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Menschliches Handeln immer wieder zu reflektieren und zu entwerfen, ist Aufgabe der Ethik. Die Philosophie kommt in der Ethik gewissermaßen zu sich selbst - sie wird praktische Philosophie. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein greift Robert Spaemann die aktuellen Herausforderungen und Fragen auf, wie z.B.
· die atomare Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, · die Atomenergie, den 218, · das Euthanasie-Problem, · Auseinandersetzungen um den Sozialstaat, · die Gentechnik, · den Kosovo-Krieg, · die Thesen Peter Singers über Menschen und Tiere oder · die Thesen von Peter Sloterdijk zu einer
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Produktbeschreibung
Menschliches Handeln immer wieder zu reflektieren und zu entwerfen, ist Aufgabe der Ethik. Die Philosophie kommt in der Ethik gewissermaßen zu sich selbst - sie wird praktische Philosophie. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein greift Robert Spaemann die aktuellen Herausforderungen und Fragen auf, wie z.B.

· die atomare Wiederbewaffnung der Bundesrepublik,
· die Atomenergie, den
218,
· das Euthanasie-Problem,
· Auseinandersetzungen um den Sozialstaat,
· die Gentechnik,
· den Kosovo-Krieg,
· die Thesen Peter Singers über Menschen und Tiere oder
· die Thesen von Peter Sloterdijk zu einer Anthropotechnik u.a.m.

Der Autor reflektiert diese zeitgebundenen Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund elementarer philosophischer Einsichten. Deren Besonderheit ist es, weniger zeitgebunden zu sein, wodurch es möglich wird, praktische Orientierungen in einer hochkomplexen Welt zu vermitteln.

Robert Spaemann unterstreicht in allen seinen Aufsätzendie Endlichkeit des menschlichen Daseins und seiner natürlichen Bedingungen. Daraus folgt eine konsequente Absage an alle gängigen Utopien und die Kritik des Konsequentialismus, der Ethik als universale Optimierungsstrategie versteht. Schließlich wird herausgestellt, daß der Begriff "Natur des Menschen" für das menschliche Handeln unverzichtbar ist.
Autorenporträt
Robert Spaemann wurde 1927 in Berlin geboren. Er promovierte 1952 in Münster, war dann vier Jahre lang als Verlagslektor tätig. 1962 habilitierte er in den Fächern Philosophie und Pädagogik und war bis 1992 ordentlicher Professor an den Universitäten Stuttgart, Heidelberg und München.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.05.2001

