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"Es ist mitten im Winter, ein grauer Tag in einer Reihe von grauen Tagen, ein guter Zeitpunkt." Wofür? Um sein Leben zu ändern; für den "totalen Umsturz der Verhältnisse". Stangls vierter Roman ist der Zustandsbericht rund um diesen Imperativ herum, der die Veränderung des schlechten Bestehenden verlangt: Da ist eine junge Frau, die als Demonstrierende gegen die neue, rechtslastige Regierung in Wien im Februar 2000 durch politisches Handeln ein neues Existenzgefühl erfährt. Ihre Schwester Mona geht zur selben Zeit einen ganz anderen Weg, der in einem schockierend-befreienden acte gratuit…mehr

Produktbeschreibung
"Es ist mitten im Winter, ein grauer Tag in einer Reihe von grauen Tagen, ein guter Zeitpunkt." Wofür? Um sein Leben zu ändern; für den "totalen Umsturz der Verhältnisse". Stangls vierter Roman ist der Zustandsbericht rund um diesen Imperativ herum, der die Veränderung des schlechten Bestehenden verlangt:
Da ist eine junge Frau, die als Demonstrierende gegen die neue, rechtslastige Regierung in Wien im Februar 2000 durch politisches Handeln ein neues Existenzgefühl erfährt. Ihre Schwester Mona geht zur selben Zeit einen ganz anderen Weg, der in einem schockierend-befreienden acte gratuit endet. Und 15 Jahre später gerät ein Dr. Walter Steiner in eine existenzielle Krise, da seine Frau ihn verlässt; gleichzeitig verbindet ihn der zufällige Fund von alten Bildern mit diesen zwei Frauen und stellt neue Zusammenhänge her.
Die drei Personen dieses Romans durchstreifen Wien zu unterschiedlichen Zeiten, mit unter-
schiedlichen Motiven, und versuchen auf unterschiedliche Weisen, in der Wirklichkeit anzukommen durch politisches Engagement, durch Kunst oder durch die Aufkündigung aller existierenden Zwänge. Stangls Roman ist eine hypnotische Meditation über unsere Gegenwart und die Rolle, die der Kunst darin und in unserem Leben zukommt, ein Roman voller magischer Momente.
Autorenporträt
Thomas Stangl, geboren 1966 in Wien, studierte Spanisch und Philosophie. 2014 erhielt er das George-Saiko-Reisestipendium. Der Autor wohnt in Wien.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Thomas Stangls Roman über das tragische Schicksal zweier Schwestern "zieht und zerrt" an Anja Hirsch und es fällt ihr teilweise schwer, dem Strom  der Geschichte zu folgen, die aus der Sicht eines emeritierten Kunstwissenschaftlers erzählt wird. Das Buch lese sich, so die Rezensentin, wie eine Landkarte, die man geduldig und mit Lesepausen erforscht werden müsse. In ihren besten Momenten beginnt die langsame Geschichte für sie magisch und tänzerisch leicht zu leuchten. Dann verliert Hirsch gemeinsam mit den Figuren das Zeitgefühl und verliert sich in Stangls feingliedrigen Beschreibungen aus den "Randzonen des grübelnden Ichs".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2013

