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Das Nietzsche-MemorandumIch bestimme dieses Buch für lange, langsame Meditationen.Die übliche Lektüre ist eher ein Mittel, die Konsequenzen zu vertagen, zu vermeiden. "Wer den Leser kennt", sagte Nietzsche, "der tuth Nichts mehr für den Leser." Ich habe diese Texte für den gesammelt, der DIE KONSEQUENZEN ZU ZIEHEN SUCHT. (...)Ich denke, dass kein Buch es mehr verdient hat, meditiert zu werden- meditiert, endlos durchgekäut. Keine Meditation, die konsequenzreicher ist.

Produktbeschreibung
Das Nietzsche-MemorandumIch bestimme dieses Buch für lange, langsame Meditationen.Die übliche Lektüre ist eher ein Mittel, die Konsequenzen zu vertagen, zu vermeiden. "Wer den Leser kennt", sagte Nietzsche, "der tuth Nichts mehr für den Leser." Ich habe diese Texte für den gesammelt, der DIE KONSEQUENZEN ZU ZIEHEN SUCHT. (...)Ich denke, dass kein Buch es mehr verdient hat, meditiert zu werden- meditiert, endlos durchgekäut. Keine Meditation, die konsequenzreicher ist.
Autorenporträt
Bataille, Georges Georges Bataille, 1897 in Billom, Puy-de-Dôme geboren, war von 1922 bis 1942 als Bibliothekar an der Bibliothèque nationale tätig, in der er Walter Benjamins Manuskripte versteckte und so vor der Vernichtung rettete. Von Nietzsche und Sade, aber auch von Kojèves Hegel beeinflusst, verfasste er ein in seiner Bandbreite einmaliges Werk. Er starb 1962 in Paris. Ein großer Teil seines Werks ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen.

Bergfleth, GerdGerd Bergfleth, geboren 1936 in Dithmarschen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Gräzistik in Kiel, Heidelberg und Tübingen, wo er heute als freier Schriftsteller und Übersetzer lebt. Seit 1975 ist er Herausgeber des theoretischen Werks von Georges Bataille, das er größtenteils auch übersetzt und kommentiert hat. Er verfasste zudem zahlreiche Aufsätze und Vorträge, die teilweise der »Tübinger Vernunftkritik« zuzuordnen sind und sich u. a. Marx, Nietzsche und Heidegger, Blanchot, Klossowski, Cioran und Baudrillard widmen.

Mattheus, BerndBernd Mattheus ist Verfasser der umfangreichsten Biografie Georges Batailles (Bataille-»Thanatographie« in drei Teilen), sowie einer Biografie Antonin Artauds und einer eigenen Antwort auf Ciorans Denken: Heftige Stille.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2000

