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Grundlage für Thomas Manns Goethe-Roman ist der historisch verbürgte Besuch Charlotte Kestners Goethes Jugendliebe und Vorbild für die Figur der Lotte im »Werther« 1816 in Weimar. 1939 ist der Roman unter schwierigen Bedingungen im Exil veröffentlicht worden. Im Rahmen der »Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe« wird »Lotte in Weimar« zum ersten Mal nach der Handschrift ediert und damit von zahlreichen Lese- und Druckfehlern bereinigt. Der Kommentar erschließt das Werk von Grund auf in seiner komplexen philologischen und quellengeschichtlichen Struktur und wird so zum hilfreichen Wegweiser durch diesen Roman.…mehr

Produktbeschreibung
Grundlage für Thomas Manns Goethe-Roman ist der historisch verbürgte Besuch Charlotte Kestners Goethes Jugendliebe und Vorbild für die Figur der Lotte im »Werther« 1816 in Weimar. 1939 ist der Roman unter schwierigen Bedingungen im Exil veröffentlicht worden. Im Rahmen der »Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe« wird »Lotte in Weimar« zum ersten Mal nach der Handschrift ediert und damit von zahlreichen Lese- und Druckfehlern bereinigt. Der Kommentar erschließt das Werk von Grund auf in seiner komplexen philologischen und quellengeschichtlichen Struktur und wird so zum hilfreichen Wegweiser durch diesen Roman.
Autorenporträt
Thomas Mann, 1875-1955, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Ab 1933 lebte er im Exil, zuerst in der Schweiz, dann in den USA. Erst 1952 kehrte Mann nach Europa zurück, wo er 1955 in Zürich verstarb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2003

Das große Geschwätz
Thomas Manns "Zauberberg", neu kommentiert

Es ist schlimm, wenn die ganze Misere der Zeit und des Vaterlandes auf einem liegt, ohne daß man die Kräfte hat, sie zu gestalten." Wie könnte ein Epochen- , ein Zeitroman, etwas sehr Repräsentatives heute aussehen? Das deutsche Hänschen, das sich weigert, in Fragen von weltgeschichtlicher Bedeutung Farbe zu bekennen und auf die Vorhaltungen von seiten westlicher Zivilisation mit einem Schweigen antwortet, das man als verstockt werten muß - dieses Hänschen gibt es nicht mehr. Es ist ausgestorben; und die vertrauten Antithesen Ost-West, Kultur-Zivilisation sind es möglicherweise auch. Thomas Mann führte über seine Ideen- und Kraftlosigkeit Klage gegenüber dem Bruder Heinrich im November 1913, am Vor-Vorabend des großen Donnerschlags. Er litt darunter, daß er eine Antwort, nach der die Zeit verlangte, nicht fand. Ihm war seit dem ersten Roman nichts mehr eingefallen. "Bloß larmoyant" kam ihm der "Tonio Kröger" alsbald vor, "eitel" seine "Königliche Hoheit" und "halb gebildet und falsch" der "Tod in Venedig". Seine Frau bekam ein Kind nach dem anderen, und er verzettelte sich mit Projekten wie "Geist und Kunst" und dem halbseidenen "Felix Krull". Zu verzeichnen war, nach dem Wunder des ersten Romans, eine Durststrecke, die es in sich hatte.

