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Plessners Grenz-Schrift galt seit 1924 als Geheimtip. Entlang einer für deutsche Verhältnisse seltenen Limitierung von Gemeinschaftsutopien sucht sie durch die Denkfigur einer »Sehnsucht nach den Masken« ein »Gesellschaftsethos« zu begründen, das sich in den Kernkategorien »Distanz«. »Spiele, »Zeremonie und Prestige«, »Diplomatie und Takt« verdichtet. Wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 zur Emigration gezwungen. entging Plessner in den Niederlanden während des Krieges nur knapp dem Zugriff der Gestapo. Nach 1945 spielte er als Remigrant neben Adorno, Horkheimer, Löwith und René König eine…mehr

Produktbeschreibung
Plessners Grenz-Schrift galt seit 1924 als Geheimtip. Entlang einer für deutsche Verhältnisse seltenen Limitierung von Gemeinschaftsutopien sucht sie durch die Denkfigur einer »Sehnsucht nach den Masken« ein »Gesellschaftsethos« zu begründen, das sich in den Kernkategorien »Distanz«. »Spiele, »Zeremonie und Prestige«, »Diplomatie und Takt« verdichtet. Wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 zur Emigration gezwungen. entging Plessner in den Niederlanden während des Krieges nur knapp dem Zugriff der Gestapo. Nach 1945 spielte er als Remigrant neben Adorno, Horkheimer, Löwith und René König eine bedeutende Rolle in der intellektuellen Konsolidierung der bundesrepublikanischen öffentlichkeit.
Autorenporträt
Helmuth Plessner (1892-1985) war ein deutscher Philosoph und Soziologe sowie Hauptvertreter der philosophischen Anthropologie. Sein Werk liegt im Suhrkamp Verlag vor. Helmuth Plessner (1892-1985) war ein deutscher Philosoph und Soziologe sowie Hauptvertreter der philosophischen Anthropologie. Sein Werk liegt im Suhrkamp Verlag vor.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2024

Wir Stachelschweine

Vor einhundert Jahren erschien mit Helmuth Plessners "Grenzen der Gemeinschaft" eine Eloge auf Distanz, Diplomatie und Takt. Aber die Schrift ist ambivalenter, als viele Würdigungen zu sehen bereit waren.

Von Miguel de la Riva

Wir sind auf die anderen angewiesen und müssen darum ihre Nähe suchen. Zugleich machen uns die Mitmenschen das Leben zur Hölle, weswegen wir Abstand von ihnen brauchen. Für diesen Grundwiderspruch des Zusammenlebens hat Arthur Schopenhauer in seinen "Parerga und Paralipomena" 1851 das Gleichnis der Stachelschweine geprägt: "Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von einander entfernte." Zwischen beiden Leiden wurden sie hin- und hergeworfen, "bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten".

Zu seiner Parabel liefert Schopenhauer sogleich die Deutung. Die "mittlere Entfernung [...], bei welcher ein Beisammenseyn bestehen kann" entspreche im Zusammenleben der Menschen der "Höflichkeit und feinen Sitte". In dieser Form würde "zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden" - also die "vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler" der Menschen, die Schopenhauer schonungslos schildert.

Wohl niemand hat die gesuchte Balance von Nähe und Distanz genauer ausgemessen als der Philosoph Helmuth Plessner in seinen vor einhundert Jahren erschienenen "Grenzen der Gemeinschaft." Das 120 Seiten kurze Werk liest sich wie eine Eloge auf die "Spielformen, mit denen sich Menschen nahekommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen". Obwohl der Essay bei seinem Erscheinen 1924 einige Beachtung erfuhr - so würdigte ihn etwa Siegfried Kracauer mit einer Besprechung in der "Frankfurter Zeitung" -, bleibt er bis heute ein Klassiker der zweiten Reihe. Das hat auch die intensive Rezeption zu Beginn der Neunzigerjahre nur vorübergehend ändern können, etwa in Helmut Lethens "Verhaltenslehren der Kälte" von 1994, der bis heute maßgeblichen Relektüre.