Tu Du das Rechte nur
Der letzte Grüne – Robert Spaemanns kleine Schriften bieten philosophische Fundamentalopposition
1964 beendete Robert Spaemann seine Stuttgarter Antrittsvorlesung mit einer Diagnose aus den dreißiger Jahren, von Karl Mannheim: „Je mehr die moderne Massengesellschaft funktionell durchrationalisiert wird, umso mehr tendiert sie dazu, die substantielle Moral zu neutralisieren oder sie auf das Nebengeleise des ,Privaten‘ zu schieben.” Im vorliegenden Sammelband seiner kleinen politischen Schriften beurteilt Spaemann alle Positionen in Philosophie, Politik, Moral danach, auf welcher Seite dieser Alternative sie stehen: Befördern sie die Unterordnung menschlichen Lebens (der Bedingung guten Lebens, aber auch jeder Gerechtigkeitsidee) unter den Selbstlauf funktionaler Rationalisierungen, Kalküle und Apparaturen? Oder verteidigen sie eine substantielle Moral menschlicher Existenz?
Adorno und Horkheimer hatten in den vierziger Jahren die Alternative ähnlich beschrieben, freilich als Aporie. Es schien ihnen bereits unmöglich, wider die „Verwaltung der Welt” noch substantielle Vernunft geltend zu machen. Ihre Nachkommen, allen voran Jürgen Habermas, haben jede Orientierung an einer aus traditionellen Metaphysiken gespeisten substantiellen Moral zugunsten hochgradig konstruktiver Verfahren kommunikativer Ethik und deliberativer Demokratie preisgegeben. Schon deshalb mag Spaemann in der Diskursethik keinen relevanten Beitrag im Kampf gegen die funktionalistische Vernunft (an)erkennen. Er ist der einzige bedeutende deutsche Philosoph der Gegenwart, für den die negative Zukunftsvision einer dehumanisierten „verwalteten Welt” (Horkheimer) noch direkt – ethisch wie politisch – relevant ist.
Wer Spaemanns gesammelten Interventionen der letzten vierzig Jahre nachliest, lernt einen erstaunlich gradlinigen Denker kennen. In einem Zeitraum, in dem andere fünf oder sechs Paradigmenwechsel durchgemacht haben, ist sich Spaemann treu geblieben. Was er heute gegen Sloterdijks „Biopolitik” einzuwenden hat, schrieb er schon in den siebziger Jahren in den Scheidewegen; und sein Einspruch gegen den Kosovo-Krieg folgt aus derselben scholastischen Lehre vom „gerechten Krieg”, die ihn 1960 gemeinsam mit Ernst-Wolfgang Böckenförde eine vernichtende Attacke wider die katholischen Verteidiger der atomaren Aufrüstung verfassen ließ, allen voran Papstberater Pater Gundlach.
Dein Wort sei Ja, Ja – oder Nein, Nein. Spaemann sagt Nein. Nein zur Atombewaffnung in den fünfziger und zum Einsatz deutscher Flugzeuge gegen Serbien in den neunziger Jahren. Nein zur Todesstrafe, Nein zur Euthanasie, Nein zur pränatalen Selektion lebenswerten Lebens und Nein zur de-facto- Legalisierung der Abtreibung (inklusive der „Schein”-Lösung der deutschen Bischofskonferenz). Nein zu Wirtschaftsleuten, die den heiligen Sonntag zur Disposition stellen und Nein zu Theologen, die die irreduziblen Wahrheitsansprüche der Weltreligionen für ein friedenstaugliches „Projekt Weltethos” funktionalisieren wollen.
Das schreibt einer der wenigen verbliebenen authentisch philosophischen Gegner der herrschenden (und regierenden) Kultur sozialer Modernisierung, welche nun auch in Deutschland den technokratischen Zugriff auf die Grenzen des Lebens normalisieren will. Und sollte die heute vom Bundeskulturminister trefflich verkörperte sozial-utilitaristische neue Leitkultur der Steuerung und Verwertung der Lebenswissenschaften nun auch im Votum eines beim Chef der Exekutive verorteten „nationalen Ethikrats” legitimiert werden – pikanterweise mit dem Placet der Grünen –, wäre dies nur eine weitere Bestätigung für Spaemanns grimmige Prophetie.
Gäbe es sie noch, die schwarz-grüne Option – nicht als lokales Koalitionsgeplänkel, sondern als modernisierungsskeptische Alternative –, dann wäre Spaemann ihr Prophet: als Philosoph einer (mehr als) politischen Ökologie, die sich eben nicht ausrichtete an (wie immer demokratisch eruierten) sozialen Interessen allein, sondern um einen Eigenwert der Natur als „Schöpfung” weiß, deren Telos nicht mit menschlichen Perspektiven identifiziert werden darf.
Denn auch im Bewahren natürlicher Lebenszusammenhänge, welche den Menschen übergreifen, wird Menschlichkeit bewahrt: Wenn wir uns zu ihnen nicht allein instrumentell oder funktional verhalten, tun wir dies ja im Wissen darum, dass der Mensch selber „Natur” ist – und dass es zugleich seine Natur ist, sich unendlich selbst zu übersteigen. Und, so Spaemann, nur in diesem Wissen werden wir unbedingte Grenzen des Menschlichen respektieren: Diese Grenzen in den modernen Biowissenschaften „nach oben”, hin zur Menschenplanung überschreiten zu wollen (Ihr werdet sein wie Gott), bedeutet zwangsläufig einen Abfall „nach unten”, in eine nur noch diskursiv oder technisch rationalisierte Animalität sozialer Nutzenkalküle.