Michael Neumann, Herausgeber des Romans, mit dem alles wieder gut wurde, verzeichnet "geradezu desaströse Züge" auf Manns Weg in die Moderne. Das ist, angesichts der populären Werke aus der fast ein Vierteljahrhundert langen Überbrückungszeit, eine harte, aber gerechtfertigte Diagnose. Der "Zauberberg" aber wäre nie ein solcher Epochenroman geworden, hätte die "zeitdiagnostische Ebene", von der Neumann im Kapitel zur Entstehungsgeschichte spricht, sich nicht als so tragfähig erwiesen. Wir sind es gewohnt, diesen Roman, wie eigentlich alles von diesem Autor, als ein Kunstwerk zu betrachten, dessen zeitgeschichtlicher Gehalt gewissermaßen vertilgt wird von einer Sprache, die sich mit einer Kunstfertigkeit, die nicht jedermann angenehm ist, ums Individuelle kümmert. Daß Neumann an einer entscheidenden Stelle seines Kommentars den Akzent anders legt, erlaubt es uns, das Diktum, mit dem Thomas Mann seinen Anspruch auf Repräsentativität ein Leben lang rechtfertigte - daß Zeitkritik immer Selbstkritik sei -, umgekehrt zu sehen. Hier liegt, wenn man so will, der Keim zum Roman, der sich in zwölf Jahren mit massiver Unterbrechung auf zwei Bände auswuchs und das Ineinandergreifen des Individuellen und Allgemeinen auf eine unerklärliche, aber beglückende Weise bewerkstelligte. Die von Thomas Mann selbst der Philologie hingeworfenen Informationshappen zur Entstehungsgeschichte sind deshalb nicht irrelevant; aber sie betreffen nur äußere Anlässe: Katjas Kur, Homosexuellenphantasien und das Bedürfnis, nach der Venedig-Erzählung wieder etwas Lustiges zu schreiben.

Selbstkritik also immer Zeitkritik: Castorps geistig-sittliche Indifferenz, seine "Glaubenslosigkeit und Aussichtslosigkeit" fallen auf die Epoche zurück, sie sind "geistige Zeitbestimmtheit". Denn daß die Zeit selbst auf die Frage "nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt", das nimmt der Hanseat nicht als Entschuldigung, sondern als Ursache für den unehrenhaften Abgang aus der werktätigen Welt, die in der Sanatoriumsatmosphäre eine Alternative findet, deren Reizen auch der Tüchtigste, der Castorp ohnehin nicht ist, verfallen wäre. Wie Hanno Buddenbrook aus einer verrotteten Familie, so kommt Castorp aus einer verotteten Zeit. Der Abschnitt, in dem von der epochalen Indifferenz die Rede ist, gehört zu den wenigen Stellen, an denen Neumann seine Zurückhaltung in Fragen der Interpretation ablegt. Es ist deshalb viel ausgesagt über den Roman, wenn die zeitdiagnostische Ebene in dessen "Handlungszentrum" verlegt wird und nicht etwa die individualgeschichtliche, mit Versatzstücken aus dem Bildungsroman unterlegte Geschichte vom arbeitsscheuen Mittelmaß. Neumanns Knappheit hat einen Kommentarband entstehen lassen, der mit fünfhundert Seiten geradezu schlank geraten ist.

Vom Kunst- zum Künstlerwerk

Der Kommentar zu den "Buddenbrooks", den Eckhard Heftrich besorgt hat (F.A.Z. vom 22. Juni 2002), ist um die Hälfte länger. Bedenkt man, daß beim "Zauberberg" die Überlieferungslage in fast jeder Hinsicht ungleich günstiger und die Masse des von Thomas Mann bewältigten Stoffes größer ist, dann könnte man von einem Mißverhältnis sprechen. Aber von Anfang an war gewährleistet - und die sechs Hauptherausgeber haben keinen Zweifel daran gelassen -, daß die Arbeit der Einzelherausgeber individuelle Züge tragen sollte. Dennoch hätte man die Entstehungsgeschichte gerne noch etwas länger gelesen.

Die Pause, welche die "Betrachtungen eines Unpolitischen" erzwangen, bleibt mit allem, was nach der Wiederaufnahme im Frühjahr 1919 folgt, etwas schematisch abgehandelt. Nichts erfahren wir zu einem Unterschied, der für Thomas Mann von entscheidender Bedeutung war: zwischen dem Kunst- und dem Künstlerwerk. Neumann sieht keinen Grund, sich dieser Unterscheidung, welche die "Betrachtungen" in ihrer Vorrede treffen, anzunehmen - es fiele bereits ins Gebiet der Interpretation. So ist es dem Leser überlassen, sich die in der Forschung inzwischen unstrittige Tatsache zu vergegenwärtigen, daß Thomas Mann im erzählerischen Werk an Syntheseleistung glückte, was ihm im essayistischen meistens mißriet. Dem Leser ist es auch überlassen, das Kapitel zur Rezeptionsgeschichte um ein Unterkapitel zu ergänzen. Wüßte man nicht von der gleichsam negativen "Zauberberg"-Rezeption der siebziger Jahre, als nicht nur Martin Walser Abwegiges über die Ironie dieses wohl ironischsten Romans äußerte; wüßte man nicht, welche Spuren der Roman in Kempowskis grandiosen "Hundstagen" hinterlassen hat und welche Konkurrenzleistung er etwa in Thorsten Beckers "Zauberberg"-Roman (F.A.Z. vom 26. Februar 2002) erzwungen hat - wüßte man dies nicht, man könnte annehmen, die Wirkungsgeschichte des Romans ende mit dem Leben seines Autors.

