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«Wann passiert es schon, daß einem die Verlängerung des eigenen Lebens angeboten wird?» Der Anruf kommt um kurz nach zwei. Ein junger, sterbenskranker Mann geht ans Telefon, und eine Stimme sagt: Wir haben ein passendes Spenderorgan für Sie. Auf diesen Anruf hat er gewartet, diesen Anruf hat er gefürchtet. Soll er es wagen, damit er weiter da ist für sein Kind? Er nimmt seine Tasche und läßt sich ins Berliner Virchow-Klinikum fahren. Von der Geschichte und Vorgeschichte dieser Organtransplantation handelt «Leben»: von den langen Tagen und Nächten im Kosmos Krankenhaus neben den wechselnden…mehr

Produktbeschreibung
«Wann passiert es schon, daß einem die Verlängerung des eigenen Lebens angeboten wird?»
Der Anruf kommt um kurz nach zwei. Ein junger, sterbenskranker Mann geht ans Telefon, und eine Stimme sagt: Wir haben ein passendes Spenderorgan für Sie. Auf diesen Anruf hat er gewartet, diesen Anruf hat er gefürchtet. Soll er es wagen, damit er weiter da ist für sein Kind? Er nimmt seine Tasche und läßt sich ins Berliner Virchow-Klinikum fahren.
Von der Geschichte und Vorgeschichte dieser Organtransplantation handelt «Leben»: von den langen Tagen und Nächten im Kosmos Krankenhaus neben den wechselnden Bettnachbarn mit ihren Schicksalen und Beichten - einem Getränkehändler etwa, der heimlich seine Geliebte besucht, oder einem libanesischen Fleischer, der im Bürgerkrieg beide Brüder verlor. Beim Zuhören bemerkt er zum ersten Mal, daß auch er schon ein Leben hinter sich hat. Und da, in seinem weißen Raumschiff Krankenbett, unterwegs auf einer Reise durch Erinnerungs- und Sehnsuchtsräume, kreisen die Gedanken: Wen hat er geliebt? Für wen lohnt es sich zu leben? Und welcher Mensch ist gestorben, so daß er weiter leben kann, möglicherweise als ein anderer als zuvor?
David Wagner hat ein berührendes, nachdenklich stimmendes, lebenskluges Buch über einen existentiellen Drahtseilakt geschrieben. Ohne Pathos und mit stilistischer Brillanz erzählt er vom Lieben und Sterben, von Verantwortung und Glück - vom Leben, das der Derwisch eine Reise nennt.
Autorenporträt
David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman 'Meine nachtblaue Hose'. Es folgten der Erzählungsband 'Was alles fehlt', das Prosabuch 'Spricht das Kind', die Essaysammlungen 'Welche Farbe hat Berlin' und 'Mauer Park', die Kindheitserinnerungen 'Drüben und drüben' (mit Jochen Schmidt), der Roman 'Vier Äpfel', der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, und 'Ein Zimmer im Hotel'. 2013 wurde ihm für sein Buch 'Leben' der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster 'Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur' an der Universität Bern. 'Der vergessliche Riese' brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Frank Schäfer ist begeistert von diesem "großartigen" Buch, in dem David Wagner seine eigene und nur leicht verfremdete Krankheitsgeschichte - er litt an einer Autoimmunhepatitis, die die Leber als Fremdkörper aus dem Organismus ausstößt - erzählt und darin zugleich die passende Form für eine Dankesbekundung an seinen Leberspender findet. Im Zentrum steht dabei eine assoziativ verfasste Chronik des Krankenalltags, die der Rezensent als "reziprokes Reisetagebuch" auffasst: Anders als vorangegangene Bücher des Autors handelt "Leben" nicht davon, sich die Welt bummelnd zu erschließen, sondern von der Erkundung der eigenen Innenwelt vom Krankenbett aus. Von dieser Reise kehrt der Autor mit reicher Beute in Form von zahlreichen Notizen und Essays zurück: Ein literarischer Mahlstrom, dem sich Schäfer mit größter Wonne überantwortet hat, auch wenn ihm bei Wagners knochentrockenem Sarkasmus gelegentlich das Lachen im Halse stecken bleibt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Es gibt nichts, was David Wagners Blicks nicht würdig wäre." -- Judith Schalansky, Die Welt

"The Proust-inspired West German stylist." -- Nora Fitzgerald, The New York Times