Natur wird nie wertfrei
Seit Jahrzehnten ficht Spaemann für einen normativen Naturbegriff, der Rückschlüsse vom Sein aufs Sollen – von der Natur der Sache auf bestimmte moralische Forderungen – nicht nur zulässt, sondern geradezu fordert. Denn die Natur (der Welt, des Menschen) lässt sich für Spaemann nicht wahrhaft „wertfrei” beschreiben: Ihr Sein impliziert immer ein objektives „Um- willen”, welches Spaemann letztlich im Transzendenten verankert sieht. Umgekehrt: Hat man Natur einmal als bloßes Faktum verstanden, ist sie eo ipso bereits zur Zuhandenheit degradiert und, als „Material”, Objekt beliebiger technischer Manipulationen. Der Widerlegung der klassischen Gegner dieser Auffassung – verschiedenen Varianten des angelsächsischen Utilitarismus – gelten die moralphilosophischen Aufsätze im ersten Teil des Buches. Und der deutsche Antipode Spaemanns ist natürlich nicht Habermas, dessen Diskursethik er wie gesagt für nicht sonderlich seriös hält – sondern Niklas Luhmann, der „Hegel” des soziologischen Funktionalismus. Schade, dass seine Laudatio auf Luhmann (zu dessen Hegelpreis 1989) in diesem Band fehlt.
Es ist zwar für Spaemann kein Widerspruch, dass auch objektive Teleologie, welche einen von Gott gesetzten Eigenwert (oder Letztzweck) der Schöpfung behauptet, subjektiv entschieden, also von Menschen ergriffen werden muss. Doch ein philosophisches Plausibilitätsproblem ergibt sich für solche „Oikeiosis” – für die Einhausung subjektiver Empfindungen, Urteile und Entscheidungen in einen objektiven Sinnzusammenhang – unter den Bedingungen der Moderne wohl. Moralphilosophie besteht für Spaemann bestenfalls in gelungenen „Derivationen” oder Rationalisierungen für vorrationale „Residuen” (Vilfredo Pareto): das sind die fraglosen Intuitionen, in denen die moralischen Routinen, Maßstäbe, Ideale einer Kultur verankert sind. Ohne solche moralische Intuitionen bieten alle diskursiven Derivationen keinerlei Gewähr wider fundamentales Unrecht. Noch zu Hitler fiel seinen intellektuellen Mitläufern stets etwas ein.
Darum streitet Spaemann für normativ befestigte Normalität, an die auch die Expertenkulturen durch ständisches oder Berufsethos zurückgebunden bleiben müssen: Zur Nazi-Zeit waren widerständige Mediziner daran erkennbar, dass sie im Sprechzimmer den Eid des Hippokrates sichtbar ausgehängt hatten – das Selbstverständliche als Selbstverpflichtung. Bestimmte Tabus dürfen einfach niemals zur Disposition stehen. Das gilt für die Tötungshemmung gegenüber Wehrlosen (Kleinkindern, Behinderten, Moribunden) oder das Verbot wissenschaftlich-technischer „Menschenproduktion” (Manipulationen an, Experimentationen mit, Reproduktion von menschlicher Erbsubstanz): „Die fundamentale Gleichheit der Menschen wäre bedroht, wenn die einen die Planer der anderen wären.”
Was aber, wenn dieser humanistische Common sense überhaupt nicht mehr besteht, wenn das sittlich „Natürliche” nur noch als Konvention begriffen wird? 1968 berief sich Spaemann noch auf den Begründer des modernen Rationalismus: Der gute Katholik René Descartes bemühte für die praktische Gewissheit von Existenzentscheidungen die certitudo moralis des Gewissens als „morale par provision”, gerade nicht die unabschließbare Wissenschaft.
1989 fällt Spaemanns Antwort auf Luhmann zugleich offener, skeptisch, und entschieden aus: „Was (die Unabschließbarkeit der soziologischen Aufklärung) für die Philosophie bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Überholt werden kann sie nur dann, wenn sie sich auf den Gedanken des Überholens selbst einläßt, d.h. wenn sie die Modernität, statt sie zu thematisieren, als selbstverständliches Kriterium akzeptiert. Das muß sie nicht.” Dass Spaemanns Bilanz zum Gros der Gegenwartsphilosophie recht düster ausfällt, lässt die Lektüre dennoch nicht zum Trauerspiel werden. Eine eigenartige Heiterkeit durchweht einen Großteil seiner Artikel. Sein Urteil mag pessimistisch sein, aber der Autor ist nicht gequält. Es gibt wenig gute Polemiker in der deutschen Philosophie, Spaemann ist einer davon. Am Gefecht findet er Gefallen, wenn der Gegner es lohnt (was etwa für Peter Sloterdijk nicht gilt).
Manchmal hat Jeremias Humor. Seine Pflicht hat er getan, jetzt ist er – gut katholisch – mit sich im Reinen. Für den Weltlauf und maximale Grenznutzensummen nicht verantwortbar zu machen, verweist der Prophet den Arzt aufs Standesethos und den Philosophen auf Goethe: „Tu Du das Rechte nur in Deinen Sachen. Das andere wird sich von selber machen.”
OTTO KALLSCHEUER
ROBERT SPAEMANN: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2001. 560Seiten, 68,50Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Ich bremse mich nicht für Nagetiere
Robert Spaemanns abwendungsorientierte Reflexionen / Von Friedrich Wilhelm Graf