Choreografie
der Krise
Thomas Stangls Erzählkunst
auf der Höhe der Zeit
Dieser Roman ist eine Schädelstätte. So reflexiv erzählt Thomas Stangl seinen neuen vierten Roman, dass sich das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit verändert. In den Selbstgesprächen der Figuren verwandelt sich das Erzählen in analytisch-konstruierende Rede. Der 47-jährige Wiener Autor schreibt den epochenkritischen Zeit- und Bewusstseinsroman Musils und Becketts fort. Doch während Musils Geschwister Ulrich und Agathe den urbanen Schauplatz noch als Organismus erleben, zeigt Stangl die Stadt im simultanen Vollzug der Bewegung durch den Raum als verselbständigten, vom Menschen abgelösten Prozess.
  Die großstädtische Alltagspraxis getrennter Sichtbarkeitszonen sensibilisiert die Figuren, schärft ihr Bewusstsein für die Zusammenhanglosigkeit der Dinge und die Kontingenz der Existenz. Der Schauplatz Wien ist in Stangls Sinnentwurf der beispielhafte Krisenfall der westlichen Welt im Augenblick der Zeitwende des Jahres 2000. Den motivischen Zellkern des Romans, die Geschwisterliebe, entnimmt der Autor Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“.
  In der platonischen Idee des Kugelmenschen hat dieser Zellkern seinen frühkindlichen Fluchtpunkt. Das Bild zwillingshaft sich ähnelnder Mädchen in einem Garten, der sich in die Raumfluchten einer häuslichen Traumwelt erweitert, ist dem Roman auf seiner Eingangsseite vorangestellt. Es ist das erste aus einer Reihe zeitloser Bilder, die den meisten Kapiteln – jeweils in kursiver Typografie – vorgeschaltet sind. Das Figurendreieck des Romans, die Schwestern Andrea und Monika Stanek, Studentinnen in Wien, und den Kunsthistoriker Walter Steiner, der auf einem seiner ziellosen Stadtgänge den unentwickelten Film findet, rückt der Autor ins Spannungsfeld zwischen Zeit und Zeitlosigkeit.
  Das erste Wort hat die Instanz der Vorsehung in Gestalt des auktorialen Erzählers, der die magische Wirkung ankündigt, die das Kinderbild entfalten wird. Im nächsten Augenblick fällt der Vorhang hinter ihm, die Erzählzeit wechselt in die Plötzlichkeit des ersten schicksalhaft aufgeladenen Romanaugenblicks, und der Erzähler macht einer Figur mit wachem Möglichkeitssinn Platz, dem Bilderexperten: „Es konnte kein Zufall sein, dass er die Filmdosen fand“. Der Zufall wird zum Ausgangspunkt einer erzählerischen Kausalreihe, die Steiner auf die Spur der Mädchen setzt und die in einen entfesselten Pas de deux mit der Älteren mündet.
  Die Dramaturgie der Krise entwickelt sich aus Momenten des Nicht-mehr, dem Zerfall der geschwisterlichen Einheit und der Pensionierung des Hochschullehrers, dem Verlust seiner gesellschaftliche Funktion. Wien am „4. Februar 2ooo und später“, der exponierte Zeitpunkt des ersten Kapitels, ist der historische Augenblick nach der Nationalratswahl 1999, die erstmals die FPÖ zur zweitstärksten Kraft des Landes machte.
  „Zwei bösartige Gnome haben mit einer Bande von Gaunern und Faschisten die Macht im Land übernommen“, den Satz spricht die Ältere der Schwestern, die Tag für Tag mit einer Gruppe von Demonstranten durch die Innenstadt zieht. Die Jüngere, der es vorbehalten bleibt, einen Kosenamen zu erhalten, schlägt die entgegengesetzte Lebensrichtung ein, den Weg aus der vernünftig befriedeten Welt der gesellschaftlichen Ordnung und bürgerlichen Notwendigkeiten in die Freiheit.
  Sie beginnt, als Stadtnomadin durch Wien und seine Vorstädte zu ziehen und mit Männern zu schlafen, die in Kneipen die Zeche für sie bezahlen. Auf dem Höhepunkt ihres Bewegungsrauschs nimmt sie sich in einem Akt entfesselten Beisichselbstseins mit der Pistole eines Polizisten das Leben. In der suggestiven Zeichensprache der Selbstmörderin, der Wahl ihres Requisits erkennt die „vernünftige große“ Schwester die an sie gerichtete Botschaft, die radikale Absage an die Gesellschaft, der ihr eigenes Engagement gilt. Vor allem aber erlebt sie den Verlust als fatale Wiederholung jener traumatischen Ur-Katastrophe, die dem familiären Glück und der Kindheit der Schwestern ein Ende machte: der Selbstmord des Vaters.
  Das Ende der geschwisterlichen Symbiose ist ein Stützpunkt der erzählerischen Symptombildung, die den Roman ins Tolle, Spielerische, Mögliche, in die Utopie lenkt. Den anderen Zustand rückt Stangl unmissverständlich in Gegensatz zum europäischen Bewusstseinsmenschen, wie Beckett ihn in seiner Prosa „Der Verwaiser“ dargestellt hat, in den trostlosen Leerläufen der Ordnung. „Das Zuviel an Bewusstsein“, sinniert Andrea, „das sie nicht losgeworden ist und nie loswerden wird“ habe ihren Blick auf den Afrikaner entstellt, dem sie eben auf der Straße begegnet ist. Der Gedankengang mündet in den Imperativ: „Du musst deine europäische Fresse auslöschen“. In schönen antagonistischen Bewegungsbildern zeichnet der Erzähler kulturanthropologische Varianten des Verhaltens auf. Die Tanzbewegung, die dem Buch ihren Titel gibt, weist in die Zukunft. Neben all den Romanen, die heutige Wirklichkeit in kleiner Münze als rein soziale verhandeln, ist Stangls Roman ein Ereignis.
SIBYLLE CRAMER
  