Während bei Schopenhauer das Bedürfnis nach Gesellschaft aus der "Leere und Monotonie des eigenen Innern" entspringt und dementsprechend jene, die aus reicherem Innenleben "viel eigene, innere Wärme" beziehen können, der Gesellschaft lieber fernbleiben, ist sie bei Plessner unentrinnbares Schicksal: "Jemand ist nur etwas in der möglichen Anerkennung durch andere." Das begründet Plessner mit einer tiefen Zweideutigkeit des Seelenlebens, das ebenso nach Ausdruck und Geltung wie nach Verhüllung und Schamhaftigkeit drängt. Wir verlangen danach, in unserer Besonderheit gesehen zu werden, ohne dadurch in das Korsett eines von anderen über uns geformten Bildes gezwungen zu werden.

So besteht auch bei Plessner eine Spannung zwischen der Wärme des Verstandenwerdens und den Stacheln entwürdigender, weil unsere Freiheit negierender Zuschreibungen. In gewissem Sinne ist dabei auch bei ihm die "mäßige Entfernung" zwischen beiden die "Höflichkeit und feine Sitte". Denn die Unergründlichkeit des Seelenlebens finde ihren adäquaten Ausdruck in den distanzierten Formen des gesellschaftlichen Verkehrs, in denen sich die Menschen in der Maskierung ausgeübter Rollen und vertretener Ämter begegnen. Diese verhüllen die Person, lassen aber eben dadurch zugleich erkennen, dass unter diesen Formen Möglichkeiten des Andersseins schlummern: "In nichts kann der Mensch seine Freiheit reiner beweisen als in der Distanz zu sich selbst." Die Natur des Menschen findet ihren eigentlichen Ausdruck daher gerade in der Künstlichkeit - eine Einsicht, die Plessner in seinem Hauptwerk "Die Stufen des Organischen" von 1928 mit seinem Begriff der "exzentrischen Positionalität" weiter entfalten wird.

Mit seinem angriffslustigen Essay, der am eigenen Beispiel das von ihm beschworene Ethos der Grazie und des virtuos beherrschten Spiels veranschaulicht, stellt sich Plessner gegen langstehende Denktraditionen. Im Zeichen der Abwertung bloß äußerlicher "Zivilisation" gegenüber aus tiefem Wesen empfundener "Kultur" stehen "Höflichkeit und feine Sitte" hierzulande unter dem Verdacht der Verstellung und Unaufrichtigkeit. Damit zusammenhängend gilt ein allein auf geteilten Interessen, geschlossenen Verträgen und gesetztem Recht beruhendes Zusammenleben als entfremdete Form von Sozialität. Dieser Sichtweise gab Ferdinand Tönnies mit "Gemeinschaft und Gesellschaft" entscheidende Stichworte, der ersten sich selbst der "Soziologie" zurechnenden Schrift deutscher Sprache. 1887 erschienen, erlebte das Buch in der Weimarer Republik viele Neuauflagen und wurde ein wichtiger Bezugspunkt von Plessners "Kritik des sozialen Radikalismus", als die sein Essay untertitelt ist.

Während Tönnies "Gemeinschaft" als das "dauernde und echte Zusammenleben", als "lebendigen Organismus" bestimmt, wie ihn etwa die Dorfgemeinschaft verkörpere, sieht er in "Gesellschaft" - etwa der Großstadt - nur ein "vorübergehendes und scheinbares", "ein mechanisches Aggregat und Artefact". Wo nicht wie im gemeinschaftlichen Verbund "Eintracht, Sitte und Religion" herrschen, wo "kein gemeinsames Verständnis obwaltet, kein Brauch, kein Glaube verbindet", da verharrten die Einzelnen in "Isolation und verhüllter Feindseligkeit, so daß sie nur aus Furcht oder aus Klugheit sich der Angriffe gegeneinander enthalten". Der "Zustand der gesellschaftlichen Zivilisation" gleiche einem notdürftig pazifizierten "Zustand des Krieges".

Obzwar Tönnies kein Feind der modernen Gesellschaft war und nie völkischer Ideologie anhing, entwickelte sich seine nicht nur implizite Wertschätzung von Gemeinschaft bald zu einem beliebten Topos der Kulturkritik. Dass sich die Beschwörungen einer urwüchsig-unmittelbaren Verbundenheit dabei nicht auf völkische Pamphlete beschränkte, zeigen etwa Passagen bei Max Scheler, der Plessner 1919 an die gerade wiederbegründete Universität zu Köln holte, die sich zu einem Zentrum von Soziologie und Sozialphilosophie der Zeit entwickelte. In seiner Schrift "Das Ressentiment im Aufbau der Moralen" von 1912 beschreibt Scheler "Gesellschaft" als bloßen "Rest", gar als "Abfall", "der sich bei den inneren Zersetzungsprozessen der Gemeinschaft" ergibt. Anstelle einer auf "Blut, Tradition, Geschichtlichkeit" geeinten Lebensgemeinschaft trete mit ihr eine "willkürliche, künstliche, auf Versprechen und Vertrag beruhende Menschenverknüpfung", die noch zur "unorganisierten Masse" zu degenerieren droht, sobald die fraglichen Verträge nicht mehr gelten.