Daß die "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" sich an wissenschaftlich wie laienhaft interessierte Leser gleichermaßen wendet, will uns wie ein halsbrecherischer Spagat vorkommen, hätte sie sich nicht die Maxime des Zauberers selbst zu eigen gemacht: Thomas Mann verlangte auch nach den Dummen. Die gesamte Ausgabe fußt auf einer ungewöhnlich guten Textüberlieferung. Daß Thomas Mann zu späteren Auflagen kaum Korrekturen beigetragen und sich noch im Alter darüber beklagt hat, daß ausgerechnet die deutschen Ausgaben seiner Bücher voller Fehler seien, steht auf einem anderen Blatt - er war eben kein Detlev Spinell und hatte Besseres zu tun, als in seinem eigenen Romanen zu lesen.

Verschreibungen oder Versehen?

Was Neumanns Textbehandlung betrifft, die auf der Grundlage des Erstdrucks vom November 1924 erfolgt, so gestattet er sich Eingriffe nur in den Fällen, in denen offensichtliche Verschreibungen oder Versehen vorliegen. Bei Konsul Tienappels Abneigung gegen das Hochgebirge, in das ihn anfangs keine vier, später keine zehn Pferde kriegen, war das offensichtlich nicht der Fall. Die Frage aber, ob es sein kann, daß das Anfangsgespann Fohlen bekommen hat, ist keineswegs an die Veterinäre gerichtet. In jeder noch so kritisch durchgesehenen Ausgabe haben wir es mit einem Text zu tun, von dem Makellosigkeit nicht zu erwarten ist - die Sache mit den Pferden steht eben einfach so da: "An einigen wenigen Stellen", sagt Neumann, "sind Thomas Mann Fehler unterlaufen. So sitzt bei Castorps Frühstück das englische Fräulein erst zu seiner Linken, dann zu seiner Rechten. Ich habe in solchen Fällen grundsätzlich nicht in den Text eingegriffen." Es müssen prinzipielle Erwägungen sein und nicht solche, die mal gelten und mal nicht: "Thomas Manns Romane", fährt Neumann fort, "sind überaus dicht komponiert, und kein Herausgeber kann sicher sein, ob er nicht weniger auffällige Fäden verletzt, wenn er einen ihm auffallenden Fehler beseitigt."

Was die Quellenlage betrifft, die ein in Jahrzehnten gestählter und inzwischen bis in die hintersten Winkel des Textes vorgedrungener Forscherwille dem "Zauberberg" als zweites Zentralmassiv an die Seite gestellt hat, so unterscheidet Neumann plausibel zwischen Sachquellen und literarischen Mustern, wobei offenbleiben muß, warum etwa eine von Dietrich Fischer-Dieskau besorgte Liedersammlung von 1968 oder die Zürcher Schopenhauer-Ausgabe von 1977 unter den "Quellen" aufgeführt sind. Daß Thomas Mann das meiste ohnehin so schnell wieder vergessen hat wie Hans Castorp seinen Schneetraum, bedeutet eine fast so starke Ironie wie die am Ende durch den dummen Peeperkorn an den Tag gebrachte Bedeutungslosigkeit des Naphta-Settembrini-Geschwätzes. Das haben viele Leser bis heute nicht begriffen; sie meinen, man müßte alles, was Naphta und Settembrini sagen, auch verstehen, und sie empfinden die entsprechenden Passagen als zu intellektuell oder, was oft dasselbe ist, als langweilig. Die Philologen dürfen sich indes nicht von ihrer Arbeit abhalten lassen, nur weil alles, was in Davos so geredet wird, sein Gewicht nur im Hinblick auf die Gesamtkomposition hat. Wollte man das eine oder andere beim Nennwert nehmen, worauf Neumann sich nicht einläßt, man hätte nur einen weiteren Monsteressay wie die "Betrachtungen" vor sich.