Thomas Stangl: Regeln des Tanzes. Roman. Literaturverlag Droschl, Graz 2013. 280 Seiten, 22 Euro, E-Book 16,99 Euro.
Stangls neuer Großstadtroman
ist ein Ereignis der Saison
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2013

Was weiß das Pixel schon von der Liebe

Das Leben ist eine Landkarte: In seinem Roman "Regeln des Tanzes" schickt Thomas Stangl einen alten Mann auf die Suche nach der Geschichte alter Fotografien. Das ist nicht immer leicht zu lesen, wirkt in geglückten Momenten aber magisch.

Die Romane von Thomas Stangl, der jetzt mit "Regeln des Tanzes" seinen vierten vorlegt, sind Botschaften aus den Randzonen des immerzu grübelnden Ichs. 1966 in Wien geboren, erzählt der Österreicher seit seinem Debüt "Der einzige Ort" (2004), das noch Afrikas Wüste durchmaß, von den großen Themen; von Fremdheit und Einsamkeit, von dem Begehren, etwas zu verändern - und schließlich von dem Übergleiten des nur Gedachten in die unwiderrufliche Tat. Und weil das vor allem zum sprachlichen Ereignis wird, hier gleich eine Kostprobe, aus dem Leben eines alten Mannes in Wien, der schon viel zu lange mit seiner Frau Pre zusammenlebt: "Die Woche zieht sich hin. Er verlässt selten die Wohnung, holt Weinflaschen aus dem Keller und mariniert Geflügelstückchen mit Ingwer und Koriander, sieht Pre auftauchen und verschwinden, als bewohne sie einen anderen Raum, eine parallele Welt, die sich zufällig über seine Wohnung gelegt hat."

Irgendwann verlässt Pre den Mann tatsächlich, es deutete sich bereits an. Überhaupt liegt die Zukunft des Romans immer schon in allen Zeilen drin. Die Zeiten verschwimmen, und man verliert, wie der Mann, das sichere Gefühl für Zeit und Raum: "Er schaute zum Schreibtisch hin, an dem Pre abends immer gesessen hatte, und glitt bewegungslos die Jahrzehnte zurück und zugleich nach vorn, hin zu seinem Tod, an einem Tag, an den er sich schon heute erinnert."

Rückblenden und Vorgriffe sind bei Stangl keine technischen Kniffe. Eher die automatischen Bahnen eines Denkens, das auf Schocksituationen mit kleinen Beben reagiert. Diese inneren Beben zeichnet Stangl auf, zwischen diesem Rentner, einem emeritierten Kunstgeschichtler, und zwei Schwestern, die in Wien wohnen. Der Rentner steht mit ihnen irgendwie in geheimer Verbindung: Er findet zufällig Fotografien dieser Schwestern und macht sich nach dem Weggang von Pre auf die Suche nach der Geschichte zu den Fotografien, fünfzehn Jahre später.

In Montagen erfährt man, was damals geschah. Die beiden Schwestern, Studentinnen nur auf dem Papier, teilen sich eine Wohnung. Ihr Vater starb, man weiß noch nicht, wie, man ahnt nur, dass es nicht übliche Trauer ist wie nach einem natürlichen Tod, sondern ein Unheil, das diese beiden Schwestern aneinanderschweißt. Die eine treibt es täglich in die Stadt, wo sie an den Protestzügen gegen die Regierung teilnimmt; als "Donnerstagsdemonstrationen" sind diese Kundgebungen in die Geschichtsbücher eingegangen.