"David Wagners Büchern ist etwas gemeinsam, das man ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit, für das Verschwinden von Dingen und Menschen nennen könnte. Dieses Bewusstsein schlägt sich nicht etwa in Sentimentalität nieder, sondern in einer Genauigkeit des Blicks." -- Wiebke Porombka, die tageszeitung

"David Wagner wagt sich an die elementaren Seiten des Seins. Woher kommen wir? Wohin gehen wir?" -- Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung

"David Wagner berührt die ganz großen Fragen. Was heißt es, auf der Welt zu sein? Was ist das Leben?" -- Dirk Knipphals, die tageszeitung

"David Wagner versteht es, die Zeit zu dehnen, neu zu vermessen und seinen Erzähler eine Erinnerungskaskade nach der anderen in Gang setzen zu lassen." -- Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel

"LEBEN von David Wagner ist das literarische Ereignis des Frühjahrs. Das Buch ist in all seinem Raffinement und seiner Beschreibungskunst die organische Fortschreibung eines Werks, das bereits zu den bemerkenswertesten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählte. Doch jetzt hat David Wagners Schreibvermögen ein neues Niveau erreicht." -- Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013

Ein
fremdes
Flirren
Auf der Intensivstation des
Erzählens: David Wagners
autobiografische
Prosa „Leben“
VON HELMUT BÖTTIGER
Dieses Buch besteht aus lauter kleinen Bruchstücken, sie sind durchnummeriert, bis hin zur Nummer 277. Aber es ist keine geregelte Reihenfolge, es geht alles wild durcheinander. Und sie werden auch noch unterbrochen durch einige kurze Einzelkapitel, „Schnee“ oder „Blut“ oder „Die müde Giraffe“. Alles scheint vorläufig zu sein, unsystematisch. Das Buch hat keine Gattungsbezeichnung, es heißt einfach „Leben“. Und tatsächlich: Es bildet das Leben in aller Form ab.
  Jedes einzelne Bruchstück ist kostbar. Das spürt man intuitiv. Es sind manchmal bloß kleine Beobachtungen, aber auch Erinnerungsbilder, sorgsam gearbeitete Miniaturen. Und mitten im Buch fällt man in ein ganz tiefes Loch: zwei leere Doppelseiten, und dazwischen eine ganz in Schwarz. Es geht um Leben oder Tod. Doch obwohl David Wagner hier die Geschichte einer Lebertransplantation beschreibt, dramatische Momente der Todesnähe und des Überlebens, macht man mit diesem Buch eine ganz merkwürdige Erfahrung. Es ist mehr als die Geschichte einer Krankheit und einer tödlichen Bedrohung. Die Sprache ist nicht auf Sensationen und spektakuläre Ereignisse aus. Sie transportiert etwas ganz Anderes, und das ist es, was den Leser zunehmend beschäftigt.
  Die Wörter „Leber“ und „Leben“ unterscheiden sich nur im letzten Aushauchen, im letzten Konsonanten. Einmal verschreibt sich der Patient auch in dieser Weise, als er eine SMS verschickt, für ihn sind die beiden Begriffe tatsächlich fast identisch. Er hat eine Autoimmunhepatitis, eine seltene Krankheit, die früher oder später zum Ausfall jenes Organs zu führen droht, und steht deshalb auf der Liste derer, die auf ein Spenderorgan warten. Als ihn mitten in der Nacht der Anruf erreicht, lehnt er ab: Er will sein Kind, das gerade bei ihm ist statt bei seiner Mutter, nicht aufwecken, fühlt sich nicht existenziell bedroht. Fünf Monate später erbricht er jedoch plötzlich Blut, und damit beginnt das Buch: die sachliche Beschreibung einer unerhörten Begebenheit, wie ein fremder Film, ohne unmittelbare Gefühlsäußerungen.
  Es ist ein autobiografisches Buch, aber der Autor scheint sein Ich hier eher phänomenologisch vorzuführen. Es wirkt wie ein Objekt, dem unglaubliche Dinge widerfahren. Charakteristisch sind die distanzierten, unpersönlichen Wendungen, mit denen dieses Ich ins Blickfeld gerät. Einmal, die körperlichen Schmerzen nach den operativen Eingriffen sind wieder sehr groß, heißt es, selbst die Stimme der Mutter, an deren „stell dich nicht so an“er sich immer erinnert, „ist ausnahmsweise nicht zu hören“. Ist nicht zu hören: das ist etwas anderes als „ich höre“. Hier spricht keine selbstverständlich aus sich heraus existierende Subjektivität, alles wird erzählt wie in einer irritierenden dritten Person – auch wenn das Ich von sich berichtet.
  Die Krankenhausszenen haben etwas Groteskes. Der Blick auf die Bettnachbarn und die Krankenschwestern ist der eines absurden Komikers, er spürt belanglose Details direkt am Abgrund auf. Doch das Schnarchen, das Fernsehschauen, die sich wiederholenden Krankheitserzählungen der Zimmergenossen stören nicht weiter, denn plötzlich befindet man sich auf einer Busfahrt mitten in Mexiko. Dieser Mexikoaufenthalt scheint eine gravierende Erfahrung gewesen zu sein, er tritt öfter ins Zentrum. Dabei wird nichts auserzählt, es genügt, dass beiläufig der Name einer „Gloria“ auftaucht, mit der der Ich-Erzähler offenkundig etwas zu tun hatte. Was da genau stattfand, die Entwicklung einer Beziehung, ist völlig ausgeklammert, es gibt nur einige stehen gebliebene, prägnante Bilder. Glorias Großvater etwa wohnte in einer Hafenstadt am Pazifik, gleich am Meer, und abrupt endet die Passage mit dem Satz: „Jahre später, Gloria war verheiratet und hatte zwei Kinder, erzählte sie mir, er habe noch lange nach mir gefragt.“