Es kommt auf anderes an. Der "Zauberberg" ist ja, wie der "Doktor Faustus", schon ein verzweifelt deutsches Buch, was den Hang zur Gründlichkeit betrifft, sogar noch verzweifelter. "Du bist wirklich ein Galan, der seine Werbung auf gründliche Weise, wahrhaft deutsch, zu betreiben weiß." So steht es im Stellenkommentar zum fünften Kapitel. Daß die russische Katze dergleichen eigentlich auf französisch schnurrt und Neumann es übersetzt, sollte nicht davon ablenken, daß mit dieser Stelle ein weiteres Indiz für die erotische Grundierung des humoristischen Erzählens vorliegt. Dank der sorgfältig dokumentierten ausgeschiedenen Stellen und Kapitel wissen wir nun, daß bei all der Gründlichkeit des Erzählens immer noch Stoff für mehr gewesen wäre; wir sehen aber auch, daß das Ausgeschiedene zu Recht ausgeschieden ist und sich die Ökonomie doch, trotz der nun fast elfhundert Seiten, durchgesetzt hat.

Den Realienstoff und den vor allem bei Schopenhauer und Nietzsche bezogenen philosophischen Gehalt dieses Romans nimmt Neumann nicht ernster als nötig. Auch das mag man bedauern, aber den Griff zur gewaltigen Forschungsliteratur kann diese Ausgabe sowieso nicht ersetzen. Aus der Abteilung Peeperkorn/Hauptmann wissen wir, daß auch das Wort aus berufenem Berufsdenkermund eine spaßige Verfügungsmasse ist, deren Haltbarkeit die der faulen Witze der Patientin Stöhr (der Stör ist wohl, anders als Neumann meint, kein Fluß-, sondern eher ein Seefisch) kaum übertrifft.

Thomas Mann: "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe". Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002 ff. Band 5.1: "Der Zauberberg". Roman. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Band 5.2: "Kommentar". Zus. 1620 S., geb., 49,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2004

