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Als Barry Fairbrother mit Anfang vierzig plötzlich stirbt, sind die Einwohner von Pagford geschockt. Denn auf den ersten Blick ist die englische Kleinstadt mit ihrem hübschen Marktplatz und der alten Kirche ein verträumtes und friedliches Idyll, dem Aufregung fremd ist. Doch der Schein trügt. Hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg. Krieg zwischen arm und reich, zwischen Kindern und ihren Eltern, zwischen Frauen und ihren Ehemännern, zwischen Lehrern und Schülern. Und dass Barrys Sitz im Gemeinderat nun frei wird, schafft den Nährboden für den größten Krieg, den die Stadt je…mehr

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Produktbeschreibung
Als Barry Fairbrother mit Anfang vierzig plötzlich stirbt, sind die Einwohner von Pagford geschockt. Denn auf den ersten Blick ist die englische Kleinstadt mit ihrem hübschen Marktplatz und der alten Kirche ein verträumtes und friedliches Idyll, dem Aufregung fremd ist. Doch der Schein trügt. Hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg. Krieg zwischen arm und reich, zwischen Kindern und ihren Eltern, zwischen Frauen und ihren Ehemännern, zwischen Lehrern und Schülern. Und dass Barrys Sitz im Gemeinderat nun frei wird, schafft den Nährboden für den größten Krieg, den die Stadt je erlebt hat. Wer wird als Sieger aus der Wahl hervorgehen einer Wahl, die voller Leidenschaft, Doppelzüngigkeit und unerwarteter Offenbarungen steckt?
J.K. Rowlings erster Roman für Erwachsene ist getragen von britischem schwarzen Humor, stimmt nachdenklich und steckt voller Überraschungen.
Autorenporträt
Joanne K. Rowling, geboren 1965, hatte schon als Kind den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. 1983 studierte sie Französisch und Altphilologie. Während einer Zugfahrt erfand sie 1990 die Romanfigur Harry Potter.
1991 ging Rowling nach Portugal. In dieser Zeit arbeitete sie viel am ersten ihrer geplanten sieben Harry-Potter-Bücher. 1992 Heirat, die Ehe währte jedoch nur kurz - 1993 Geburt der Tochter Jessica.
Rowling ging nach Großbritannien zurück. Als allein erziehende Mutter lebte sie zunächst von Sozialhilfe. 1997 wurde "Harry Potter und der Stein der Weisen" veröffentlicht. Nur drei Tage danach ersteigerte der US-Verlag Scholastic überraschend die amerikanischen Rechte.
2000 verkaufte Rowling alle Vermarktungsrechte einschließlich der Filmrechte, behielt jedoch die Verlagsrechte sowie ein Mitspracherecht bei den Filmen.
2001 heiratete Rowling den Arzt Neil Murray mit dem sie 2 Kinder hat.
Inzwischen wurden ihre Harry-Potter-Romane in mehr als 60 Sprachen übersetzt.
2010 hat die Autorin in Odense (Dänemark) den ersten Hans-Christian-Andersen-Literaturpreis in Empfang genommen.
Trackliste
MP3 CD
1Ein ploetzlicher Todesfall00:00:18
2Teil00:00:24
3Sonntag00:04:41
4Montag I00:05:21
5Montag I00:04:54
6Montag II00:08:34
7Montag III00:08:17
8Montag IV00:07:47
9Montag V00:04:58
10Montag V00:04:13
11Montag VI00:06:11
12Montag VI00:04:24
13Montag VI00:03:38
14Montag VII00:05:45
15Montag VII00:07:17
16Montag VIII00:05:25
17Montag IX00:05:25
18Montag IX00:06:06
19Montag X00:09:30
20Alte Zeiten00:00:21
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2012

Sperrangelweit offen stehende Damenmorgenmäntel
"Ein plötzlicher Todesfall": J. K. Rowlings Roman entzaubert die Autorin

Ich habe nichts von J. K. Rowling gelesen, keine einzige Zeile der sieben "Harry Potter"-Bände. Ich habe nicht einmal einen der acht Filme gesehen. Ich habe mich nie überwinden können, mich für diesen streberhaften Zauberlehrling zu interessieren. Und doch nähere ich mich ihrem ersten Roman für Erwachsene "Ein plötzlicher Todesfall" nicht vollkommen unvoreingenommen. Angesichts der Wirkung ihrer Werke wäre das auch kaum möglich gewesen; es sei denn, ich hätte die vergangenen fünfzehn Jahre im Koma gelegen.