  Dies ist nicht eine Erfahrung der Vergeblichkeit, sondern mit dieser anscheinend nebensächlichen Bemerkung wird die eigene Existenz beglaubigt. Details aus dem gelebten Leben werden zu glitzernden Sinneinheiten. Und so treten aus der Vergangenheit Glücksmomente heraus, die zu einer ungeahnten Selbstvergewisserung werden. Erzählen wird zum Sehnsuchtsprojekt. Was im Krankenzimmer zu sehen ist, tritt immer dichter heran, wird immer größer, bis es verschwimmt: der neben dem Ich-Erzähler liegende Fleischer mit seinem imposanten Übergewicht, der sibirische Bauer mit seinen minderwertigen Äpfeln, die nahe Wasserflasche, der frühmodern schattierte Linoleumboden. Blickt man lange genug darauf, wird die Kindheit in Bonn wieder gegenwärtig, die Mutter, die an Krebs gestorben ist, und vor allem verschiedene Freundinnen. Jedes Mal taucht das Gefühl auf, das Eigentliche sei bei allen bizarren Erlebnissen und Betätigungen verpasst worden, doch indem es auf diese Weise evoziert wird, ist auch das Eigentliche da.
  Die Erinnerungen wirken plastisch, wie Edelsteine, die so geschliffen sind, dass sie nach allen Seiten hin funkeln und unerwartete Effekte hervorbringen. Das führt zu Schluss-Sätzen, die lakonisch, in einem zarten, aber nüchternen Duktus jenseits von Subjektivität, die Fragilität von Erinnerungen zeigen, die Überdeutlichkeit und die Unsicherheit der Wahrnehmung. Nur durch Andeutungen und durch präzise Details am Rand wird eine bestimmte Atmosphäre evoziert: eine Medizinstudentin mit ihrem halb zusammengesteckten blonden Haar lässt plötzlich die 16-jährige Daniela hervortreten, mit kleinen Entdeckerspielchen nach dem Nachhilfeunterricht, „immer hatte sie eine Aufregungsröte im Gesicht, als ob sie jederzeit mit ihrem Vater rechnete, dem ich nie begegnet bin“. Oder die Zeit der Friedensdemonstrationen und der heute putzig erscheinenden Zukunftsangst der frühen achtziger Jahre. Oder der Alltag in Berlin, als Görlitzer Bahnhof und Boxhagener Straße noch billige Wohnadressen waren.
  Nachdem eine fremde Leber eingepflanzt wurde, ist ein fremdes, äußerst nahes Du ständig präsent. Die neue Leber ist nicht nur physiologisch etwas, was nicht dem eigenen Körper entstammt, sie transportiert auch andere Botenstoffe, greift in die psychischen Mechanismen ein. Das Selbstgefühl, ein Hybrid, fast ein Replikant zu sein, bringt ein Flirren hervor; es verweist auf Zukunftsphänomene, lässt das landläufige Ich hinter sich und wirft ein ungewohntes Licht auf Gefühle, die authentisch zu sein scheinen. Die Sprache, die David Wagner für diese Erfahrungen findet, entspricht ihnen gerade in ihrer schwebenden Pointiertheit genau.
  „Rebecca“ ist eine Freundin, die gelegentlich aufgerufen wird, sie steht für eine Zeit in Paris, die neben dem Mexiko-Trip das Tiefgreifendste gewesen zu sein scheint, und der Geruch des Nachthemds, das Rebecca unter dem Kopfkissen des Ich-Erzählers hinterlassen hat, kündet von einem Glücksgefühl, das tief verborgen in der Vergangenheit liegt und nie mehr erreicht werden kann. Rebecca ist bereits tot, das erfährt man schon recht früh.
  Aber erst auf den letzten Seiten, als die Lebertransplantation gelungen ist und nach einigen Komplikationen ein Normalzustand heraufdämmert, wird in spröden, knappen Prosasätzen die konkrete Szene beschrieben: Sie ist von einem Lieferwagen überfahren worden, mitten in Berlin, auf banalste Weise aus dem Leben gerissen – während der Ich-Erzähler nach monatelangem Ringen sich gerade dem Leben wieder annähert.
  Dieses Buch ist von einer schillernden Sprache geprägt, aber es lebt von Zurücknahme. Es schildert kaum direkte Verzweiflungszustände, aber es transportiert umso dringlicher ein großes, in sich widersprüchliches Gefühl. Man kann so ein Buch wohl nur einmal schreiben. Aber dass es geschrieben wurde, ist ein Glücksfall.
David Wagner: Leben. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 282 Seiten, 19,95 Euro.
Die Wörter „Leber“ und
„Leben“ unterscheiden sich nur
im letzten Aushauchen
Dieses Buch ist von seiner
schillernden Sprache geprägt –
aber es lebt von Zurücknahme
Der Patient fühlt sich wie ein Objekt. Unglaubliche Dinge widerfahren ihm, aber sie widerfahren ihm wie einer irritierenden dritten Person.
FOTO: OCEAN/CORBIS
Eine fremde Leber wird eingepflanzt.
Danach ist ein fremdes Du ständig präsent.