Erst vor diesem Hintergrund wird die Originalität von Plessners Schrift deutlich: "Grenzen der Gemeinschaft" ist eines der wenigen Zeugnisse einer schon damals einsetzenden Kritik an den Ressentiments gegen die moderne Gesellschaft. Im Kontext der Weimarer Republik wendet sich Plessner mit seiner Kritik an der Gemeinschaft als "Idol des Zeitalters" gegen Strömungen wie die Jugendbewegung, in deren Bann er selbst lange stand, völkischen Nationalismus oder "nationalistischen Kommunismus". Werk und Autor hat das den Ruf einer Ausnahmeerscheinung in der Gewaltgeschichte des deutschen Geistes eingebracht: "Man möchte in seiner Grenz-Schrift eines der seltenen zivilisationsfreundlichen und zivilen Dokumente der deutschen Kulturgeschichte begrüßen", schreibt Lethen in "Verhaltenslehren der Kälte".

Das heißt jedoch nicht, Plessner wäre als Anwalt gesellschaftlicher Modernisierung zu verstehen, der das Absterben traditionaler Sozialformen zelebriert. Wir treffen in seiner Schrift auf kein bürgerlich-liberales Sozialethos. Die Apologie von Maske und Mittelbarkeit, von Distanz und Diplomatie wird vielmehr ihrerseits von Motiven der Zivilisationskritik und politischen Romantik angetrieben. Wie hier dargestellt, gelten Plessner gesellschaftliche Verkehrsformen vor allem als adäquater Ausdruck von Innerlichkeit und Seelenleben, nur in zweiter Linie als Mittel gütlichen Miteinanderauskommens. Völkischen wie proletarischen Spielarten von Radikalismus und Revolutionssehnsucht wirft er vor, keine Achtung vor Leben und Leiblichkeit des Menschen, vor "Tradition" und der "Weisheit des Verborgenen" zu haben. Die "pharisäische Pathetik der unbedingten Echtheit im Ausdruck" gilt ihm als Symptom der "Geisteshaltung des gehetzten und nichts so sehr als die Unwesentlichkeit verachtenden Maschinenmenschen", also moderner Sozialfiguren.

Das ist insoweit kein Widerspruch, als Plessner Gemeinschaft und Gesellschaft nicht gegeneinander ausspielen will: "In jeder Sozialbeziehung wartet die eine, wenn noch die andere gilt, auf ihre Erweckung." Die Kritik ihrer Überhöhungen macht erst den Blick für jene Bereiche frei, in denen gemeinschaftliche Lebensformen in der modernen Gesellschaft legitimerweise fortbestehen. Das Aufzeigen ihrer Grenzen, der Nachweis, dass die "Rückhaltlosigkeit des gegeneinander Geöffnetseins" nicht zum Prinzip des Zusammenlebens überhaupt taugt, verhilft Gemeinschaft als "primärer Einbettungszone" des Menschen erst zu ihrem Recht. So erkennt Plessner das Bedürfnis an, "etwas zu haben, worin man untertauchen, aufgehen, auftauen, warm werden kann, was dem Resonanzverlangen unserer Person Befriedigung gewährt". Gesellschaft und Öffentlichkeit, so sehr er sie als "Realisierungsmodus des Menschen" nobilitiert, beschreibt auch er als Sphäre und Feindseligkeit, ja als solche des "Kampfs aller gegen alle".

Plessner steht somit fest in jener Tradition, gegen die er sich wendet. Auch wenn er der Sehnsucht nach ursprünglicheren Formen des Zusammenlebens eine Absage erteilt, ist seine Beschreibung von "Gesellschaft" von jener Tönnies' oder Schelers kaum zu unterscheiden. Er arbeitet die Freiheitsgrade von Distanz und Artifizialität heraus, begrüßt aber nicht so vorbehaltlos wie sein Zeitgenosse Norbert Elias einen voranschreitenden Zivilisationsprozess. Die Eloge auf das Verhaltensrepertoire der Gesellschaft steht bei Plessner nicht im Kontext einer Erwartung zunehmender Hemmung von Affekt- und Gewaltäußerungen, sondern eines Pathos der "Unangreifbarkeit" und "Selbstbehauptung", der Wahrung einer eher an Aristokratismus denn an die Gleichheit der Menschen gemahnenden "Würde" sowie wahrer, über alles Durchschnittliche triumphierender Größe.

