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Eine ganz und gar buchenswerte Neuentdeckung [und] ein bewegendes Ton-Dokument.
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung
Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung
Thomas Manns erste Worte nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem europäischen Kontinent standen im Zeichen Nietzsches. Zur Eröffnung des XIV. Kongresses des internationalen PEN-Clubs in Zürich hielt Mann den vielbeachteten und couragierten Vortrag Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Die Rede steht am Ende und Höhepunkt von Manns jahrzehntelanger vielseitiger und kontroverser Beschäftigung mit dem deutschen…mehr

Produktbeschreibung
Eine ganz und gar buchenswerte Neuentdeckung [und] ein bewegendes Ton-Dokument.
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung

Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung
Thomas Manns erste Worte nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem europäischen Kontinent standen im Zeichen Nietzsches. Zur Eröffnung des XIV. Kongresses des internationalen PEN-Clubs in Zürich hielt Mann den vielbeachteten und couragierten Vortrag Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Die Rede steht am Ende und Höhepunkt von Manns jahrzehntelanger vielseitiger und kontroverser Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen. Der Vortrag wurde damals vom Schweizer Radio aufgenommen und live gesendet, ein Mitschnitt wurde in den Radioarchiven aufbewahrt. Die Beiträge zu Friedrich Nietzsche veröffentlichen das Tondokument nach über 60 Jahren erstmals in voller Länge.

Vor dem eigentlichen Nietzsche-Vortrag ist eine - in der gedruckten Version nicht enthaltene - kleine Hommage Thomas Manns an die Schweiz und ihren europäischen Geist zu hören.

"Wie zeitgebunden, wie theoretisch auch, wie unerfahren mutet uns Nietzsches Romantisierung des Bösen heute an! Wir haben es in seiner ganzen Miserabilität kennengelernt und sind nicht mehr Ästheten genug, uns vor dem Bekenntnis zum Guten zu fürchten, uns so trivialer Begriffe und Leitbilder zu schämen wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit."
Thomas Mann
Autorenporträt
Thomas Mann, geb. 1875 in Lübeck, wohnte seit 1894 in München. 1933 verließ er Deutschland und lebte zuerst in der Schweiz am Zürichsee, dann in den Vereinigten Staaten, wo er 1938 eine Professur an der Universität in Princeton annahm. Später hatte er seinen Wohnsitz in Kalifornien, danach wieder in der Schweiz. Er starb in Zürich am 12. August 1955. Thomas Mann zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns umfangreiches und vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Für seinen ersten großen Roman Die Buddenbrooks erhielt er 1929 den Nobelpreis für Literatur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2005