FOTO: CALLISTA IMAGES/CULTURA/CORBIS
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013

Nein, du sollst nicht überfahren werden

David Wagner hat ein Buch über das Kranksein geschrieben: Ein Mann liegt im Bett, wartet auf eine Leber und hat Zeit

Bei der Lektüre des Buches "Leben", welches von einem sterbenskranken Menschen erzählt wird, passiert allerhand: Man will mit einem Arzt sprechen und macht sogar einen Termin; man will sich in ein Gerät legen, welches den gesamten Körper absucht und prüft, man will nicht mehr rauchen, langsamer gehen und essen, jemanden anrufen, dem man es lange versprochen hatte, und seinen wichtigen Menschen sagen, dass man sie liebt. Und dann ärgert man sich, weil man diesen Bewusster-leben-Mist (der natürlich kein Mist ist, aber halt nur momentweise funktioniert) schon tausendmal gehört und auch probiert hat. Damit hat man natürlich sofort ein neues Problem, weil man sich undankbar fühlt und auf diese Undankbarkeit folgt sofort die Strafe, das heißt in diesem Fall die Todeskrankheit, und wenn die einen befallen hat, wäre man in einer genauso schrecklichen Todeslage wie der Erzähler des Buches "Leben", der wie einst sein Autor David Wagner mit einer kaputten Leber kämpfen muss.

Ein gemeiner Engel stünde dann am eigenen Krankenbett, die Arme vor der Brust verschränkt, und er würde sagen: "Ha, wärst du mal lieber nicht so frech gewesen, als du das Leben-Buch gelesen hast! Demut, du Penner, Demut!" Solche Sachen will man sich natürlich nicht vorstellen, dass man krank wird und zeitlebens alles falsch gemacht hat mit dem eigenen Leben, und das kriegt dann alles der arme Erzähler des "Leben"-Textes ab, der es schon schwer genug hat: In einer Nacht kommt er nach Hause, isst ein bisschen Apfelmus und spuckt dann Blut, weil in seiner Speiseröhre Krampfadern geplatzt sind. Er ruft einen Krankenwagen, berichtet dem Arzt von seiner Autoimmunhepatitis (heißt, das Immunsystem greift immerzu die Leber an) und kommt ins Krankenhaus.