Das Menschenmögliche erfahren
Ein klarer Blick auf Nietzsche: Georges Bataille mit Artikeln und einem „Memorandum”
Geht es nicht anders, muss man sich an Nietzsche vergreifen? Schon zu seinen bewussten Lebzeiten hatte er allerlei Erfahrungen gemacht, durch die er sich im Vorwort von Ecce homo genötigt sah, zu sagen, „wer ich bin”: „Ich lebe auf meinen eignen Credit hin, es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe? . . . Ich brauche nur irgend einen ‚Gebildeten‘ zu sprechen, der im Sommer ins Oberengadin kommt, um mich zu überzeugen, dass ich nicht lebe . . . Unter diesen Umständen giebt es eine Pflicht, gegen die im Grunde meine Gewohnheit, noch mehr der Stolz meiner Instinkte revoltirt, nämlich zu sagen: Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!” Von der Geburt der Tragödie an, für die ihn Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff als Philologe vernichtete, bis zur Indienstnahme seines Spätwerks durch die Antisemiten griffen ganz unterschiedliche Größen aus ganz unterschiedlichen Gründen nach einem Nietzsche, der er nicht zu sein glaubte.
Nietzsche wollte vom Zeitgeist, gegen den er wetterte, als Philosoph wahrgenommen werden. Sein früher Dienst an Wagner war ihm auch Mittel dazu, ebenso die später zunehmende Verwendung biologistischer Argumente. Mochte er diese, insgesamt betrachtet, noch so sehr ihrem oft kruden rassistischen Züchtungszweck zugunsten eines eigenen Begriffs vom Leben entfremden, so blieb er doch in jenem Diskurs verhangen, in den wir immer noch verstrickt sind: Es ist der moderne Glaube an das Leben als solches und an seine sozialtechnische Machbarkeit. Was Nietzsche wohl als erster so umfassend bezeichnete, das hat Foucault als bereits im 18. Jahrhundert beginnende Biopolitik umrissen und Giorgio Agamben in Homo sacer (1995) als Problem des nackten Lebens scharfsinnig analysiert (Sloterdijk kam also zu spät).
Was Nietzsche aber von allen anderen, die im Wettbewerb der Lebensverbesserung mitgeeifert haben, unterscheidet: Er hat sich selbst zum Argument seiner Argumente gemacht: „Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin . . . décadent zugleich und Anfang – dies, wenn irgend Etwas, erklärt jene Neutralität . . . im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens. ” Diese existentielle Distinktion in ihrer Tragweite und Tiefe erkannt zu haben, ohne das Problematische der einzelnen, gegensätzlichen Argumente, die Nietzsche in seinem Dasein zusammenzwang, zu verdrängen, ist das Glück von Georges Bataille. Und es gelang ihm in schwieriger Zeit.
Von Batailles Bewegung auf Nietzsche zu sprechen die neun, von 1937 bis 1951 als Kritiken verfassten Beiträge für Zeitschriften (vorab Batailles eigene, Acéphale und Critique), die der Herausgeber unter dem Titel Wiedergutmachung an Nietzsche” im Rahmen des Theoretischen Werks aus nachvollziehbaren Gründen zusammengestellt hat. Als sogenannte Nietzsche-Studien begleiten sie das Nietzsche-Memorandum, eine Sammlung von 280 Aphorismen, die Bataille 1944 zum hundertsten Geburtstag Nietzsches aus den Büchern und (zu einem Drittel) aus dem Nachlass (beides nach 1880) ausgewählt und veröffentlicht hat.
Auch wer Bataille nie für die dunkle Quelle eines sogenannten französischen Irrationalismus gehalten hat, staunt über die Klarsicht, mit der er in der allgemeinen Verdüsterung der Anprangerung der antisemitisch-faschistischen Fälschung und Vereinnahmung genau differenzierende Analysen sowohl dieser Zumutungen (Elisabeth Förster-Nietzsche, Richard Oehler, Mussolini, Rosenberg, Baeumler) als auch anderer, linker und philosophischer, moralistischer, religiöser, philologischer Ablehnungen, Zustimmungen, Verteidigungen, Kritiken, Weiterführungen, Verarbeitungen (Lukács, Sorel, Andler, Gide, Podach, Jaspers, Th. Mann) folgen lässt. Auf diese Weise erhellt er den gemeinsamen historischen Grund der unterschiedlichen Beanspruchungen Nietzsches. Ausführlich zitiert Bataille Emmanuel Lévinas, der bereits 1934 in seinen „Überlegungen zur Philosophie des Hitlerismus” jenen Grund in der „neuen biologischen Auffassung des Menschen” erkennt, deren vergangenheitsbezogener „Rassismus”, in „Nietzsches Wille zur Macht” eine rationale „Universalisierung” erfahre.
Dem Kopfprinzip entlaufen