Ich weiß, dass sie, gemessen an den Verkaufszahlen, die erfolgreichste Autorin aller Zeiten ist, eine der reichsten Frauen Großbritanniens, ein Global Player, die erste Schriftstellerin, die mit ihren Büchern biblische Dimensionen erreicht: 450 Millionen verkaufte Exemplare. Noch immer habe ich die Bilder einer kollektiven Infantilisierung im Kopf, Bilder von vor Buchhandlungen campierenden Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, die um Mitternacht das Erscheinen eines neues Bandes erwarten wie die Rückkehr des Messias.

Und noch immer klingen mir die Sätze im Ohr, die befreundete Autoren mir zuraunten: wie spannend diese Abenteuer seien, wie kunstvoll geschrieben, verführerisch, süchtig machend. "Das", sagten die, deren Urteilen ich sonst blind vertraute, "ist kein Kinderbuch, sondern ein großartiger Entwicklungsroman! Ein Bildungsroman! Trotz des ganzen Hokuspokus absolut realistisch! Da werden Alltagsprobleme verhandelt! Die großen Themen! Das musst du unbedingt lesen!" Und ich sagte immer und immer wieder: "Nein, muss ich nicht."

Jetzt also ein realistischer Roman, angesiedelt in einer Welt, die mir aufgrund meiner ländlichen Herkunft und der Arbeit an meinem eigenen Gesellschafts- und Provinzroman durchaus vertraut ist: ein Dorf mit Marktplatz, Kirche und Golfclub, eine Welt, in der Jugendliche gegen Erwachsene rebellieren und Ehefrauen gegen ihre Männer, in der Lehrer ihre Schüler peinigen und Großgrundbesitzer, Einzelhändler, Lokalpolitiker ihre Untergebenen; in der es um Macht und Ohnmacht geht, um Vorurteile und Verrat, Lügen und Intrigen, Hass und Gewalt.

Rowling zeige eine "Stadt im Krieg", wie der Klappentext verheißt. Der fiktive "hübsche, kleine Ort Pagford", in der westenglischen Provinz gelegen, ist ein Dorf, in dem nicht jeder jeden kennt, aber jeder jeden zu kennen meint, in dem sich alle belauern und übereinander lästern; eine Wohlstandshölle mit einem Höchstmaß an sozialer Kontrolle, die von der Arztpraxis, der Anwaltskanzlei, dem Delikatessengeschäft bis in jede Familie hineinreicht und ein Gleichgewicht schafft, mit dem die Bewohner zu leben gelernt haben. Anstoß erregt allein die nahegelegene Sozialsiedlung Fields, "schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht", die seit den fünfziger Jahren die Unterschicht der Gegend beherbergen: alleinerziehende, arbeitslose, drogensüchtige und sich darum prostituierende Mütter, deren Kinder mit denen der gutsituierten Mittelstandseltern auf dieselbe Schule gehen - und diese verderben.

Der plötzliche Tod des 44-jährigen Bankers Barry Fairbrother lässt die Fronten, Befürworter und Gegner der Sozialsiedlung, aufeinanderprallen. Fairbrother war Mitglied im Gemeinderat; sein Posten wird frei - "A Casual Vacancy", "eine unerwartete Vakanz", so lauten der Fachterminus und der Originaltitel des Romans -, und der ist heiß umkämpft, weil er darüber entscheidet, ob das Getto im Zuständigkeitsbereich von Pagford bleibt oder nicht. Der Ratsvorsitzende versucht, seinem Sohn den Posten zuzuschieben, aber auf den haben es auch der unter Zwangsneurosen leidende stellvertretende Schulleiter und ein psychopathischer Familienvater abgesehen.