Im Krater des Olymp
Aus dem Hause Goethe: Zur Neuedition von Thomas Manns „Lotte in Weimar”
Wie nannten in Deutschland die Spottverse und Flugschriften, die im Zuge der Befreiungskriege aufkamen, den Kaiser der Franzosen? Sie nannten ihn „Nöppel”. So stand es in allen bisherigen Drucken von Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar” (1939) zu lesen. Nun, in der vorzüglichen Neuedition innerhalb der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, wird der Volksmund erstmals korrekt zitiert, und es drängt den verletzten jungen Heros, den Adele Schopenhauer und Ottilie von Pogwisch, die künftige Gemahlin von Goethes Sohn, im Park an der Ilm entdecken zur baldigen Genesung, „um ,Näppel‘, wie er den Corsen nannte, aufs Haupt zu schlagen, das Vaterland zu befreien und Paris in Asche zu legen”. Es ist dies nur eine von zahlreichen Korrekturen, die der umsichtige Herausgeber Werner Frizen auf Basis der Handschrift an der bisherigen Überlieferung des Textes anbringt, die auf den katastrophalen Erstdruck der Stockholmer Ausgabe zurückgeht.
Durch die konsequente Orientierung am Manuskript restauriert Frizen nicht nur – so bei den Namen von Generälen, Orten, Begriffen etc. – das mühsam erarbeitete historische Kolorit des Romans, er bewahrt zugleich den Reiz der eigentümlich zwittrigen Orthographie Thomas Manns, in der sich nach durchaus laxen Gesetzen die Mimikry mit dem frühen 19. Jahrhundert und die Schreibgewohnheiten des im späten 19. Jahrhundert sozialisierten Autors mischen.
Ein Ereignis ist diese Ausgabe aber vor allem durch ihren Kommentar. Er ist in einem separaten Band gedruckt, der doppelt so dick ist wie der Roman selbst. Dies nicht deshalb, weil er weitschweifig wäre. Sondern weil er eine ebenso einfache wie vertrackte Frage mustergültig klärt: Wie und zu welchem Ende hat Thomas Mann kurz vor, während und nach der Übersiedlung ins amerikanische Exil dieses Buch verfasst? Wie hat er aus dem Besuch der Hannöverschen Hofrätin Charlotte Kestner und ihrer Tochter in Weimar im September 1816, der Goethe selbst nur zwei lapidare Notizen („Mittags Ridels und Madame Kestner” / „Hofrätin Kestner aus Hannover”) wert war, einen ganzen Roman gemacht, in dem sich wie in einem Spiegelkabinett er selbst und Goethe, die Deutschen von 1816 und die von 1939, vor allem aber Dichtung und Wahrheit, Literatur und Leben begegnen?
Frizen liefert nicht nur eine minutiöse Nachzeichnung der Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch – durch den Abdruck der einschlägigen Exzerpte aus dem Thomas Mann-Archiv in Zürich – einen kommentierten Überblick über die Quellen Thomas Manns. So wird deutlich, wie der Romancier als stilvoller Parasit sowohl die Goethe-Reminiszenzen der Weimarer Zeitgenossen wie die Goethe-Philologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nutzte. Zum anderen, wie entschlossen Thomas Mann die Anregungen der nicht-zünftigen Goethe-Philologie aufgriff. Die Obsession dieser „wilden” Philologie war, seit dem späten 19. Jahrhundert, der „pathologische” Goethe, dessen sich bald auch die Psychoanalyse annahm. Die Schrift des Psychoanalytikers Felix Aaron Theilhaber „Goethe. Sexus und Eros” (1929) akzentuiert Frizen als eine der wichtigsten Anregungen. Lotte in Weimar, ein Schatten aus der 44 Jahre zurückliegenden Inkubationsphase des „Werther” – erst bei Theilhaber wird aus den dürren Goethe-Notizen eine veritable Anekdote.
Thomas Mann fand die Form seines Romans nicht schon dadurch, dass er sie aufgriff, sondern erst, indem er das Anekdotische im Dämonisch-Pathologischen aufhob und verdampfen ließ. Die Treue hielt er der Anekdote vor allem durch die komödiantische Struktur des Romans. Deren Faktotum, Mager, der Kellner des Weimarer Gasthofes „Zum Elefanten”, ist von der ersten bis zur letzten Seite als Hintergrundfigur anwesend.
Der komödiantische Reigen ergibt sich durch das Defilee der Figuren, die der Hofrätin Kestner, oder genauer: der „Lotte” des „Werther”, der man in ihr zu begegnen hofft, ihre Aufwartung machen: die englische Journalistin Miss Cuzzle, der mit seinem devot-bösen Blick auf Goethe essayistisch brillierende Riemer, die Inkarnation der Weimarer Fama und des Klatsches, Adele Schopenhauer, und schließlich der Sohn des Dichters, der Kammerrat August von Goethe. Erst im siebten, heikelsten Kapitel des Romans, tritt Goethe selbst monologisierend erstmals auf, aber jeder der Teppiche, die ihm bis dahin ausgerollt wurden, ist ein schwankender Grund.