Für Bataille ist Nietzsches Lehre des Tragischen und der Souveränität immer schon über das Politische und den Willen zur Macht hinausgelangt. Der azephale (kopflose) Übermensch ist dem politischen Kopfprinzip, das die durch den Tod Gottes freigesetzten Triebkräfte mit neuen Zwecken verknechten will, entlaufen, um das Menschenmögliche zu erfahren, indem er es überschreitet. Im ekstatischen Sprung in die Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat, verwandelt sich die Todesangst, vor der sich das Leben mit Verboten schützt, in göttliche Lebenslust, die auch Leiden und Schmerz bejaht. Erst die Selbstentäußerung in eine leere Zukunft führt zu „einer Existenz, deren einziger Zweck darin besteht, da zu sein, zu existieren”. Weil die Zwecklosigkeit der Existenz das größte moralische Verbrechen an der Gesellschaft ist, knüpft sie das einzige Band, welches das „Nietzschesein” zu einer kommunionsartigen Erfahrung macht: nicht Revolution für eine andere politische Ordnung, sondern antipolitische Revolte für nichts. Was Bataille in Cervantes’ Tragödie Numantia auf der Bühne sieht und im Collège de Sociologie studiert, versucht er in einer Geheimgesellschaft auch zu erleben, um dann wieder mit Nietzsche, der „allein . . . die intellektuelle Erfahrung mit der Verfolgung einer intimen Erfahrung” verband, so allein weiterzugehen, wie er mit ihm begonnen hatte: „Warum soll ich schreiben”, fragte 1922 der Fünfundzwanzigjährige nach der ersten Nietzsche-Lektüre, „wenn mein Denken – mein ganzes Denken – schon so vollständig, so bewundernswert ausgedrückt ist?”
Ohne Bataille wüsste man heute vielleicht nicht mehr, warum Franz Overbeck in der Gegenwart seines Freundes Nietzsche so frei atmen konnte und welche Befreiung dessen Lebenswerk gerade in einer Zeit, da es die Vernichtung von Leben für ein anderes Leben rechtfertigen sollte, bedeuten konnte. „Nietzschesein” hieß für Bataille auch, dort weiterzumachen, wo Nietzsche aufhören mußte: bei der inneren Erfahrung des Wahnsinns, der Nietzsche „von außen” überfiel und dennoch einem inneren Zusammenhang von Leben und Werk zu entspringen schien. Er fordert eine nietzscheanische, das heißt aktive Fortführung Nietzsches über Nietzsche hinaus: Das ist Batailles Werk. Heute, nachdem Foucaults Werk dafür einsteht, daß in Nietzsches plural verstandenem Willen zur Macht auch eine kritische Analytik der Macht liegt, kann man sich fragen, ob Batailles Entscheidung, das Machtdenken als Widerspruch zur Souveränität dieser zu opfern, nötig war. Ob er damit nicht einfach über jenen biologistisch verstrickten Nietzsche, der im Namen des Lebens allerhand Opfer erwog, hinwegging? Doch in seiner Fortführung der Souveränität, die das Leben von jeglichem Zweck loskettet, bezeichnet er weniger den „Irrtum” von Lévinas als vielmehr denjenigen der fortdauernden Zeit Nietzsches: „Das Leben ist souverän”, es bedarf keiner Rechtfertigung. Im „Namen des Lebens” gibt es nichts zu fordern.
Was das Nachwort angeht – so ist Gerd Bergfleths hundertseitiger „Nietzsche redivivus” nicht frei von einem Affekt, den Nietzsche durch kritisches Ausagieren an anderen und Selbstreflexion zu überwinden versuchte und von dem Bataille Nietzsche befreien konnte, weil er wohl selbst frei davon war: Die Rede ist vom Ressentiment. Alle Achtung vor der kompetenten Vernetzung von Batailles Nietzsche in Batailles Werk. Doch fragt man sich bald, warum der eine Nietzsche vor dem anderen, Nietzsche vor der Forschung, Bataille vor Nietzsche und irgendwie auch der eine Bataille vor dem anderen Bataille gerettet werden muss. Wer der einen oder anderen Stichelei gegen die neuere philologisch-historische Nietzsche-Forschung keine vorausahnende Beachtung geschenkt hat, kriegt es auf den letzten Seiten um die Ohren geschlagen: Hier wird Mazzino Montinari, der die „paradoxe Übereinstimmung von Baeumler und Lukács” feststellt, zum „Symptom” einer „Festlegung” von Nietzsche als „Vorläufer und Vorbereiter des Faschismus”. Dazu gibt es eine ansonsten ignorierte „kastrierte Nietzsche-Forschung”, die „ritualistisch Warnungen vor der ‚blonden Bestie‘ . . .rezitiert”. Fühlt sich da wieder mal einer am Leben gehindert?
HUBERT THÜRING
GEORGE BATAILLE: Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte. Herausgegeben, aus dem Franz. und mit einer Studie von Gerd Bergfleth. Verlag Matthes & Seitz, München 1999. 410 S. , 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Was da geboten wird, macht einen völlig kopflos
Niemand vergriff sich an Nietzsches Geistesgut, solange Georges Bataille lebte und seine Umwertung im Dienst der Souveränität betrieb / Von Andreas Platthaus

