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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2015

Körperloser Märchenton
Janina Fialkowska debütiert beim Klavierfestival Ruhr

Märchen, Kobolde, Sommernächte, eine Hochzeit in den norwegischen Bergen - das klingt nach Fantasy oder nach Skandinavien-Urlaub. Oder nach Edward Grieg. Folkloristische Motive bestimmen die "Lyrischen Stücke" dieses norwegischen Komponisten, die er, verteilt über fast vier Jahrzehnte, komponierte, die also die Essenz seines Klavierschaffens darstellen dürften. Angeblich leichte Werke, wurden sie schon von unzähligen Klavierschülern verwurstet. Und laufen dabei durchaus Gefahr, unter falschen Händen zu holzschnittartigen Miniaturen zu verkommen. Groß ist deshalb das Verdienst von Janina Fialkowska an diesem Klavierfestival-Abend in der Wuppertaler Stadthalle!

Sie präsentiert eine Auswahl dieser kleinen, manchmal fast profanen Charakterstücke, und fesselnde Geschichten macht sie daraus. Mit "Es war einmal" op. 71,1 geht das los, Springtanz und elegische Außenteile klingen flockig und wie verklärt. Beim "Schmetterling" op. 43,2 flimmern die Skalen in der rechten Hand, jede Tonspielerei und Wirrung wird ausgekostet, während das tiefe Register nur angedeutet bleibt. Im Nu stellt Fialkowska eine mystische Atmosphäre her, etwas Unwirkliches zieht ein in den klamm beleuchteten Saal, und Griegs kleinen Stücken wächst dabei eine besondere Würde zu.

Janina Fialkowska ist jetzt vierundsechzig. Die kanadische Pianistin, eine der Grandes Dames des Klavierspiels und in Deutschland immer noch ein Geheimtipp, gibt endlich ihr Debüt beim Klavierfestival Ruhr. Sie ist kurzfristig eingesprungen, nachdem Maria João Pires absagen musste. Fialkowska, in ihrer Jugend von Arthur Rubinstein gefördert, hatte nach schwerer Krankheit 2002 eine Konzertpause eingelegt und blieb gleichwohl eine feste Adresse im Pianistenzirkus, den Kennern und Liebhabern wohlbekannt. Dem großen Publikum offenbar weniger: Die Reihen in der imposanten Stadthalle sind leider deutlich ausgedünnt, zum Trost spendiert das Festival Gratissekt für alle in der Pause.

Wer gekommen ist und bleibt, der wird weiter beschenkt. Diese Pianistin tritt als Einladende auf, nicht als Überwältigende. Die volkstümlichen Quinten im "Hochzeitstag auf Troldhaugen" op. 65,6 hält sie dezent zurück, genauso die krassen Stakkatowirbel beim "Kobold" op. 71,3. Trotzdem sind jede Note und jede dynamische Wendung fein durchgeformt und an der vorgesehenen Stelle. Fialkowska erschafft für uns eine detailfreudige und gleichzeitig zerbrechliche Landschaft. Anders der Eindruck im "Faschingsschwank aus Wien" op. 26 von Robert Schumann. Mit diesem sprunghaften Werk voll handfestem Melodientrubel wird Fialkowska zuerst nicht recht warm, es fehlt an Akzentuierungen im Kopfsatz, an Ecken und Kanten. Maurice Ravels "Jeux d'eau" dagegen klingt wie aus einem Guss. Springbrunnen und Bachläufe inspirierten diese an Debussy erinnernde Komposition, wie mit einer zehnfingrigen Hand wischt Fialkowska transzendente Klänge in einer Bewegung weg, lässt sie flirrend wieder aufsteigen, zaubert körperlose Klänge: Das obere Klavierregister beherrscht diese Pianistin unnachahmlich.

Zum Beschluss steht Frédéric Chopin auf dem Programm ihres Recitals. Geradezu harmoniesüchtig wirkt die "Polonaise fantaisie in As-Dur", alles scheint weich und sanft ineinanderzufließen. Gerade dank dieser Lesart ergeben sich freilich neue, modern klingende Reibungen, die diesem harmonisch delikaten Chopin-Spätwerk gerecht werden. Der feine Anschlag Fialkowskas ist stets aus der Situation geboren, ein assoziatives Spiel, das den Fantasiecharakter weiter unterstützt. Es entstehen Töne aus dem Nichts, die den Zuhörer nicht direkt anspringen, vielmehr piano und ein bisschen vernebelt daherkommen, auch wird das Offensichtlichste, also die Melodielinie, nicht eigens hervorgehoben. Gerade das macht Fialkowskas zurückhaltendes Chopin-Spiel so besonders und erfrischend, bis zum letzten Stück, der Ballade op. 52 f-moll.

Bei der Zugabe kann sich dann selbst ein scheinbar totgespielter Chopin-Walzer in etwas Großes, Unbekanntes verwandeln. Fordernd und fein sind solche Live-Konzerteindrücke, deshalb wohl auch flüchtig und wenig nachhaltig. Zum Glück hat Fialkowska erst vor kurzem die "Lyrischen Stücke" von Edward Grieg aufgenommen, für das Label Atma Classique.

MALTE HEMMERICH

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