Dieser Fairbrother, der gleich im ersten Kapitel an einem Aneurysma stirbt und bis zum Schluss als gute Seele durch den ansonsten seelenlosen Roman geistert, ist einer der wenigen positiven Charaktere: Er ist ehrlich, tolerant und zuverlässig - ein wahrer Held, der für die Schwachen eintritt.

Sein Tod hat nicht nur politische Folgen, sondern auch persönliche: Krystal Weedon, ein frühreifes Mädchen aus einer der verhaltensauffälligsten und weitverzweigtesten Familien von Fields, verliert ihren einzigen erwachsenen Verbündeten. Fairbrother hat sie in die Rudermannschaft geholt und unterstützt, wenn ihre Mutter auf Drogen oder Entzug war. Sie ist die einzige interessante Figur des ganzen Romans, trotzig und zornig, voller aufgestauter Aggression, aber nie verbittert; die Einzige, die Verantwortung übernehmen will für ihr Leben und an der Verachtung der anderen zugrunde geht.

In einem Interview mit der Zeitung "The Guardian" hat Rowling die englische Gesellschaft jüngst als "phänomenal snobistisch" bezeichnet, vor allem die Mittelschicht sei prätentiös und arrogant und blende die Ursachen für das Schicksal der unteren Klassen aus, was die Bewohner ihres Heimatdorfes, des im Südwesten Englands gelegenen Tutshill, gleich auf sich bezogen haben, weil sie fürchteten, Rowling verarbeite in ihrem neuen Roman ihre eigene unglückliche Jugend.

Ihre Mutter, eine technische Angestellte im Schullabor, erkrankte früh an Multipler Sklerose; zu ihrem Vater, einem Flugzeugingenieur, hatte sie nie ein gutes Verhältnis. Als sie neun Jahre alt war, zog die Familie nach Tutshill, an die walisische Grenze, wo sie immer Fremde blieben, mit dem Makel behaftet, unglücklich zu sein, weshalb Rowling es nicht erwarten konnte, aus dem Dorf herauszukommen. Sie studierte Französisch und Altertumswissenschaft in Exeter, arbeitete als Rechercheurin für Amnesty International in London, unterrichtete in Porto Englisch als Fremdsprache und kehrte 1993 nach einer kurzen, katastrophalen Ehe mit einem portugiesischen Fernsehjournalisten, einer sechs Monate alten Tochter und drei Kapiteln "Harry Potter" nach England zurück. Sie war pleite und depressiv. Dann zog sie zu ihrer Schwester nach Edinburgh, lebte von Sozialhilfe, machte eine Psychotherapie und beendete ihren ersten Roman. Sie weiß, was es heißt, arm zu sein, auch wenn sie nie obdachlos war oder in ähnlich brutalen Verhältnissen aufwuchs wie die Bewohner von Fields.

J. K. Rowling sagt, sie habe "Ein plötzlicher Todesfall" schreiben müssen. Offenbar will sie Kritik an der Gegenwart üben, an einer Regierung, die soziale Mittel kürzt, und an einer Gesellschaft, in der Profit und Konsum zu Göttern erhoben werden. Aber Rowling lässt jeden sprachlichen Furor, jede Tiefenschärfe, jedes Bewusstsein für Stil, Perspektive,Tempo und oft genug jedes Einfühlungsvermögen vermissen. Während sie die Jugendlichen mit großer Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit beschreibt, macht sie die Erwachsenen komplett lächerlich: Der Ratsvorsitzende wirkt mit seinem Sherlock-Holmes-Hut wie die Karikatur eines Engländers, der indische Arzt mit seinem perfekten Körper wie ein Schauspieler aus einem Bollywood-Film; der stellvertretende Schulleiter ist pädophil, der Bauunternehmer niederträchtig. Die älteren Frauen sehen in ihren Männern die "sie beschützenden Ritter", auch wenn sie gerade erfahren haben, dass sie jahrelang hintergangen worden sind, und die jüngeren leiten, als Kompensation für ihre zerrütteten Ehen, Edelboutiquen namens "Busenwunder".

