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2 Kundenbewertungen

Risiken abzusichern ist ihr Geschäft. Doch sie verstrickt sich in Unsicherheiten, trügerische Phantasien und Ängste. Brillant, packend und raffiniert erzählt Thomas von Steinaeckers großer Zeitroman von unserer Welt, in der alle Sicherheiten endgültig abhanden gekommen sind und unsere Sehnsüchte in die Irre führen. Ein schlau-präzises und gespenstisch-surreales Porträt unserer Gegenwart.
Renate Meißner wird versetzt, befördert und gewinnt für ihre Versicherungsgesellschaft einen großen Auftrag. Doch eine interne Evaluierung ergibt, dass in ihrer Abteilung Stellen gestrichen werden.
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Produktbeschreibung
Risiken abzusichern ist ihr Geschäft. Doch sie verstrickt sich in Unsicherheiten, trügerische Phantasien und Ängste. Brillant, packend und raffiniert erzählt Thomas von Steinaeckers großer Zeitroman von unserer Welt, in der alle Sicherheiten endgültig abhanden gekommen sind und unsere Sehnsüchte in die Irre führen. Ein schlau-präzises und gespenstisch-surreales Porträt unserer Gegenwart.

Renate Meißner wird versetzt, befördert und gewinnt für ihre Versicherungsgesellschaft einen großen Auftrag. Doch eine interne Evaluierung ergibt, dass in ihrer Abteilung Stellen gestrichen werden. Vielleicht war die Versetzung ein abgekarterter Spiel, um sie loszuwerden? Der große Auftrag ein Test? Sie reist nach Russland, um die Grande Dame hinter dem Projekt kennenzulernen, die Herrin über ein generationenaltes Vergnügungspark-Imperium. Die Greisin scheint erstaunliche Ähnlichkeiten mit Renates verschwundener Großmutter zu haben. In einer Welt futuristischer Jahrmarktsattraktionen verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Welcher Wirklichkeit ist noch zu trauen?
Thomas von Steinaeckers Roman entwirft ein großes Panorama, das mit Fotos, Zeichnungen und Tabellen die Möglichkeiten realistischen Erzählens auslotet und ein phantastisches Paranoia-Spiel in Gang setzt.
Autorenporträt
Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
Rezensionen
Ein meisterhaftes Abbild unserer Gesellschaft. Wiebke Porombka Frankfurter Allgemeine Zeitung

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Ulrich Rüdenauer hat ein Zitat des Autors Thomas von Steinaecker ausgegraben, demzufolge ein Autor nicht die "fantastischen Gegenbenheiten unserer Wirklichkeit" verkennen darf, Folge und Strafe einer solchen Vernachlässigung wären soziale Irrelevanz. Ob Steinaecker also seinem eigenem Anspruch gerecht wird? Er erzählt die Geschichte einer hyperrationale Versicherungsvertreterin, die sich aus ihrem Leben ausklinkt, als sie auf eine vermeintliche Wiedergängerin ihrer Großmutter stößt, die in Russland einen Europa-Vergnügungspark betreibt. Rüdenauer erzählt ausführlich diese Handlung nach und kommt zu dem etwas apodiktischen Schluss, dass Steinaeckers Roman soziale Relevanz beweist, da seine Heldin von einem anderen Leben träumen darf. Wir lesen das als Empfehlung, auch wenn Rüdenauer mit weitergehenden Urteilen hinterm Berg hält.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.03.2012