Seit vierzig Jahren markiert Robert Spaemann Grenzen. Der Philosoph wehrt den "Anschlag auf den Sonntag" ab und verurteilt den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo. Er bekämpft die "Seuche der Abtreibung", verteidigt das "Euthanasie"-Tabu und macht gegen Küngs "Weltethos" Front. Im Sammelsurium der Texte und Themen wird Spaemanns Selbstverständnis hervorragend sichtbar. Der "Spezialist für geistiges Krisenmanagement" will "Orientierungswissen" vermitteln. Im Kampf gegen die Erosion überlieferter Moral setzt Spaemann, wie einst Bonald und de Maistre, auf die römisch-katholische Kirche. "Die Kirche" sei der letzte Hort eines abendländischen, durch "Athen und Jerusalem" repräsentierten Ethos. Sie lehre keine klerikale Spezialmoral, sondern vertrete die allgemeingültige humane Sittlichkeit. Der intellektuelle Reiz von Spaemanns Essays liegt im Wahrheitspathos, mit dem er die römisch-katholische Lehre als unbedingt gültiges, einzig menschengemäßes Ethos behauptet.

Mit Max Scheler betont Spaemann die kulturellen Kontexte ethischer Reflexion. "Wo es um das Thema der Lebenspraxis geht, spielen Unterschiede der Herkunft, der Sozialisation, der Biographien, der Religion, des Charakters und des Lebensalters der Gesprächsteilnehmer eine Rolle." Gern erwähnt Spaemann Lebensgeschichtliches. Im intakten Kirchenmilieu lernte der Gymnasiast die Nationalsozialisten zu hassen. Einer Reeducation bedurfte er 1945 nicht. Sein religiöser Glaube sensibilisierte ihn für Ambivalenzen der Moderne. Häufig zitiert Spaemann die "Dialektik der Aufklärung". Die Kritik sich selbst verabsolutierender Zweckrationalität bildet einen Angelpunkt seines Denkens. Mit großer gedanklicher Konsequenz greift der Ritter-Schüler klassische Topoi konservativer Zivilisationskritik auf. Liberale verachtet er, weil diese spätbürgerlichen Individualisten nur eine relativistische "Soft-Phraseologie" verkünden. Gegen den globalen Kapitalismus empfiehlt Spaemann Verzicht und Askese. Der Hedonismus konsumgeiler Egomanen widert ihn an. In seinem Zivilisationsekel gebraucht er harte Worte. Den vielen Funktionalisten unter den Sozialwissenschaftlern, die alles in Gebrauchswert und Nutzenkalkül auflösen, wirft er die Vertierung des Menschen zum angepaßten Trendsetter vor. "Man denkt klein vom Menschen, man ist eine sich systemkonform amüsierende Ratte - beyond freedom and dignity."