Georges Bataille nutzte jedes Jubiläum, und der Anlässe waren viele: fünfzigster Jahrestag des Wahnsinns 1939, hundertster Geburtstag 1944, fünfzigster Todestag 1950. Es galt einen Gott zu rehabilitieren, der im Kampf der Ideologien noch einmal gekreuzigt worden war, nachdem er sich bereits selbst geopfert hatte. An seinem Denken hatte Bataille das eigene geschult, seinen Aphorismen verdankte er die Theorie der Souveränität, aus seinem Schicksal wurde das Prinzip der "inneren Erfahrung", dem Bataille 1943 den gleichnamigen ersten Teil seiner "Somme athéologique" widmete, deren dritter und abschließender Teil dann zwei Jahre später den Titel erhielt, den das gesamte philosophische Werk des Franzosen verdient hätte: "Sur Nietzsche".

Doch "Sur Nietzsche" dreht sich nicht um Nietzsche, es ist ein Exerzitium Batailles, der sich selbst dem Phänomen der "inneren Erfahrung" aussetzt, der rettungslosen Verlassenheit vor den Grenzen der Selbstbefragung, vor dem Rätsel, das keine Lösung finden wird. Doch diese Verzweiflung wirft Licht auf den Fragenden. Dem ersten Band der "Somme athéologique" ist natürlich ein Nietzsche-Zitat vorangestellt: "Nacht ist auch eine Sonne", entnommen dem "Zarathustra".

Das ist für Bataille das wichtigste Buch, jenes Werk, das er für so "zauberhaft gescheitert" hielt und aus dem er ein Drittel aller Sentenzen entnahm, die er 1945 zu seinem "Nietzsche-Memorandum" zusammenstellte, in dem außer vier kurzen Erläuterungen zu den einzelnen Kapiteln keine Zeile zu finden ist, die nicht aus Nietzsches Feder stammte. Und doch ist dieses Buch ganz von Bataille. Als Paris 1944 befreit worden war, wurde Nietzsche zusammen mit den Deutschen ausgetrieben. Ba-taille aber arbeitete an seiner Wiederkehr, und die reiche französische Nietzsche-Rezeption der folgenden Jahrzehnte ist zum großen Teil ihm zu danken. Am Beginn seiner erneuten Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen aber stand das "Memorandum", und es bildet deshalb auch den Auftakt einer Sammlung von Batailles Nietzsche-Arbeiten, die Gerd Bergfleth jetzt in deutscher Übersetzung herausgegeben hat. Man sollte meinen, dass es kaum einen besseren Zeitpunkt für deren Publikation hätte geben können, doch im aufgeregten Chor der vergangenen Wochen fand die Stimme Batailles keinen Widerhall.

Dabei hätte sie Anlass geben können für eine Umwertung von Nietzsche, denn nichts anderes betreibt Bataille. Das "Memorandum" ist ein philosophischer Remix, der nicht minder skrupellos mit Nietzsche umspringt, als es dessen Nachlassverwalter mit ihrer Kompilation zum "Willen zur Macht" auch getan hatten. Doch Bataille hat alles Recht, seinen Meister nach seinem Bilde umzuformen und dennoch Elisabeth Förster-Nietzsche und Richard Oehler zum Judas zu stempeln. Ihr Nietzsche wurde in den Dienst einer Ideologie gestellt, Batailles Nietzsche aber bleibt aller Bindung ledig, bleibt souverän und damit Souverän - nicht über andere, sondern über sich selbst, weil er nur denjenigen dienen kann, die sind wie er. Nicht Interpretation ebnet den Weg zu Nietzsche, sondern Identifikation. Das "Nietzsche-Memorandum" ist auch ein Meisterstück Batailles, Gegenstand und Verfasser werden ununterscheidbar.

Der entscheidende Satz dazu findet sich an anderer Stelle, in einem kleinen Aufsatz von 1951, der den Titel "Nietzsche im Lichte des Marxismus" trägt. Zentrales Thema aller Studien Batailles zu dem deutschen Philosophen ist dessen Befreiung - von der Freundschaft der Faschisten und der Feindschaft der Sozialisten. Beide können Nietzsche nicht gerecht werden, weil sie ihn in Abgrenzung oder Annäherung wieder nur dienstbar machen wollen. So wäre auch Thomas Manns Verdikt, nicht Nietzsche habe den Faschismus gemacht, sondern der Faschismus Nietzsche, und zwar als Seismographen der Erschütterung, für Bataille undenkbar. Nietzsche ist ihm das erste Beispiel eines souveränen Menschen, der keinem Vorläufer mehr verpflichtet ist - und noch weniger einem Nachfolger. Die entscheidende Aussage lautet deshalb: "Niemand kann Nietzsche authentisch lesen, ohne Nietzsche zu ,sein'." Und Bataille ergänzt: "Ich verstehe darunter: ohne sich völlig in genau der Situation zu befinden, in der er sich befand." Das war die Situation der "inneren Erfahrung", des Verlustes jeden Rückhalts samt dem eigenen Selbst.