Finanzkrise und Seelen-Crash
Gefühlshaushalt als Drohkulisse: Thomas von Steinaecker arbeitet in seinem neuen Roman am Realismus-Problem heutigen Erzählens
Das Buch mit dem langen Titel beginnt als realistischer Roman und endet als Märchen. Es beschreibt dabei den Weg einer psychischen Gesundung. Gleichzeitig lotet sein ambitionierter Verfasser die Möglichkeiten der von ihm aufgegriffenen Genres aus, um zu einem hintergründigeren Bild der Gegenwart zu gelangen, als es ein Großteil heutigen Erzählens leistet. Vor vier Wochen hat Thomas von Steinaecker in der Welt beklagt, die vielen Romane, die sich heute mit dem altvertrauten Thema von Familienverhältnissen und Partnerschaftsproblemen beschäftigen, hätten die Funktion jener Unterhaltungssendungen und Kochshows, die uns nach den verstörenden Weltnachrichten über Terror und Wirtschaftskatastrophen wieder entspannen lassen: „Wellness-Literatur“ nennt er das.
Als Beispiel einer Sphäre, mit der solches gefälliges Schreiben nichts zu tun haben will, nannte Steinaecker die Versicherungsbranche, obwohl doch auch sie mit der Poetik eines permanenten Wechsels von Grusel – der wahrscheinliche Schaden, der unbedingt versichert werden muss – und Erleichterung – wir haben das richtige Produkt dafür – arbeitet. War Kafka nicht Versicherungsangestellter? War er nicht beschäftigt in einer labyrinthischen Bürokratie, die es mit der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichsten aufnehmen muss und dabei in einem unsichtbaren Dauerkrieg gegen ihre Kunden befangen ist? Denn er, der von Ängsten gepeinigte Kunde, soll ja vor dem Unheil zahlen, danach aber soll der Schadensfall möglichst gar nicht einschlägig sein: Unsexy, so eine kalt mit der Angst rechnende Tätigkeit!
Nun, Renate Meißner, 42, soeben, am 1. Oktober 2008, von Frankfurt nach München versetzt, ist eine ausgebuffte, auf dem Karriereweg nach oben hart gewordene Vermittlerin in einem großen Konzern. Die erste Bedeutung, die „Realismus“ hier hat, besteht in ausführlicher Abschilderung von Oberflächen, der heutigen Bürowelt, der Arbeitsabläufe mit dauerndem Mailen und Smartphone-Checken und den dahinter stehenden statistischen und psychologischen Kalkülen. Steinaecker geht gerade so tief in die Materie, dass der Leser nicht überfordert, gar gelangweilt wird: keine Versicherungsmathematik, dafür immerhin Klassifikationen je unterschiedlich querulatorischer Kunden, die mit erfahrener technokratischer Psychologie übers Ohr gehauen werden sollen.
Ein hässliches Gewerbe, das sich in einer abstoßenden Sprache vollzieht, die längst ins Denken und Fühlen der Protagonistin eingewandert ist. In einem Moment existenzbedrohenden Konflikts – sie soll gekündigt werden, angeblich wegen einer betriebsinternen Affäre mit einem Kollegen, in Wirklichkeit aber, weil der Konzern sich in der Finanzkrise verspekuliert hat – hat Renate Meißner folgende Überlegung parat: „Ein Profi wägt ab, ob die Zurschaustellung des eigenen Gefühlshaushalts als Drohkulisse angebracht ist oder spätere unerwünschte Konsequenzen mit sich bringen würde.“
Denn, ja: Das Geschehen des Romans verdichtet sich in den letzten dramatischen Wochen des Jahres 2008, als die Banken gerettet werden mussten und selbstbewusste Familienväter in einer Viertelstunde 40 Prozent ihrer Vermögen durch Kursstürze verloren, abgesehen davon, dass ihre Arbeitsplätze wegfielen. Suggestiv, aber auch etwas überdeutlich entfaltet der Roman im erfrorenen Ton seiner Ich-Erzählerin das furchtbare, nur noch mit Tablettenkonsum und zwanghafter Selbstdisziplin (dafür hat man „Seminare“ und autosuggestive Lebensregeln) zu überstehende, durch permanente Erfolgskontrolle und internes Spitzelwesen gepresste Arbeiten in solchen durchmonetarisierten Berufen. Hier schaffen schon Außenansichten jene „Realitätseffekte“ (Roland Barthes), die es dem Leser ersparen, die Geschäftsmodelle wirklich durchzurechnen – das hätte William Gaddis gemacht, aber 400 Seiten mehr gebraucht. Nebenbei: Wer die in Thomas Manns „Buddenbrooks“ genannten Zahlen zum Familienvermögen ernst nimmt, hat schon mehr Information als Steinaecker sie in seinem auch nicht ganz kurzen Buch bereitstellt.
Die emotional verdurstende Ich-Erzählerin, deren Absturzängste sich in dem peinlichen Zwang zeigen, Pfandflaschen zu sammeln, hat aber auch eine Familientragödie hinter sich; und als wolle Steinaecker seine Diagnose zur Gegenwartsliteratur durch märchenhafte Übererfüllung kontern, führt die analytische Auflösung dieses Unheils auf den Pfad der Heilung. Renate Meißner hat als Kind ihre Großmutter bei einem Auto-Unfall verloren, und dies soll auch die Ursache für die Trennung der Eltern gewesen sein. Kurz vor Romanbeginn ist nicht nur ihre Beziehung mit einem verheirateten älteren Mann in ihrer Firma zerbrochen, sondern auch ihre Mutter verstorben.