Moderne Wissenschaft führt Spaemann auf ein einziges Prinzip zurück. Seit Descartes hätten die Wissenschaften ihre Gegenstände radikal auf bloße Gegenständlichkeit reduziert. Jede Ähnlichkeit zwischen res extensa und res cogitans werde geleugnet. So habe man zunehmend auch den Menschen als Naturwesen verobjektiviert. Szientifischer Machbarkeitsglaube rechtfertige sich sozialutilitaristisch: Man vergegenständliche den Menschen, um das subjektive Wohlbefinden möglichst vieler zu steigern. Die Optimierungsstrategien der Wissenschaftler lieferten uns nur der "Dialektik der Naturbeherrschung" aus: Die intendierte Emanzipation von der gegebenen Natur stärke die Tendenz, sich als triebgeleitetes Naturwesen zu begreifen. "Die Emanzipation des Geistes von der natürlichen Gestalt des Menschen, dieser neue Spiritualismus ist die heimtückischste Form des Naturalismus." Spaemann will "den modernen Wissenschaften" ein ganzheitliches Bild des Menschen entgegensetzen, das an der conditio humana, unserer Endlichkeit und unseren natürlichen Grenzen, orientiert ist. "Die sittliche Vernunft" stehe im kontradiktorischen Gegensatz zu allen szientifischen Selbstverbesserungsphantasien des Menschen.

Doch was ist "die sittliche Vernunft"? Sein Konzept des Ethischen entfaltet Spaemann zunächst durch Polemik. Gern zieht der deutsche Seinsdenker in den Kulturkrieg gegen konsequentialistische Tommies. Sie erhalten Nachhilfeunterricht bei Aristoteles und Thomas. Leider haben die Briten im Weltbürgerkrieg ums wahre Ethos in katholischen Moraltheologen Verbündete gefunden. Der Philosoph belehrt diese, vom Christentum nichts verstanden zu haben. Als Gegner bleiben dann noch einige Weberianer übrig, die das Sittliche durch toten Formalismus aushöhlen, und die Funktionäre von Ethikkommissionen. In ihnen sieht Spaemann nur amoralische Handlanger von Industrie und Wissenschaftssystem. ",Angewandte Ethiker' sind nützlich, weil sie gegenüber technischer Betriebsblindheit an Akzeptanzkriterien erinnern und so Akzeptanz für das sichern, was auf die Länge ohnehin geschieht. Sie helfen, das Tempo von Veränderungen sozialverträglich zu regulieren." Mehrfach rückt Spaemann die applied ethicists in die Nähe Lenins. Hier wie dort rufe man "Uns ist alles erlaubt". Sind im Streit der Ethiker inzwischen Tiefschläge erlaubt?

Spaemanns Fundamentalkritik am Konsequentialismus liegen fünf Einwände zugrunde. Sie wurden zum Teil schon im neunzehnten Jahrhundert formuliert. Der Utilitarismus sei in sich widersprüchlich, benötige metaphysische Zusatzannahmen, hebe die Differenz von Praxis und Poiesis auf, könne moralische Prinzipien wie Gerechtigkeit nicht begründen und führe dank Überforderung des Handelnden zur "Unterbeanspruchung seines Gewissens". Konsequentialisten wollen die ethische Qualität einer Handlung nach ihren Folgen bemessen. Spaemann wendet ein, daß niemand die Folgen seines Tuns zureichend überblicken kann. Mit seinen Handlungskonzepten setze der Utilitarismus ein nicht-endliches Wissen des Menschen voraus. Hinter seiner reinen Zweckrationalität verberge sich viel krude Metaphysik.