Und da ist er dann, da bleibt er auch, bis auf wenige Unterbrechungen, und das ist die Welt, von welcher er erzählt. Schwestern, Ärzte, Mullbinden, MRTs, Sterbenskranke, Topfpflanzen, Drucke von Chagall an der Wand, Fiebermessen, Tablettenessen, Krankenhauslangeweile, Mundschutz, Röntgenschürzen, Krankengymnastik, und: "Auf dem Flur nicken wir Patienten uns zu. Wir sind einander morgenmantelbekannt. Ich sehe, was Patienten so am Leibe tragen. Es gibt Privatschlafanzug- und Krankenhausnachthemdträger."

In 277 Miniaturen wird von dieser weißen Welt erzählt, von einem Bettnachbarn, der seine Leber ruiniert hat, weil er im echten Leben als Kellner gearbeitet hat und überall umsonst trinken durfte, von einem libanesischem Fleischer, der sich vier Finger der rechten Hand abgeschnitten hat, und von einem anderen Fleischer, der gerne viel Fleisch gegessen und jetzt eine Fettleber hat. "Das Krankenhaus ist ein Geschichtenhaus, immer wieder neue Geschichten, jeder Patient bringt eine mit."

Das Krankenhaus, dieser Kasten, von dessen Innenleben nichts auf die Straßen, in die Geschäfte und Cafés gelangt, ist eine kleine Stadt in der Stadt mit eigenen Gesetzen. "Ich hatte schon zwei Bauchspeicheldrüsen - ich habe meine dritte Niere, meine erste Niere hielt zwei Jahre, die zweite einen Monat." Jeder will raus aus diesem Kasten, und die, die draußen sind, wollen nichts von Nieren und Bauchspeicheldrüsen wissen, diese Sachen sollen einfach funktionieren und nicht nerven, weswegen die Häuser, welche zum Erhalt von Organen und Menschen da sind, als Schauplatz einer Handlung, denkt man zunächst, ebenfalls total nerven.

Eine bescheuerte Drüse, die kaputtgeht, eine Gastroskopie - was daran soll denn bitte spannend werden? Was soll ein Mensch erzählen, der von morgens bis abends im Bett liegt und der genau das und seine Krankheit zum Thema macht? Vielleicht keine so tolle Idee, denkt man, den gemeinen Schuldengel mit den Vorwürfen im Nacken, und liest weiter. "Eine blaue Ecke Himmel oben im Fenster, ich rieche die Rosen auf dem Nachttisch und die frische, noch steife Bettwäsche, mir gefallen die eingewirkten blaßblauen Streifen." Der Blick in so einer immer gleichen Krankenwelt wird ein anderer, er legt sich auf Kleinigkeiten. Oder er geht nach innen und sucht in der Vergangenheit: Der Erzähler erinnert sich an die Frauen, die er geliebt hat, an Reisen und Lachen, weil man zu viel gekifft hat. Aha, er hat also mal richtig doll gelacht, als er gekifft hat, meine Güte. Und dann besucht einen wieder der gemeine Engel und sagt: "Du Illiteratin, auf solche kleinen Momente kommt es an im Leben, außerdem gilt Herr Wagner mit diesem Buch als einer der Favoriten für den Preis der Leipziger Buchmesse!"

Natürlich hat der Engel recht, wenn er sagt, dass es auf solche Momente ankommt, aber mir ist trotzdem langweilig. Der Erzähler denkt derweil an seine Tochter, "das Kind", wie er schreibt, und dass er für sie leben will. Und er erinnert sich an eine Wohnung, in der er mal wohnte und die kein Badezimmer hatte, weswegen er den Leuten, die ihn besuchten, erzählte, er gehe im Schwimmbad duschen, was eigentlich gar nicht mehr so richtig stimmte, aber die Leute gucken komisch, wenn einer sich nicht regelmäßig duscht. Soso, und warum soll ich das wissen? Solche Dinge möchte man doch eigentlich nur von jemandem erfahren, den man wirklich, wirklich mag, und nur dann. Andererseits ist die Sprache desjenigen, der da erzählt, so lieb und klar, so unschuldig und freundlich, dass man ihn, dem es auch noch so dreckig geht, beginnt vorsichtig zu mögen.