Kühe, Weiber, Engländer und andere Demokraten
Eine ganz und gar buchenswerte Neuentdeckung: Der Radio-Mitschnitt von Thomas Manns Nietzsche-Vortrag
Als Thomas Mann, von England mit dem Flugzeug anreisend, Ende Mai 1947 zum ersten Mal nach neun Jahren wieder Schweizer Boden betrat und Quartier in Zürich nahm, erfüllte ihn die Empfindung gerührter Wiedersehensfreude. „Pfingst-Feiertage im reizenden Zürich”, heißt es im Tagebuch am 28. Mai. „Starke Wärme. Ich ging heute in der Sonne allein am See hin und nahm einen Wermut vor dem ,Frascati‘, wo ich oft vor 9 Jahren von der Stadt kommend auf K. gewartet, wenn sie mit dem Wägelchen kam. (. . .) Wie sehr fühle ich mich durch Bilder, Menschen, Atmosphäre an alte Zeiten erinnert. Lektüre der N.Z.Z. u. der Nationalzeitung. Vorzügliche Mahlzeiten in eleganteren und traulicheren Wirtschaften.-”
Für diese Stimmungen gibt es ein bewegendes Ton-Dokument. Wenige Tage nach dem Wiedersehenseintrag im Tagebuch, am 3. Juni 1947, hielt Thomas Mann am XIV. Kongress des PEN-Clubs in Zürich seinen großen, den „Faustus”-Roman begleitenden und auch essayistisch abrundenden Vortrag über „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung”. Genauer gesagt, trug er eine von Tochter Erika um 20 Seiten, also genau die Hälfte, gekürzte Version des Textes vor, in einer Rede, die genau 68 und eine halbe Minute lang dauerte.
Davon hat sich ein bisher unbekannter Mitschnitt des Schweizer Radios, das den Vortrag damals live übertrug, in den Zürcher Radioarchiven erhalten - in mehr als drei Dutzend schwerer Schellackplatten mit der Umdrehungszahl 78. Dieses Schallzeugnis hat der Nietzsche-Forscher David Marc Hoffmann kürzlich aufgefunden. Hoffmann hat eine ausführliche Geschichte des Nietzsche-Archivs geschrieben; sie ist das zentrale Standardwerk zur Nietzsche-Rezeption und Nietzsche-Politik nach dem Tod des Philosophen, und in den Zusammenhang seiner Forschungen gehört das einzigartige Thomas-Mann-Dokument.
Nur eine Fast-Heimreise
Hoffmann hat es soeben in den „Beiträgen zu Friedrich Nietzsche” des Basler Schwabe Verlags (des Burckhardt- und Wölfflin-Verlags mithin) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht - als Scheibe zum Anhören und auch zum vergleichenden Mitlesen als Faksimile der ungekürzten ersten Ausgabe von Thomas Manns Vortrag, die im Herbst 1947 im achten Heft der Neuen Rundschau des Bermann-Fischer Verlages in Stockholm herauskam.
So beschert uns die Nietzsche-Forschung den schönsten, berührendsten Beitrag zum Thomas-Mann-Jahr 2005. 1947 reiste der Schriftsteller noch nicht in sein zerstörtes Vaterland, das ihm die Lust am Wiedersehen durch hässliche Debatten über Emigration und innere Emigration zunächst versalzen hatte. Aber es war doch seine erste Europa-Reise nach dem Krieg und nach der schweren Krankheit mit Operation, von der die „Entstehung des Doktor Faustus” berichtet. Keineswegs selbstverständlich stellte sich also diese Fast-Heimreise dar. Dazu kam, dass Mann, nachdem er den Vortrag in englischer Sprache zunächst zweimal in Amerika, dann in London gehalten hatte, nach langen Jahren erstmals wieder vor einem deutschsprachigen Publikum auftrat.
Die Spannung dieses Moments ist auf dem Mitschnitt fast mit Händen zu greifen. Thomas Mann beginnt nicht gleich mit dem Vortrag, sondern schickt dem Anlass ein paar Bemerkungen voran, in denen er bekennt, wie sehr es ihn rühre, nun wieder europäischen Boden unter seinen Füßen zu spüren; er preist die Schweiz als geistiges Kernland Europas, ohne den Dank an Amerika zu vergessen, den jungen, gastfreundlichen Kontinent. Hier spricht ein Entronnener, ein Heimkehrender - und er spricht mit der säuberlichen, gefassten Deutlichkeit, die sich keine Verschleierung der Stimme durchgehen lässt, wie sie in diesem Augenblick so nahe gelegen hätte; aber er redet eben doch ein wenig tastend und leicht stockend.
Doch „die Zeit ist kostbar, und es ist sehr warm”: So macht sich der Vortragende hurtig an sein Geschäft, und mit seiner besten, poliertesten Rezitationsstimme bewältigt er seinen heiklen Gegenstand mit gewohnter Bravour. Nach einem erzählerisch-biographischen Präludium, welche die Krankengeschichte des Denkers mit „Ehrfurcht und Erbarmen” umreißt und das von Erika mit klugem Takt fast unangetastet belassen wurde, kommt Thomas Mann zu dem, was er als Nietzsches zwei Hauptirrtümer versteht: Erstens „die Verkennung des Machtverhältnisses zwischen Instinkt und Intellekt auf Erden” (so als müsse man den Instinkt gegen den Intellekt beschützen und nicht umgekehrt) und zweitens, „das falsche Verhältnis, in das er Leben und Moral zu einander bringt, wenn er sie als Gegensätze behandelt”.