Die andere, Mona, hat sich von allen abgewandt. Sie ist das genaue Gegenteil der Schwester, eine Wirklichkeitsflüchtige, nicht greifbar. Dann ist sie plötzlich verschwunden, und die zurückgelassene Schwester beginnt, die leere Wohnung zu fotografieren, Tag für Tag - ebenjene Bilder, die der alte Mann in den Händen hält. Sie sucht Mona in den Straßen Wiens. Das eigene Leben kommt ihr immer leerer vor, wie aufgeklebt. Wie ein Choreograph, der die Bühne mit ihren kuriosen Mustern von oben im Blick hat, zugleich aber aus der Mitte heraus schaut, folgt Thomas Stangl den Schwestern durch die Stadt. Irgendwann greift eine dieser beiden jungen Frauen nach der Waffe eines Polizisten.

Es braucht Ruhe und Geduld, diese langsame, achtsame Prosa zu lesen. "Regeln des Tanzes" gleicht einer Landkarte, die entfaltet einige Tage liegenbleiben muss, mit Lesepausen. Da sind Wege, die man auf den ersten Blick übersah; und Empfindungsspitzen, die überscharfe Porträts liefern, mit den "Schmerzzentren" dieser einsamen Schwestern. Man ist dabei, wenn sie auf ihrer je eigenen Flucht mit sich selbst sprechen, Möglichkeiten abwägen und um den natürlichsten Ablauf von Alltag kämpfen: "Du erfindest eine Spielregel; nichts kann dir geschehen." So formt sich aus den kleinsten Bildpixeln, angestoßen vom Zigarettenrauch oder der Hand in der Jackentasche, die den Schlüssel sucht, eine Folge von Bewegungen. Das Leben als absurder Tanz um eine geheime Mitte - das vermittelt sich hier vor allem über fein zergliederte Satzkaskaden, über Beschreibungen einer aufgebrochenen Stadt, die mit den Innenaufnahmen der Figuren korrespondieren. Das ist der fast körperlich spürbare Effekt beim Lesen dieses Romans. Erklären sie aber die Tat?

Im Kern geht es immer weniger um die geheime Verbindung zwischen dem alten Mann und den Schwestern. Beide Geschichten bleiben lange getrennt. Und doch überlappen sie einander schon vorher, weil sie von der gleichen Bedrängnis erzählen. Alle drei Menschen hatten einmal Ideale - die Arbeit, den Tanz, die Revolution. Dann streicht die Zeit darüber hinweg, dazu eine Katastrophe von außen, und etwas zerbricht. Alles wird gleichwertig. Von diesem Punkt aus streben diese inneren Dialoge weg. Stangl zeichnet aus dem subjektiven Echoraum den fragilen Boden, auf dem wir schwerfällig wandern, bestenfalls tänzerisch. Er zeigt unterschiedliche Möglichkeiten des Widerstands.

Vielleicht führt das, wie die verebbende Demonstration, in eine neue Leere; vielleicht für den Einzelnen in eine Lebensform, die wenigstens durch die Dichte der Empfindungen trägt. Thomas Stangl, der Philosophie und Spanisch studierte, folgt dem Bewusstseinsstrom so konsequent, so radikal, dass diese Abfolge kleinster Lebensmomente selbst zur Kunst wird, die sich betrachten und goutieren lässt - als Roman. Das wäre jenseits von üblichen Glücksversprechern nicht wenig: das von Menschen und Geschichte unabhängige Glück, das sich beim Betrachten der Welt von selbst einstellt, inklusive der Angst, der Resignation, der Trauer über das Ungelebte. In jedem Fall schreibt Thomas Stangl gute Literatur, die bisweilen unbequem an einem zieht und zerrt, die in ihren besten Momenten magisch leuchtet und nicht mit Auflösung dient. Diese über lange Strecken gehaltene Dissonanz ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur höchst selten geworden.

ANJA HIRSCH

Thomas Stangl: "Regeln des Tanzes". Roman.

Droschl Verlag, Wien 2013. 278 S., geb., 22,- [Euro].

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