So kann nicht überraschen, dass die Schrift affirmativ an Motive nietzscheanischer Kraftmeierei anknüpft und einem hartgesottenen Realismus der Gewalt als unaufhebbarer Dimension des Menschlichen das Wort redet. Seinem Motto - "You must give the devil his due" - macht das Buch alle Ehre. Die Vorstellung eines gewaltfreien Zusammenlebens sieht Plessner als "Utopie", ridikülisiert sie gar als "Sentimentalisierung". Auch wenn der gesellschaftliche Umgang bei Plessner zur "Vergeistigung und Verfeinerung der Gewaltmittel" führt, erscheint er letztlich als Austragungsform kaum verhüllter Feindschaft und notdürftig pazifizierten Kampfes. Mit der Diplomatie lobt Plessner eine strategisch-taktische Geschicklichkeit, die auch die Mittel von "Drohung" und "List" ins Spiel setzt; die Übereinkünfte, die sie hervorbringt, sind nicht Ausdruck von erzieltem Konsens und wechselseitigem Verständnis, sondern stets reversible Resultante jeweiliger Macht- und Kraftverhältnisse. Darum führt Diplomatie zu keiner Milderung der "Härte der Lebensgegensätze"; als ihren vorbildlichen Meister nennt die Schrift wiederholt Bismarck.

Dass die "Grenzen der Gemeinschaft" kaum auf jenes in der deutschen Tradition entbehrte Bekenntnis zur Zivilisation festzulegen sind, das spätere Würdigungen in ihnen sahen, lässt auch weniger rätselhaft erscheinen, wie Plessner in seinen Schriften dieser Zeit offenkundig mit Ideen Carl Schmitts sympathisieren kann, etwa in "Macht und menschliche Natur" von 1931. Auch wenn der "aristokratisch geprägte Liberalismus" (Axel Honneth über Plessner) des Frühwerks von 1924 ambivalenter erscheint, als häufig zugestanden wurde - rückblickend befand der von den Nationalsozialisten vertriebene und nach Deutschland zurückgekehrte Plessner, er habe den Teufel bisweilen besser wegkommen lassen, "als selbst er es verdient" hat -, behält die Schrift als Versuch Bedeutung, sich zu einem nicht mehr allein auf Abstammung, Tradition und Schicksal beruhendem Zusammenleben zu bekennen, ohne dadurch Bedürfnisse nach gemeinschaftlicher Verbindung abzuweisen. Das könnte heute ein attraktives Inspirationsangebot für einen Konservatismus sein, dem es immer schwerer zu fallen scheint, Bedürfnisse nach der Wärme heimatlicher Verwurzelung und Identität zu bedienen, ohne dadurch Ressentiments gegen ein Zusammenleben in Liberalität und Vielfalt zu bewirtschaften, das nicht ohne Kälte zu haben ist.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nicht mehr und nicht weniger als "einer der kraftvollsten Texte der theoretischen Literatur des 20. Jahrhunderts" ist dieses vor achtzig Jahren erschienene, nun endlich an prominenter Stelle neu veröffentlichte Buch, meint Ulrich Raulff. Die Bedeutung des Buches sieht er darin, dass man nach der Lektüre die Gesellschaft ganz neu sehen wird, "mit einem kalten, klaren Blick". Der Text wurde bei seinem Erscheinen viel diskutiert, dann aber völlig vergessen, erst Anfang der achtziger Jahre setzte eine Renaissance ein. Erst nach dem Ende der, so Raulff, "ideologischen Kapellen und Glaubensgemeinschaften" hatte man für den polemischen Essay wieder ein Ohr für die Kühle, mit der Plessner, der studierte Zoologe, den Menschen beobachtete. Seine Hauptthese war die vom Trieb des Menschen zur Distanznahme, zur Künstlichkeit, zu Masken und Spiel. Und der Rezensent hält es für kein geringes Verdienst, dass dieses Buch "bis heute quer" steht nicht nur zu den Texten seines Entstehungsumfelds, sondern auch zu den gegenwärtigen Diskursen.

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