Bei diesem Punkt verweilt der Redner länger als beim ersten. Ethik sei Lebensstütze, nicht lebensfeindlich, und der wahre Gegensatz sei der zwischen Ethik und Ästhetik. Das sehe man doch am Vergleich zwischen Juden und Griechen. „Die Juden haben sich, dank ihrer Moralität, als gute und ausharrende Kinder des Lebens erwiesen. Sie haben, nebst ihrer Religion, ihrem Glauben an den einen gerechten Gott, die Jahrtausende überdauert, während das liederliche Ästheten- und Artistenvölkchen der Griechen sehr bald vom Schauplatz der Geschichte verschwunden ist.”
Thomas Mann nähert sich zeitgenössischen Erfahrungen seines Publikums. Behaglich zitiert er eine Aufzählung von Friedrich Nietzsche, die „Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andere Demokraten” in eine verächtlich-süffige Reihe bringt. Hier - nach über dreißig Minuten - regen sich zum ersten Mal die bisher lautlos lauschenden Zuhörer und lassen ein Gelächter vernehmen. Und nun endlich löst sich die Spannung im offenbar warmen Saal an diesem Juni-Tag. Als Mann auf Nietzsches Züchtungsphantasien und ihre realen Folgen zu sprechen kommt - „Wer hat jüngst die Kraft zu dieser Verantwortung besessen, diese Größe frech sich zugemutet und die hohe Pflicht, Menschen hekatombenweise zu opfern, ohne Wanken erfüllt? Eine crapule größenwahnsinniger Kleinbürger, bei deren Anblick Nietzsche sofort von schwerster Migräne mit allen ihren Begleiterscheinungen befallen worden wäre” - da rauschen Beifall und Lachen auf.
Mündelsichere Anlagen
Applaus ist kurz danach noch einmal zu hören, als der Redner Nietzsches „Rodomontaden von der kulturerhaltenden und selektiven Funktion des Krieges” als „Phantasien eines Unerfahrenen, des Sohnes einer langen Friedens- und Soliditätsepoche mit ,mündelsicheren Anlagen‘, welche sich selbst zu langweilen beginnt”, charakterisiert. Sehr ernst entwickelt darauf Thomas Mann ein neue, alternative Nietzsche-Deutung, die versucht, sozialistische, freiheitliche Motive bei dem Denker herauszupräparieren, einen überbürgerlichen Humanismus und ein Weltregierungsdenken, das sich passgenau in die Lage und die Stimmungen des Jahres 1947 fügt. Man dürfe Nietzsche nicht „eigentlich” und „wörtlich” nehmen, sondern müsse den Freiheitssinn unter dem unverantwortlichen ästhetischen Phantasiewerk von Sklaverei, Krieg, Gewalt, herrlicher Grausamkeit wahrnehmen.
Die kluge Tochter, die vom abhandlungshaften Mittelteil der Rede ganze Seiten entfernte - übrigens ohne viel Verlust an gedanklicher Stringenz -, hat den aufrufhaften Schluss wiederum nur wenig gekürzt. Religion sei Ehrfurcht, notwendig sei eine Wandlung des geistigen Klimas, ein neues Gefühl für die Schwierigkeit und den Adel des Menschseins. „Dass Philosophie nicht kalte Abstraktion, sondern Erleben, Erleiden und Opfertat für die Menschheit ist, war Nietzsches Wissen und Beispiel.” Minutenlanger Beifall umbrandet Thomas Mann nach der schönen Schlusskadenz, die Nietzsche als „Gestalt von zarter und ehrwürdiger Tragik, umloht vom Wetterleuchten dieser Zeitwende” vor Augen stellt. Ein einziges Mal in dieser langen Stunde hat der über Siebzigjährige sich versprochen, sonst ist sein Vortrag von tadelloser Perfektion - auch das eine Leistung, die buchenswert erscheint.
GUSTAV SEIBT
THOMAS MANN: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Text und CD der Tonaufnahme des Vortrags am XIV. Kongress des Penclubs in Zürich am 3. Juni 1947. Beiträge zu Friedrich Nietzsche, herausgegeben von David Marc Hoffmann. Schwabe Verlag, Basel 2005. Ungefähr 69 Minuten und 43 Seiten, 24,50 Euro.
Friedrich Nietzsche auf dem Krankenlager in Weimar, Villa Silberblick, 1899. Ölskizze von Hans Olde (1855-1917).
Foto: akg-images
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gustav Seibt preist diese Aufnahme eines Vortrags über Nietzsches Philosophie, den Thomas Mann 1947 vor dem PEN-Club in Zürich gehalten hat und der nun nebst dem ungekürzten Text als Faksimile auf CD vorliegt, als "schönsten, berührendsten Beitrag zum Thomas-Mann-Jahr 2005". Mann befand sich nach seiner Emigration erstmals wieder in Europa, und im leichten Stocken der Anfangsworte lässt sich die innere Bewegung des Schriftstellers ablesen, so der Rezensent berührt. Dann aber, wie Seibt bewundernd feststellt, spricht Mann in "bester, poliertester Rezitationsstimme" und mit der "gewohnten Bravour", wobei er auch die jüngsten Erfahrungen des Krieges anspricht. Der Rezensent zeigt sich auch von den Kürzungen, die Erika Mann am Text für den Vortrag vorgenommen hat, sehr eingenommen, denn sie hat die "Krankengeschichte" Nietzsches "mit klugem Takt" fast in Gänze stehen gelassen und auch den "aufrufhaften" Schlussteil kaum gekürzt. Dafür habe sie den "abhandlungshaften" Mittelteil unerschrocken zusammengestrichen, wobei, wie der Rezensent betont, kaum Abstriche an der "gedanklichen Stringenz" zu bemerken sind. Dass sich der zum Zeitpunkt des Vortrags bereits über Siebzigjährige während des einstündigen Vortrags nur einmal "versprochen" hat, hebt Seibt abschließend als besondere Leistung hervor.

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