Das Werk Nietzsches wird für Bataille ein Vorlauf zur Krankheit, die darin kulminiert, dass Nietzsche seinen Kopf verliert. Die Zeitschrift, die Bataille zwischen 1936 und 1939, dem ersten Höhepunkt seiner Nietzsche-Begeisterung, herausgab, hieß "Acéphale" (Kopflos). Das, was sich später zur Souveränitätstheorie Batailles entwickeln sollte, ist bereits in den "Thesen zum Faschismus" von 1937 angelegt: "Frei sein bedeutet: nicht Funktion sein. Sich in eine Funktion einschließen lassen heißt: das Leben sich selbst verstümmeln lassen. Der Kopf, als bewusste Autorität oder Gott, stellt die Autorität der knechtischen Funktionen dar, die sich selbst für den Zweck ausgibt, folglich die, die der Gegenstand des lebhaftesten Abscheus sein muss." Als Nietzsche dem Wahnsinn verfiel, löste er durch den Verlust seines Kopfes seine These vom Tod Gottes ein. Erst als er ihn in sich tötete, indem er den Kopf verlor, hatte er die Konsequenz aus seiner eigenen Lehre gezogen: Auch er selbst als Führer zu dieser Erkenntnis musste zugrunde gehen, sollte es nicht neue Autorität beim Versuch geben, ihm nachzufolgen: "Das Leben fordert versammelte Menschen, und die Menschen versammelt nur ein Führer oder eine Tragödie. Die menschliche Gemeinschaft OHNE KOPF suchen heißt die Tragödie suchen: die Tötung des Führers ist selbst eine Tragödie; sie bleibt Erfordernis der Tragödie."

Bis 1956 sollte dieses Ideal von Bataille in die Formulierung umgegossen werden: "Allein der, dessen Wahl im Augenblick nur vom Gutdünken abhängt, ist souverän." Doch diese Souveränität erfordert auch die Lösung von aller Philosophie, die diese Entscheidung beeinflussen könnte. Nietzsches Wahnsinn ist somit Resultat des Dilemmas, nicht souverän sein zu können, ohne alles aufzugeben; er ist die erste souveräne Entscheidung, die Nietzsche getroffen hat, und für Bataille auch seitdem die letzte geblieben. Die Konsequenz daraus wäre für denjenigen, der gemäß Batailles Forderung Nietzsche sein will, dass auch er wahnsinnig werden müsste, aber das ist ein Trugschluss, weil diese Nachfolge keine freie Entscheidung wäre. Niemand wird umhin, kommen, seinen eigenen Weg zur Souveränität zu gehen, um wie Nietzsche zu sein.

Mit dem Erreichen der Souveränität kann Nietzsches Leben kein Interesse mehr für Bataille beanspruchen. Er ist fortan jenseits von Tod und Leben. Deshalb bezeichnen die "letzten Jahre" bei Bataille die Zeit vor 1889. Er klammert die eigentlichen letzten Lebensjahre, die elf Jahre des Wahnsinns, aus - und es ist bemerkenswert, dass die deutsche Übersetzung sie wieder einklammert, wenn sie in die Mitte der Formulierung von den "letzten Lebensjahren" das Wort "bewussten" einschiebt.

Die unbewussten Jahre sind diejenigen, in denen Nietzsche als "Dionysos" unterzeichnete oder als "der Gekreuzigte". Batailles Konzept der Souveränität setzt solch ein Opfer voraus. Zentrales Stück seines Buches "Innere Erfahrung" ist das Kapitel "Die Marter", und mit dem Titel nimmt Bataille als verbindendes Element zwischen Christus und Dionysos das auf, was Karl Jaspers noch genau umgekehrt als das für Nietzsche trennende Element zwischen beiden gedeutet hatte: die jeweilige Form des gewaltsamen Todes - die Kreuzigung und der zerstückelte Leib. Doch sosehr das Fragmentarische von Nietzsches Schreibstil Hommage an den zerteilten Dionysos sein mag, so überzeugend weist Bataille nach, wie tief die Verzweiflung des Philosophen empfunden war, wenn er den Tod Gottes beschwor. Gegen Jaspers' Vermutung, dass der Tod am Kreuz für Nietzsche Ausdruck der "Anklage gegen das Leben" gewesen sei, setzt Bataille in seiner Auseinandersetzung mit dieser Interpretation ein nachgelassenes Fragment: ",Christus am Kreuze' ist das erhabenste Symbol - immer noch."