Seine Mutter ist gestorben, als er zwölf war. Und Rebecca ist auch gestorben, eine Freundin, an die er sich immer wieder mal erinnert. Einfach von einem Lieferwagen überfahren worden, hatte keinen besonderen Grund - und bei diesem gesammelten Lebensmist bleibt er, der da im Bett liegt und nicht weiß, ob er je wieder gesund wird, so vollkommen ruhig. Wird nie ausfallend, erzählt ganz langsam und präzise, das heißt "ohne Pathos", wie der Klappentext stolz verspricht, was doch bemerkenswert ist, denn: Ist es ein Wert an sich, "ohne Pathos" zu erzählen? Darf man nicht voller Pathos sein, wenn man todkrank ist? Und ist es nicht das Allerpathetischste, dann ganz ohne Pathos zu sein? Und wie vermessen ist der implizite Anspruch an einen halbtoten Erzähler, nicht so ein Drama daraus zu machen?

Das ist wie im Draußen, im echten Leben, wo die guten Kranken diejenigen sind, die ihre Krankheit tapfer tragen und anderen damit nicht zu sehr auf die Nerven gehen, denn man hat einfach nicht genug Platz und Zeit für das Gefühl, welches es brauchte, um wirklich an kranke Menschen zu denken und sie irgendwie in den gesunden Tagen der Außenwelt vorkommen zu lassen. Vielleicht ist deswegen die leise, reduzierte Sprache der einzig mögliche, der gewissermaßen gesellschaftsfähige Ton. Oder das Lachen über den Tod, was natürlich traurig ist, aber der Tod ist ja auch etwas Trauriges. David Wagner hat dafür eine Super-Methode entwickelt, für die man ihn beim Lesen absolut und uneingeschränkt toll findet. Kurz bevor der Erzähler den Anruf erhält, dass es für ihn eine passende Spenderleber gibt, wird die reflektierende Miniaturenfolge unterbrochen. Es folgt eine kommentarlose Auflistung kurioser Todesfälle, die er Zeitungsmeldungen entnommen und zusammenmontiert hat: "Der Schafsbock: Einer 29 Jahre alten Frau aus Simbach / fiel bei einem Spaziergang durch die Stadt Braunau / ein tags zuvor ausgerissener / in Panik vor einen nahenden Zug / von einer Eisenbahnbrücke springender Schafsbock / auf den Kopf / die Frau / kam mit Prellungen und Blutergüssen / ins Krankenhaus / wo sie / (Mutter zweier Kinder) / am Samstagabend / überraschend verstarb." Das ist traurig und sehr, sehr komisch, andere Todesarten sind nur traurig, wieder andere grausam, bizarr, banal, total unnötig.

Der Erzähler selbst überlegt, wie wohl der Spender zu Tode kommen wird, welcher ihm zu einer gesunden Leber verhelfen wird. "Möchte ich, daß du stirbst? Nein, ich möchte nicht, daß du, wo auch immer du dich aufhältst, überfahren wirst." Und wenig später, als ein Spender gefunden wurde und er dessen Leber bereits in sich trägt: "Und wie war deine Beerdigung? So lange kann die doch noch nicht her sein. Tut mir leid, daß ich nicht da war." Das ist ziemlich süß. Der Erzähler fragt sich, wer ihm die Leber geschenkt hat, immer wieder, und findet, er müsse dankbar sein, "wie es dankbarer nicht geht". Da ist das Buch dann fast zu Ende, und man hat den gemeinen Engel zum Schweigen gebracht, das heißt: Man freut sich seiner Gesundheit, liest brav weiter, bis das Buch fertig ist, und ist dankbar - und vielleicht passiert damit irgendetwas, was passieren soll, denn das Buch ist, wie sich am Ende herausstellt, ein Dankbarkeitsbuch, nämlich ein Brief an den toten Menschen, dem die Leber gehört, welche jetzt in dem Erzähler lebt, dem man alles, alles Gute wünscht, obwohl man nicht so richtig weiß, warum man ihm so lange gefolgt ist.

ANTONIA BAUM

David Wagner: "Leben". Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 Euro

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Große, berührende Literatur. Und ein Plädoyer für das Leben, das seinen Sinn im Lachen eines kleinen Mädchens haben kann. Spiegel Online