Der Roman ist auf Handlung getrimmt, sprunghaft, einfach gestrickt, literarisch unterkomplex. Und die Sprache driftet ständig ins Kitschige oder Obszöne ab; eine mit Schockeffekten angereicherte Hausfrauenprosa: Alle paar Seiten tauchen Begriffe wie "Penis", "Möse", "Fotze", "Kotze" und "Pisse" auf, manchmal auch Schimpfwörter wie "Scheißkuh", "Paki-Kuh" oder - als ultimative Steigerung - "verkackte, blöde Fixerkuh!". Ein Teenager wird vergewaltigt, ein anderer ritzt sich die Arme auf. Es gibt Sex mit Fremden, Freunden und Verwandten; Sex in der Küche, am Fluss, auf dem Friedhof; Sex zwischen Erwachsenen, Sex zwischen Jugendlichen und Sex zwischen Erwachsenen und Jugendlichen. Und von Brüsten scheint Rowling geradezu besessen zu sein, so oft wie bei den Damen die Morgenmäntel offen stehen, als habe sie aller Welt beweisen müssen, dass sie auch ein Buch schreiben könne, das nicht für Kinder geeignet sei.

Der Wirbel um "Ein plötzlicher Todesfall" fiel ungleich geringer aus als bei "Harry Potter". Das Buch stand nicht seit Februar, seit Ankündigung des Titels, auf Platz eins der Amazon-Bestsellerliste, und es gab keine Massenhysterie. Aber das Manuskript wurde von Rowlings Agentur The Blair Partnership und vom britischen Verlag Little, Brown ähnlich behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Die deutschen Übersetzerinnen wurden zwar als vertrauenswürdig eingestuft - anders als Übersetzer aus Ländern wie den "high risk piracy zones" Italien, Slowenien oder Finnland -, mussten jedoch nach London reisen und dort im Verlag arbeiten, aus Furcht, der Inhalt könne nach außen dringen. Vier Wochen lang hätten die beiden Frauen im Büro an firmeneigenen Laptops gesessen, heißt es. Die Geräte hatten keinen Internetzugang, waren mit drei Passwörtern gesichert und mit Schlössern an die Schreibtische gekettet. Immerhin konnten dadurch die englische und die deutsche Ausgabe am Donnerstag gleichzeitig erscheinen - ohne dass allerdings irgendein Kritiker das Buch vorher zu Gesicht bekommen hätte.

Seitdem "Ein plötzlicher Todesfall" für alle lesbar ist, erscheint die ganze Geheimnistuerei nicht mehr wie eine berechtigte Angst vor Raubkopien oder wie ein Marketingtrick, um die Erwartungen hochzuschrauben, sondern vielmehr wie eine notwendige Maßnahme, um vernichtende Kritik zu unterbinden. Wenn sich nämlich vorab herumgesprochen hätte, dass sich der Roman wie ein allzu geschwätziges Drehbuch für eine öffentlich-rechtliche Dorfsoap voller Witzfiguren liest, wäre der Hype um das vom Handel am sehnsüchtigsten erwartete Buch des Jahres womöglich schon am ersten Tag verpufft. Und nicht erst drei Tage danach.