Es ist die Größe dieses Opfers, die Nietzsche und Bataille fasziniert. In seiner Nachfolge wurden Menschenopfer unmöglich gemacht, denn die Kreuzigung Christi galt fortan als "das schwärzeste aller Verbrechen", wie Bataille im Nietzsche-Kapitel der "Inneren Erfahrung" ausführt. Damit aber konnten die Menschen Gott nichts mehr zurückgeben; ihre Schuld war festgeschrieben bis in alle Ewigkeit - oder bis mit Gott auch die Schuld starb, denn in der Aufgabe Gottes durch die Menschen liegt ein Opfer, das endlich dem Einsatz angemessen ist und damit auch den erlöst, dem Bataille zu Beginn der "Marter" ein Gebet widmet: "O Gottvater, der Du in einer Nacht der Verzweiflung Deinen Sohn kreuzigtest . . ."

Das ist dieselbe Verzweiflung, die die "innere Erfahrung" ausmacht, das einzige göttliche Gefühl, das sich dem Menschen eröffnet. "Wer einmal begriffen hat, daß allein der Wahnsinn den Menschen vollenden kann", schreibt Bataille in seinem Artikel zum fünfzigsten Jahrestag des Zusammenbruchs Nietzsches, "wird so mit aller Klarheit dazu gebracht zu wählen - nicht zwischen Wahnsinn und Vernunft, sondern zwischen der Schwindelei von einem Alptraum, der zum Schnarchen berechtigt, und dem Willen, sich selbst zu befehlen und zu siegen." Bataille folgt damit Zarathustras Aussage: "Stets, wenn es befiehlt, wagt das Lebendige sich selbst daran. Ja noch, wenn es sich selber befiehlt: auch da muss es sein Befehlen büssen. Seinem eigenen Gesetz muss es Richter und Rächer und Opfer werden." In den Visionen des "Zarathustra" sieht Bataille die Heraufkunft eines Menschen, der dasselbe Opfer gebracht hat wie Gott: sich selbst, und Nietzsche entsprach in seinem Wahn, Dionysos zu sein, ganz dem Anspruch Batailles, dass nur das verstanden werden kann, was man selbst ist. Nietzsche nimmt für Bataille somit viel mehr ein als den Rang eines Gottestöters; er ist auch die Wiederkehr des göttlichen Prinzips. Die wiederholten Blitzmetaphern im "Zarathustra", die auch zahlreich ins "Nietzsche-Memorandum" Eingang gefunden haben, weisen abermals zurück auf Dionysos, der nach der Überlieferung des Meleagros aus dem vom Blitz gespaltenen Leib seiner Mutter geboren worden sein soll. Und so wie der Blitz den Gott hervorbrachte, so predigt Zarathustra: "Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!"

Die Lehre vom Übermenschen hat uns den "Zarathustra" vergiftet, jenes Buch, das Nietzsche geschrieben hat, weil ihn die Dichter, die doch die größten Möglichkeiten besitzen, das Volk zu erreichen, philosophisch enttäuscht haben: "Die höchsten tragischen Motive sind bisher unbenutzt geblieben: die Dichter wissen von den hundert Tragödien des Gewissens nichts aus Erfahrung." Diesem Übelstand sollte der "Zarathustra" abhelfen, und Bataille liest ihn schließlich als "auf einen Anderen projizierten Ausdruck von Nietzsches eigener Subjektivität". Deshalb sei dieses Buch kein Beispiel souveräner Kunst, weil es sich dem literarischen Ausdruck verdankt, nicht aber der Wahrheit von Nietzsches tragischer Existenz. Zarathustra strebt noch nach der Macht, die aber mit der Souveränität unvereinbar ist, weil sie der singulären Subjektivität des souveränen Individuums nichts abgewinnen kann: "Im besten Fall sind die souveränen Menschen von den Herrschenden getrennt", lautet einer von Batailles Kommentaren im "Nietzsche-Memorandum".