Das Spiel mit der Zahl sieben hatte Thomas Mann schon im „Zauberberg” betrieben. In diesem Roman, der sich als Hügel in Mittelgebirgslage tarnt, führt er es unauffällig fort. Und zwar so, dass der energischen Mimikry mit der Mythisierung Goethes in der deutschen Kultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die nicht minder energische Entmythologisierung des „heiteren Olympiers” die Waage hält.
Das überaus hartnäckige Interesse am kranken und vor allem: am krank machenden Goethe, subtilerweise besonders eindringlich seinem natürlichen Sohn August in den Mund gelegt, spielt hierbei eine Hauptrolle. Es verbindet sich mit der Überblendung der zeithistorischen und der psychologischen Figur des Tyrannen. Bis in seine feinsten Verästelungen ist „Lotte in Weimar” von der Überblendung des Herrschers am Frauenplan mit der auratisch-dämonischen Herrscher- und Erobererfigur Napoleon geprägt.
Nicht nur für seine Hausgenossen wird Goethe dadurch zu einem Idol, dessen Nähe Gefahren birgt. Es wird so zugleich ein Keil zwischen die Deutschen und ihren größten Dichter getrieben. Resolut nutzt Thomas Mann alle Quellen, die Goethes Distanz zu den Befreiungskriegen, seine herablassende Indifferenz gegenüber dem Aufschwung des Nationalen hervorheben, und zugleich diejeingen, die vom Unverständnis und vom moralischen Verdacht des Publikums gegen Goethes spätere Werke berichten. Aus dieser Distanz zwischen Goethe und den Deutschen gehen die Energien des Exilromans hervor, als der „Lotte in Weimar” kritisch an die Deutschen der Jahre 1938/39, im Blick auf die Bücherverbrennung und die Pogrome gegen die Juden.
Gelesen an der Jahreswende 2003/2004 fällt aber mehr noch als die Stimme des Exilanten Thomas Mann und das Interesse am pathologischen Goethe seine dritte tragende Schicht ins Auge: die Fallstudie zum Thema, wie das Leben der Literatur Tribut zu zollen hat. Nur weil der „Werther”, Goethes einziger großer Bestseller, als Schlüsselroman gelesen werden konnte, hat die Episode ,Lotte in Weimar‘ das Zeug zu einem Thomas-Mann-Roman. Er ist nicht zuletzt eine Art Aufklärung in eigener Sache: er erforscht im Blick auf Goethe das moderne Phänomen desProminentendaseins.
Das dämonische Doppelgängertum der abgelebten Schatten, die mit falschen Augenfarben auf ewig aus einem Buch herausschauen, ist die aktuellste Facette in diesem Roman über die Voraussetzungen, Folgen und Nebenwirkungen eines Schlüsselromans. Komödie und Abgrund werden hier identisch, und der Autor ist sich nicht zu schade, seinem Roman kraft dokumentarisch-imaginativer Recherche eine veritable Homestory aus dem Hause Goethe einzuschreiben. Sie tritt im Rückblick nicht zuletzt deshalb hervor, weil Thomas Mann an Goethe eben den Typus Nachruhm musterte, der ihm selbst blühte.
LOTHAR MÜLLER
THOMAS MANN: Lotte in Weimar. Roman. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Werner Frizen. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 9.1 und Band 9.2. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 450 und 950 Seiten, zus. 78 Euro.
Silhouetten von Johann Christian und Charlotte Kestner, geborene Buff.
Abb.: Wetzlar, Städtische Sammlungen
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als "vorzügliche Neuedition" würdigt Lothar Müller diese von Werner Frizen herausgegebene und kommentierte Ausgabe von Thomas Manns Roman "Lotte in Weimar". Dass Frizen auf Grundlage der Handschrift umsichtig zahlreiche Korrekturen vornimmt, und somit das "historische Kolorit" des Romans restauriert und die den Reiz der "eigentümlich zwittrigen Orthografie" Manns bewahrt, findet bereits Müllers ungeteilten Beifall. Durch Frizens in einem separaten Band gedruckten Kommentar aber wird die Ausgabe für Müller zum "Ereignis". Mustergültig kläre Frizen nämlich die Frage, wie und zu welchem Ende Mann kurz vor, während und nach der Übersiedlung ins amerikanische Exil dieses Buch verfasst hat sowie die Frage, wie er aus dem Besuch der Hannöverschen Hofrätin Charlotte Kestner und ihrer Tochter in Weimar im September 1816 - Goethe selbst hatte nur zwei lapidare Notizen dafür übrig - einen ganzen Roman gemacht hat. Zur Freude des Rezensenten liefert Frizen dabei nicht nur eine "minutiöse Nachzeichnung" der Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch einen kommentierten Überblick über die Quellen, aus denen Mann schöpfte - neben den Goethe-Reminiszenzen der Weimarer Zeitgenossen und der Goethe-Philologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war das vor allem auch die nicht-zünftige Goethe-Philologie mit ihrem starken Interesse am "pathologischen" Goethe.

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