JAN BRANDT

J. K. Rowling: "Ein plötzlicher Todesfall". Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. Carlsen-Verlag, Hamburg 2012, 576 Seiten, 24,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2012

Schwarze Fliegen, die an Schädeln kleben
Kann man in diesen Zeiten noch einen moralischen Roman schreiben? Mitten in der englischen Provinz?
Man kann: „Ein plötzlicher Todesfall“, Joanne K. Rowlings erster Roman für Erwachsene
  Auf Seite 346, nicht lang nach der Mitte des Romans, fällt der Satz, der an das Frühwerk von J. K. Rowling anschließt und die Leser, die sie mit ihren sieben „Harry Potter“-Büchern und den nachfolgenden, effektgeilen Verfilmungen sanft durch die Pubertät geleitet hat, mit der Vertreibung aus dem fantastischen Hogwarts versöhnen kann: „Gaia kam sich vor, als wäre sie durch ein Tor in ein vergessenes Land gefallen.“ Das vergessene Land aber ist diesmal nicht in einem Zauberwald zu finden, sondern in einer ohne weiteres wiedererkennbaren, wenn auch zum Glück den meisten Lesern nicht vertrauten Gegenwart.
  Auch wenn sich die Autorin mit aller Gewalt von der Potterei absetzen will, schließt sie doch an die einzig wahre, die Pubertätsliteratur an. Rowlings erster Post-Potter-Roman führt erneut in ein fantastisches, den ganz und gar Erwachsenen unzugängliches Märchenreich, nur dass es diesmal bitter ernst wird. Es geht also wieder um die Leiden der Knaben, die ihr rätselhafter Körper nicht weniger quält als die Mädchen, es geht um die natürlichen Feinde, die Lehrer also und die Eltern, es geht um den Lauf der Welt.
  Die ist seit je ungerecht und wird im „Plötzlichen Todesfall“ ( aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. Carlsen Verlag, 576 Seiten, 24,90 Euro ) fein säuberlich nicht nur sozial, sondern auch geografisch aufgeteilt. Da ist das „Örtchen Pagford in einer Senke zwischen drei Hügeln, einer davon gekrönt von den Überresten einer Abtei aus dem zwölften Jahrhundert. Ein schmaler Fluss, überspannt von einer steinernen Spielzeugbrücke, schlängelte sich um den Fuß des Hügels und durch den Ort“. Jenseits des Hügels liegt die immer weiter ausgreifende Stadt Yarvil. Dazwischen dehnt sich die zugebretterte, Graffiti-verschmierte und sowieso hoffnungslose Sozialsiedlung mitsamt einer Drogenklinik, der die Schließung droht.
  Darum herum wird ein schockierendes Anti-Idyll aus jenem westlichen England inszeniert, in dem J. K. Rowling einst aufgewachsen ist. Zwei leicht unterscheidbare Parteien bekämpfen sich in Pagford: die Wohlhabenden, die an das Glück des Tüchtigen glauben oder es schon geerbt haben, und auf der anderen Seite die Sozialingenieure, die als Ärzte, Lehrer und Betreuer das moderne Elend zwischen Arbeitslosigkeit, medialer Überflutung und Drogensucht zu lindern suchen. Als ein freigewordener Sitz im Gemeinderat neu besetzt werden soll, wird hemmungslos intrigiert und konspiriert, wird gelogen und betrogen, als wäre die Kleinstadt keine, sondern mindestens Whitehall und das hohe Parlament.
  Das sorgt oft für eine lustige comedy of manners , wenn es etwa zum gesellschaftlich wichtigen Abendessen kommt, bei dem die Schwiegermutter die verachtete Frau ihres Sohnes nach ihrer Diät fragt und diese ihren Mann bei jeder Gelegenheit als lustlosen Stießel behandelt, den sie vorzugsweise mit der DVD einer boy group und reichlich Wein betrügt. Getrunken wird überhaupt gern und immer zu viel, weil sonst niemals die Lebenslüge herauszupräparieren wäre, in der der moderne Mensch spätestens seit Ibsen gefangen ist.