Dort wird Nietzsches Ruf nach neuen Autoritäten, der im "Zarathustra" seinen eklatanten Ausdruck findet, als überflüssig abgetan. Hier beginnt die Umwertung von Nietzsche durch denjenigen, der wie er sein will, aber aus Gründen der Souveränitat das nur dann sein kann, wenn er einem Nietzsche gleicht, den er sich selbst erschaffen hat. Dieser Nietzsche "war so weit von der Macht entfernt, von der er sprach (auf die er meines Erachtens zu Unrecht einen expliziten Nachdruck legte, der in seinem Werk selber implizit auf der Souveränität liegt . . .)". In der Klammer wird Nietzsche 1 kritisiert, das Original, während außerhalb von Nietzsche 2 die Rede ist, dem Nietzsche, der Bataille sein will.

So wird denn auch der Übermensch nicht länger als Machtmensch verstanden, sondern als ein freier Geist im Sinne Zarathustras, der aber nicht länger nur frei von allen moralischen Anwandlungen ist, sondern souverän, also einsam und nie in der Gefahr, unmoralisch handeln zu können. "Frei verdient ein Geist genannt zu werden, der sich fernhält von Richtern und Henkern", dekretiert Bataille 1949 in "Nietzsche und die Moral". Im Verzicht auf die Autorität kehrt der kopflose Mensch der Vorkriegszeit wieder, der schon in den "Thesen über den Tod Gottes" von 1937 mit dem Übermenschen "verbunden und vermischt" ist. Damals aber fanden beide noch ihre Gemeinsamkeit in der Zerstörung, die den Weg frei macht für eine neue Gesellschaft von Erleuchteten ohne Führung. 1949 richtet sich das zerstörerische Potential Nietzsches nur noch gegen sich selbst und seine Wiedergänger. Der Übermensch ist keinem mehr gefährlich, weil er souverän sein will.

Vor diesem Hintergrund gelesen, verliert "Zarathustra" seine Schrecken von Herrscherklasse und Zuchtauswahl. Wenn sich der Prophet im "Honig-Opfer" selbst definiert als "ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: ,Werde, der du bist!'", dann wird daraus in Batailles Umwertung eine Aufforderung zum Wagnis der Selbsterkenntnis. Allerdings zu einer, die ein völlig isoliertes Individuum hervorbringt. In der "Methode der Meditation", die er 1947 der "Inneren Erfahrung" anhängte, hat Bataille die entscheidende Frage gestellt: "Wenn es der Philosophie um das Sein geht, das sich bemüht, seine Grenzen zu erreichen, dann hat sie zuerst in der Person des Philosophen ein vorrangiges Problem zu lösen: ist diese Beschäftigung (sich zu bemühen, seine Grenzen zu erreichen) dringlich? für mich? für den Menschen allgemein?" Nietzsche hat eine Antwort darauf gefunden, die im Wahnsinn endete. Bataille nahm ein halbes Jahrhundert danach die Stücke auf - und setzte einen neuen Dionysos zusammen.

Georges Bataille: "Wiedergutmachung an Nietzsche". Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte. Batterien 62. Herausgegeben und mit einer Studie von Gerd Bergfleth. Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth und Bernd Mattheus. Matthes & Seitz, München 1999. 410 S., geb., 68,- DM.

Georges Bataille: "Die innere Erfahrung". Batterien 65. Herausgegeben und aus dem Französischen von Gerd Bergfleth. Matthes & Seitz, München 1999. 350 S., geb., 68,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Um nichts weniger als eine Umwertung Nietzsches handle es sich hier, schreibt Andreas Platthaus in einer Doppelsprechung der Matthes & Seitz-Bände 1) "Wiedergutmachung an Nietzsche" und 2) "Die innere Erfahrung". So wichtig nimmt die FAZ diese Neuübersetzungen Batailles, dass sie ihnen den Aufmacher des Sachbuchteils in der Messebeilage widmet.
Die jahrzehntelange starke Nietzsche-Rezeption in Frankreich, die den nach dem Krieg Geschmähten am Ende auch in Deutschland wieder hoffähig machte, gehe ganz wesentlich auf Batailles Bücher zurück, die direkt vor oder nach dem Krieg geschrieben wurden, so Platthaus. Etwas wolkig klingen Platthaus` Paraphrasen Batailles dann aber doch: Bataille treibe hier eine Philosophie der Souveränität, die Nietzsche ihm durch seinen Schritt in den Wahnsinn vorgelebt habe. Denn den Wahnsinn scheint Bataille tatsächlich als Nietschzes "