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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2020

Liebesopfer für die Nachkommen

Luk Perceval inszeniert Mozarts "Entführung aus dem Serail" mit Dialogen von Asli Erdogan als lebensphilosophisches Nichtdrama.

Von Kerstin Holm, Genf

Mozarts Orient-Oper "Die Entführung aus dem Serail" ist schon auf so viele Arten aktualisiert worden. Das Singspiel über die Befreiung gekidnappter Frauen wurde ins Palästina der Kolonialkonflikte verlegt, in ein Bordell, ins Foltergefängnis von Abu Ghraib, doch als Parabel auf die existentielle Einsamkeit des Menschen, die zum Gefängnis wird, hat man es noch nicht erlebt. Als solche hat jetzt der Schauspielregisseur Luk Perceval die "Entführung" in Genf inszeniert, wobei er dem Stück alle Exotik austrieb und die frechen Dialoge durch Reflexionen aus Asli Erdogans Roman "Der wundersame Mandarin" ersetzte. Dadurch wird das Stück zugleich in Genf verortet. Denn Erdogans Text verarbeitet ihre Erfahrung dort als junge Physikerin, die sich in der reichen, aber auch multikulturellen und prekären Stadt nach Zuneigung sehnte und zugleich mit den sie umgebenden Menschen haderte.

Die Sprechtexte lässt Perceval von Schauspielern mit Mikroport vortragen, die er als betagtes Alter Ego der Sängersolisten buchstäblich neben diese stellt. So öffnen sich innere Räume. Der alte, vom weißhaarigen Joris Bultynck verkörperte Belmonte räsoniert über Alltagsnöte in der globalisierten Metropole, aber auch über seine Isolation und Gefühlsschwäche, bevor der Mozarttenor Julien Behr sich in der zärtlich antizipierenden Wiedersehensarie verströmt. Françoise Vercruyssen als alte Konstanze erinnert daran, wie einen Liebespartner erniedrigen, bevor die Sopranistin Olga Pudova in der Martern-Arie mit halsbrecherischen Koloraturen jegliche Unbill vorauseilend willkommen heißt. Das vergegenwärtigt zugleich sehr schön und höchst aktuell das Altern der Kultur, die ihren eigenen Verheißungen nicht mehr glaubt. Perceval, der im Beiprogramm dieser Produktion auch Yoga unterrichtete, macht aus seiner "Entführung" auch ein Drama über den Zusammenhalt der Generationen.

Das Bühnenbild von Philipp Bussmann besteht in einem Holzgerüstbau, der als Tempel oder Zufluchtsraum gleichsam ein Restskelett von Religiosität versinnbildlicht, um das herum eine urban diverse Statisterie sich tummelt. Die Machtfigur des Bassa Selim ist gestrichen, stattdessen rennen die jungen Statisten zur scheppernd auftrumpfenden Ouvertüre immer atemloser im Kreis und formieren sich beim Janitscharenjubelchor als fahnenschwenkender Demonstrationszug. Die kopflos atomisierte Gesellschaft, soll das wohl heißen, bringt den Autoritarismus selbsttätig aus sich hervor.

Befreiung heißt hier rückhaltlose Empathie und Hingabe an einen anderen. Die Solisten, von der Kostümbildnerin Ilse Vandenbussche in schlichte Anzüge und Retrokleider gehüllt, bewegen sich kontrapunktisch zur Menge. Pudova, die nach anfänglichen Fokussierungsschwächen durch virtuose Technik und schillernde Registerwechsel berückt, gestaltet ihre Sehnsuchtsarie mit inniger Glut, wobei die Regie sie leider einfallslos am Bühnenrand stehen lässt. Die junge Sopranistin Claire de Sévigné als Blonde verkörpert bei Perceval keine Dienerin, sondern ein durch brutale Partner traumatisiertes Mädchen, wie Iris Tenge als ihr nur wenig älteres Schauspiel-Ich verrät. Entsprechend singt Sévigné ihre Arie über den richtigen, nämlich zärtlichen Umgang mit Frauen amselklar und silbrig, dann aber auch mit beinahe schluchzendem Klageton. Denzil Delaere, der den Pedrillo als simplen Soldaten gibt, hat als einziger Solist keinen reflektierenden Schauspielerschatten. So dass Delaere, als er mit schönem Timbre das politisch inkorrekte Liedchen vom Mohrenlande intoniert, dafür durch seine Schlichtheit fast entschuldigt wirkt.

Die Partie des sadistischen Palastwächters Osmin wird in Genf zum Wutbürger, der den trunksüchtigen Giftgreis, der er einmal sein wird, im Rollstuhlkampfgefährt über die Bühne schiebt. Der grandiose Patrice Luc Doumeyrou macht aus dieser Sprechrolle, die vom Sänger-Ich Nahuel di Pierro immer wieder Richtung Orchestergraben geschubst und schließlich aus dem Sitz auf die Theaterbretter geschleudert wird, ein Kabinettstück. Grimmig verflucht Doumeyrou alle dummen Liebesleidenschaften und unterstützt die Übergriffe seines rabiaten "Pflegers" mit dem Pingpongschläger. Nur schade, dass dem elegant geführten Bass von di Pierro jegliche böse Buffoschwärze fehlt, von welcher der Osmin musikalisch lebt.

Die für das Stück zentrale Obsession durch Folter ist reine Psychologie geworden. Als Behr seinen Mutmachhymnus auf die Kraft der Liebe anstimmt, wird er zugleich zu deren Priester, der das schwarz-weiße Statistenhochzeitspaar durch Handauflegen segnet. Und di Pierros Henkertriumpharie besingt, wie sein am Boden kriechendes Double klarmacht, nur die unaufhebbare Sinnlosigkeit. Zum todbereiten Duett des hohen Paares trägt eine Statistin eine Säuglingspuppe an die Rampe, um die sich Pudova und Behr mit Vercruyssen und Bultynck wie Eltern und Großeltern gerührt gruppieren. Leidensbereitschaft meint hier, die eigene Liebe verglühen zu lassen, um spätere Generationen zu nähren.

Man folgt dieser philosophisch ambitionierten, aber zutiefst antidramatischen Deutung, die ab dem Sommer auch im Nationaltheater Mannheim gezeigt wird, mit Sympathie für die Bedeutungsnuancen, die sie in Mozarts Musik aufscheinen lässt. Doch die Verluste sind groß, die blitzende Glanzschicht des Stückes wird gleichsam abgetragen. Der Barockspezialist Fabio Biondi am Pult führt das Orchestre de la Suisse Romande mit federnder Leichtigkeit und Transparenz, arbeitet die Dialoge der Instrumenten- und Gesangsstimmen heraus, ohne freilich der Phrasierung Biss zu verleihen. Fast konsequent, dass das Schlussvaudeville durch Mozarts rührend die Empathie feierndes Lied "Ich würd' auf meinem Pfad" ersetzt wurde. Das Publikum, das den Sängern immer wieder applaudierte, quittierte die Regie mit Buhgeschrei im Fortissimo.

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