  Das ist oft so realitätsmimetisch wie ein Fernsehfilm und entsprechend unterhaltsam. Da entstehen lakonische Beobachtungen wie beim Anblick von Sheila, die „an einen kleinen Pfefferstreuer mit umgebundener Schürze erinnert“. Es fallen aber auch Sätze, die John Updike hätte schreiben können, wenn zum Beispiel Howard Mollisons Fettleibigkeit erklärt wird. Mit vier Jahren, als der Vater die Familie verließ, war er angemessen schmächtig. „Nachdem sein Vater fort war, musste Howard sich ans Kopfende des Tisches setzen, zwischen seine Mutter und seine Großmutter, und seine Mutter war gekränkt, wenn er keinen Nachschlag nahm. Er hatte zugenommen, allmählich die Lücke zwischen den beiden Frauen aufgefüllt, und war mit zwölf so schwer wie der Vater, der sie verlassen hatte.“
  Die Namen sind nicht weniger sprechend als bei Thomas Mann: der Lokalheilige, der, um den Plot in Gang zu setzen, bereits auf den ersten Seiten sterben muss, heißt Barry Fairbrother, der Kleinstadtkönig Howard Mollison, die Schlampe aus der Sozialsiedlung Krystal Weedon. Das bürgerliche Mittelstandsleben spielt sich in der Hope Street und in der Church Row ab, die Sozialsiedlung heißt Fields, so dass jedem aufgehen wird, auf welchen Rieselfeldern sie errichtet sein muss. Auch sonst kennt die Autorin wenig Angst vor dem Klischee, wenn wie im Sozialroman seit Charles Dickens und Benjamin Disraeli die Reichen böse und die Armen wenigstens ein bisschen gut sein müssen.
  Auch sprachlich übertreibt sie es manchmal, wenn sie ihrem Hang zur ausgedehnten Metapher folgt, die sich beim Schreiben besser angefühlt haben muss als beim Lesen: „Diese unangenehme und bisher verborgene Tatsache war allmählich im Kielwasser von Barrys Tod aufgetaucht, wie Treibgut, das von der Ebbe freigelegt wurde.“ „Wenn man clean war, steigt ein Schwall böser Gedanken und Erinnerungen aus der Dunkelheit in einem auf, summende schwarze Fliegen, die innen an der Schädeldecke klebten.“
  Was aber neben der Feststellung, dass der „Plötzliche Todesfall“ (im Original: „The Casual Vacancy“ – „die unerwartete Vakanz“) kein weiterer „Harry Potter“ ist, den Kritikern das Buch so schwer macht, ist das kaum verhohlene Anliegen der Autorin, im Jahr 2012 einen moralischen Roman zu präsentieren. Das war dem aufgeklärten englischen Roman von George Eliot bis Muriel Spark seit jeher wichtig.
  Für die Kinder, erst recht, wenn sie die Pubertät erreicht haben, kann die erwachsene Welt der Backsteinhäuser und Geranientöpfe nur die Hölle sein. Weil ihre Mutter sich verzweifelt an einen Mann hängt, von dem sie sich geliebt glaubt, wird Gaia von London aufs Land verschleppt. „Von ihren Freunden getrennt, die sie seit der Grundschule kannte, dem Haus, in dem sie seit ihrem achten Lebensjahr wohnte, von Wochenenden, die sich zunehmend um jede Art von Spaß in der Stadt drehten, sah sich Gaia trotz ihrer Bitten, Drohungen und Proteste in ein Leben geworfen, das sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte.“
  Es ist die Szenerie, an der sich die zahlreichen Freunde von Rosemarie Pilcher berauschen würden. Da es sich aber um einen richtigen Roman handelt, lauert genau hier das Unheil. Die Schüler in Pagford maulen ständig gegen ihre hilflosen Lehrer, wenn sie die Schule nicht gleich schwänzen. Sie nehmen Drogen und treffen sich – im Roman geschieht das zu Abschreckungszwecken recht bald – zum lieblosen Geschlechtsverkehr auf dem Friedhof. „Sie war trockener als beim letzten Mal, und er zwängte sich in sie, fest entschlossen, das zu vollbringen, wozu er hergekommen war.“ Das kommt so ähnlich auch bei Wedekind vor und ist erkennbar darauf berechnet, den maximalen Abstand sowohl zum verzwitscherten Kleinstadt-Idyll wie zu den klinisch sexfreien Potter-Bänden herzustellen.