Spaemann will sittliche Verbindlichkeit "mit den Griechen" im Rückgang auf "die Natur" erschließen. Um das Naturgemäße, Gute vom bloß Naturwüchsigen zu unterscheiden, bedarf es eines teleologisch normativen Begriffs der Natur. Kulturelle Universalien sollen in "natürlichen", anthropologisch invarianten Ordnungen verankert und diese mit einer Wertontologie fundiert werden. Ethos sei nur "erinnerte Natur". Doch wie läßt sich ein genetischer Begriff des Natürlichen in ein normatives Konzept naturgemäßen Handelns überführen? Spaemann setzt auf eine Erneuerung von Schelers Wertmetaphysik. Gegen den politischen Wertejargon und den verbreiteten Ruf nach neuen Werten beschwört er mit Scheler eine unendliche Totalität von Werten, die als immer schon existierende objektive Entitäten gelten. Erst der objektive Wert erlaube uns das Werten. Dazu muß Spaemann auf ein absolutes Bewußtsein rekurrieren, das die unendliche Fülle allen Wertgehalts enthält. Diesen intellectus archetypus nennt er "absolutes Wertwesen". Ist dies ein genuin katholischer Gottesbegriff? In protestantischer Perspektive kann ein Wertegott bestenfalls ein caput mortuum der Abstraktion heißen.

Seit den Naturrechtsdiskursen des siebzehnten Jahrhunderts streiten europäische Gelehrte über das Verhältnis von Religion und Moral. Spaemann ergreift Partei für eine starke Rückbindung des Ethischen an religiöse Pietätspflichten. In seiner Wertehierarchie kommt dem Heiligen der höchste Rang zu. Ohne Gottesbezug lasse sich Verantwortung nicht denken. Mit christlichen Begriffen will Spaemann absolute Tabugrenzen markieren. Die "Würde des Menschen" deutet er mystisch, als Abglanz der Heiligkeit des Schöpfers im vornehmsten Geschöpf. Eine "Philosophie des Absoluten" soll gegen die Biotechnokraten der neuen Lebenswissenschaften "die Demut einer vernünftigen Kreatur" einklagen. Die In-vitro-Fertilisation lehnt Spaemann ab, weil auch der göttliche Logos genitum, non factum sei. Gern verknüpft er die Sprache des frommen Appells mit bildungsbürgerlichem Grundwissen über den Lauf der Natur. Die Sonntagsruhe will der Philosoph mit dem "zweiten Hauptsatz der Thermodynamik" verteidigen. Sein Naturbegriff changiert fortwährend zwischen genetischem und normativem Gehalt. Diese Unschärfe ist Programm. Man muß kein Utilitarist aus Oxford sein, um Spaemann naturalistische Fehlschlüsse nachzuweisen.

Spaemann beschwört eine intuitive Evidenz unbedingter sittlicher Verpflichtung. Nirgends gelangt er hier über vage Formulierungen hinaus. Wie erschließen sich die "Maßstäbe, die im Unvordenklichen gründen"? Wo zeigt sich "die evidente Schönheit elementarer sittlicher Phänomene"? Den moral point of view im "ethischen Metagesichtspunkt" überwunden zu sehen, ist schon sprachlich mißglückt. Wenn er die Halbheiten der Konsequentialisten kritisiert, verwickelt er sich selbst in Widersprüche.

