Das Doppelbödige an Bucays Erzählstrategie ist jedoch, daß er sogleich die Karten auf den Tisch legt und Demian ähnlich verärgert reagieren läßt wie den Leser selbst. Wohin er uns durch Provokationen und Rätsel wirklich führen will, so scheint es, weiß in diesem Moment der Meister allein. Dies zu ergründen ist genau die Aufgabe, die wir zu lösen haben.
Das ständige Spiel mit wild zusammengeklaubten Versatzstücken, mit den Gedanken und der Geduld des Lesers ist zuweilen befremdlich, zuweilen skurril, aber gerade dadurch interessant. Ein puristischer Leser, der in Literatur in erster Linie das von allen Zwecken losgelöste Kunstwerk sucht, wird sich daher in die Rolle eines Therapieobjekts gedrängt fühlen. Doch wer in einem Zeitalter, das "Hybridisierungs-Diskurse" zelebriert, den Glauben an die Reinheit der Kunst als Illusion begreift, wird Jorge Bucays Lavieren zwischen Märchenlust und Manipulation viel Vergnügen und Inspiration abgewinnen.
FLORIAN BORCHMEYER.
Jorge Bucay: "Komm, ich erzähl dir eine Geschichte". Aus dem Spanischen übersetzt von Stephanie von Harrach. Ammann Verlag, Zürich 2005. 287 S., geb., 18,90 [Euro].
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Ima Sanchís, La Vanguardia
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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