  Wer will, kann auch in den Mail-Botschaften, die der „Geist von Barry Fairbrother“ an die guten Bürger von Pagford schickt, einen Rest Zauberei sehen. Die Autorin nutzt den Theatertrick, um das Gewissen schlagen zu lassen, ohne das die Bürger auskommen zu glauben. Das moralische Dreieck, das Rowling um den früh gestorbenen Barry Fairbrother zieht, besteht aus den Freunden Andrew und Stuart sowie aus der legasthenischen Schulverweigerin Krystal. Die Buben wetteifern darum, sich vor den Schulkameraden zu produzieren und ihren verachteten und gehassten Vätern das Leben schwer zu machen, und doch treibt sie nichts mehr um als die Frage, wie das richtige Leben zu führen sei. Aus dem ganzen Elend von Sozialsiedlung, Drogensucht, Beschaffungskriminalität und den beständigen Terrorisieren schwächerer Mitschüler erhebt sich als unwahrscheinlichste Heldin Krystal, die sich mit ihren sechzehn Jahren sowohl um ihre sich für einen Schuss jederzeit prostituierende Mutter wie um ihren verwahrlosten vierjährigen Bruder kümmert. Dass ausgerechnet die Unterschicht eine solche Heilige hervorbringt, dass das Sittengesetz nicht von Angehörigen der kungelnden und berechnenden oberen Mittelstandsschicht, sondern von einer Schulschlampe befolgt wird, ist nicht leicht zu begreifen. Aber wer ein Buch wie „Brighton Rock“ (1938) gelesen hat, wird nicht vergessen haben, dass auch der Katholik Graham Greene Pinkie, der doch nichts anderes als ein Gangster sein sollte, zu einem weltlichen Heiligen macht.
  Ein Roman, der nicht so plump wie die Freunde von Occupy argumentiert, aber mit einer ähnlichen Anklage gegen die Habenden auftritt, der sich nicht in Lafontaine’schen Beschwerden über die Eigentumsverhältnisse erschöpft, sondern sich auch noch erlaubt, die Zustände in den unterschiedlichen sozialen Quartieren komisch zu finden, wird die ziemlich genau in der Mitte geteilte westliche Gesellschaft in seinem altmodischen Gestus überfordern. Aber noch einmal: dieser Frau ist es ernst damit.
  So klischeefest und gestaucht Pagford zu sein scheint, es bietet ein erstaunlich reales Abbild der Gegenwart. J. K. Rowling sagte als Opfer vor dem Leveson-Ausschuss aus, der die innige Verflechtung von politischen und publizistischen Interessen im Umkreis des Großverlegers Rupert Murdoch untersuchen sollte. Murdochs Schnüffel-Reporter hatten ihr vergleichsweise wenig angetan, aber immerhin kam bei den Anhörungen das Netzwerk des Oxfordshire set zum Vorschein, zu dem sich stolz auch der gegenwärtige Premierminister zählte. Das klischierte Pagford mit seinen Absprachen und Hacker-Angriffen ist der Normalfall, und nicht nur im Nordwesten von England. Es ist ein Alptraum, der bitte, bitte irgendwann aufhören soll.
  Ausgerechnet J. K. Rowling, die zur reichsten Frau Großbritanniens aufgestiegen ist, übt die Sozialkritik, die nicht nur in England als vorgestrig und unterkomplex gilt. In ihrem Buch hat sie ein vergessenes Land aufgesucht. Schrecklich ist es, wie ein Märchen.
WILLI WINKLER
Wenn nicht so viel getrunken
würde, könnte man die Lügen
nicht herauspräparieren
Die Reichen sind böse, und
die Armen sind immer auch
ein bisschen gut
Die Heilige dieser Geschichte
ist die Schulschlampe, sonst will
von Sitten keiner etwas wissen
„Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte.“
FOTO: FOTO MARTIN PARR / MAGNUM
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