Im Umgang mit Gegnern verletzt er alle Fairneßregeln. Erst benutzt er Rawls, um die Utilitaristen zu kritisieren. Wenige Seiten später werden aufgeklärte Vertragstheoretiker für Hitler und Lenin verantwortlich gemacht. Mal beschuldigt er die Liberalen des seichten Relativismus, mal des abstrakten Universalismus. Trotz seiner Dauerpolemik gegen die Konsequentialisten bemüht er in medizinethischen Konflikten utilitaristische Denkfiguren. Die Knappheit medizinischer Ressourcen will er mit allokationsethischen Erwägungen bewältigen. "Bei ständiger Vermehrung der Therapiemöglichkeiten ist es nicht vernünftig davon auszugehen, daß alle Mitglieder eines Gemeinwesens jeden beliebigen Aufwand treiben müssen, um jedem Mitglied der Gesellschaft das jeweilige rein technisch mögliche Optimum an Gesundheitsmaßnahmen zukommmen zu lassen. Viel wichtiger ist auf Dauer eine wirklich humane Ausgestaltung des Minimums, d. h. des Normalen, das wir jedem schulden." Wer entscheidet über das "wirklich Humane"? Wer über "das normale Minimum"?

Viele Ethiker tasten sich derzeit in das "ethische Neuland" (Otfried Höffe) vor, das durch die Lebenswissenschaften eröffnet wird. Sie gehen hier behutsam vor, vorsichtig abwägend, auf der Suche nach orientierungskräftigen Konkretionen alter Begriffe. Spaemann will hingegen jede Güterabwägung von vornherein verboten sehen und operiert mit Horrorvisionen der Selbsterzeugung eines neuen Menschen.

Kein anderer deutscher Philosoph schreibt derzeit so einfühlsam über den Tierschutz. Entschiedener als andere Philosophen tritt Spaemann für den römisch-katholischen Potentialismus ein, demzufolge der befruchteten Eizelle unbedingte Menschenwürde eignet. Derselbe Autor kann Menschen als Ratten bezeichnen, nur weil sie einen anderen (auch mir unsympathischen) Lebensstil pflegen. Zurecht erinnert er an die Conditio humana und Grenzen unseres Wissen-Könnens. Wie verträgt sich damit die maßlose moralische Arroganz, die behutsam Skeptischen unter den Ethikern als Anwälte des Bösen zu bezeichnen? Spaemann legitimiert seine polemische Schärfe mit dem Argument, angesichts der wachsenden Macht des Bösen bleibe für Skepsis keine Zeit. Darin steckt ein Selbstwiderspruch: Nicht das Naturgemäße, sondern eine bestimmte Geschichtsdeutung dient hier der Rechtfertigung des eigenen Tuns. Doch hat Spaemann selbst betont, daß eine Ethik, die "die Geschichte" als Legitimationsinstanz bemüht, nur der moralischen Terreur Vorschub zu leisten droht.

Robert Spaemann: "Grenzen". Zur ethischen Dimension des Handelns. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2001. 560 S., geb., 68,50 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Erst einmal hält sich Rezensent Friedrich Wilhelm Graf mit Kommentaren zu Robert Spaemanns philosophischen Ansichten zurück, zählt nur die verschiedenen Beiträge zu Diskussionen der letzten Jahre auf, erinnert an den Widerspruch Spaemanns gegen den Kosovo-Einsatz, seinen Kampf gegen die "Seuche der Abtreibung" (Zitat Spaemann). Es geht, fasst Graf zusammen, dem Philosophen um die Bereitstellung von "Orientierungswissen", und zwar auf dem Fundament der katholischen Kirche. Sein "Zivilisationsekel", seine Aufnahme der "Topoi konservativer Zivilisationskritik", seien von "großer gedanklicher Konsequenz". Das bleibt dann aber das einzige lobende Wort in der sehr ausführlichen Besprechung des neuen Buches. Spaemanns Polemiken gegen den Utilitarismus, gegen den Konsequentialismus gründen stets auf einer von einem postulierten normativen Naturbegriff geleiteten Ethik, so Graf. Der Vorwurf "naturalistischer Fehlschlüsse" gehört noch zu den freundlicheren Entgegnungen des Rezensenten, der zunehmend wütender wird: er schreibt von "Tiefschlägen" Spaemanns, ärgert sich über seine "Sprache des frommen Appells", stellt fest, dass der Philosoph oft "alle Fairnessregeln" verletzt und konstatiert zuletzt "maßlose moralische Arroganz".

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