Der Wechsel vom Frankfurter Firmensitz zur Münchener Filiale – wie heute üblich, weitgehend Google-Maps-getreu dargestellt – bedeutet auch eine Rückkehr in die Welt der Kindheit. Aus ihr sind noch zwei Brüder übrig, außerdem eine Freundin, die sich mit albernen Kunstaktionen in Alltagsumgebungen über Wasser hält, bei denen Realität und Spiel ununterscheidbar verschwimmen. Dass Renate nicht in die Welt der Kunst gehört, signalisiert der Roman etwas überheblich mit Beweisen ihrer Unwissenheit: Sie hält den Dichter Stefan George für einen Expressionisten, der eine Zeitschrift „Die Fackel“ herausgebracht habe.
Damit sind die Voraussetzungen für einen Abstieg in den Hades früher Verletzungen geschaffen, bei dem der Autor auch die Erzählgattung wechselt, dem seelischen Crash seiner Heldin folgend. Aus Realismus wird Phantastik, eine Welt von paranoischen Winken und Bezügen. Auch der Leser beginnt Spuren zu lesen, die ihm das Buch durch eingestreute Bildchen, reale Zufallsfunde mit mehr oder weniger präziser Illustrationskraft, zur Verfügung stellt. Denn Renate Meißner erhält aus dem Nachlass der verstorbenen Mutter Hinweise, dass die Großmutter gar nicht umgekommen ist, sondern sich in einem fingierten Unfall nur aus einem unerträglichen Leben entfernt hat: War die Zerstörung der Kindheit also Folge umgeworfener Lebenspläne einer egoistischen Frau?
Ein Premiumkunde, dessen Baustellen versichert werden müssen, hat seine Eltern ebenfalls bei einem Autounfall verloren – und er bringt die Vermittlerin in jene Märchenwelt, die ihren Lebenskrampf löst. Ein russischer Fantasia-Land-Betreiber aus dem fernen Samara möchte einen Vergnügungspark bei München eröffnen, der unbedingt versichert werden muss. Inhaberin ist eine 97 Jahre alte Greisin, die aus Deutschland stammt und, in diesen Wahn versteigt sich Renate Meißner, in Wahrheit die verschwundene Oma sein könnte. Je, nun: Reise nach Samara, Traumwelten im dortigen Unterhaltungspark – kein Netz, Blackberrys unerwünscht! – langes, langes Gespräch mit der uralten Münchnerin, die sich immer noch an die herrlichen „Weißwürscht“ ihrer Kindheit erinnern kann, aber vor allem eine Geschichte deutscher Ausgewanderter in unverkennbarer Anlehnung an W.G. Sebald zu berichten hat (KZ-Erfahrungen inklusive), und die erstorbene Versicherungsmaklerin wird zum Gefühlsleben erweckt. Sie kann wieder weinen, und erstmals schläft sie ohne die mit pharmazeutischer Akribie aufgezählten Pillen, nämlich „erquickt“.
Dass ihr inzwischen gekündigt worden ist, dass weder sie noch ihre greisenhafte Gesprächspartnerin mehr geschäftsfähig sind, tut schon nichts mehr bei einem Menschen, der neu gelernt hat, was „Erquickung“ ist. Auch Renate Meißners Sprache – sie schreibt ihre Geschichte in einem Häuschen am Ufer der Wolga nicht mehr am Computer auf, sondern mit Hand – beginnt sich zu erwärmen. In einem Telefongespräch mit einem ihrer Brüder – sie wussten längst, dass die Großmutter nicht tot war, nur hatte das mit Samara nichts zu tun – erlebt Renate zum ersten Mal wieder, „dass Gemeintes und Gesagtes übereinstimmten“. Wir sind am Ziel.
Und das soll eine Antwort aufs Realismus-Defizit gegenwärtiger Literatur sein? Soll es lustig sein, gar eine Satire, oder traurig? Thomas von Steinaecker ist ein fintenreicher Stilist und Konstrukteur, dessen Roman nicht ganz unverdient für den Leipziger Buchpreis nominiert ist, aber diese Mischung von Gaddis, Pynchon und W.G. Sebald ist ihm zu leicht geraten.
GUSTAV SEIBT
THOMAS VON STEINAECKER: Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 389 Seiten, 19,99 Euro.
Nur mit Tablettenkonsum und
Selbstdisziplin ist ein solch
gepresstes Arbeiten zu überstehen.
„Heute war ich ein unverzichtbarer Teil der Firma“: Mit dem Wechsel von Frankfurt in die Münchner Filiale beginnt die Geschichte der Versicherungsfrau Renate Meißner. Foto: Alessandra Schellnegger
Ein fintenreicher Stilist: Thomas von Steinaecker Foto: Jürgen Bauer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012

Lasst uns die Systemfrage stellen

Was uns die Bücher dieses Frühjahrs erzählen: Die Terrorzelle der Gegenwart ist das Büro. Und eine Flucht daraus ist in der Welt, in der wir heute leben, unmöglich

Büros sind moderne Terrorzellen. Denn all die Wetten der Finanzmärkte, die gegen Staaten abgeschlossen werden, die ruinösen Spekulationen und irrationalen Entscheidungen, die unsere Zukunft bedrohen - sie werden schon lange nicht mehr auf dem Parkett der Börsen gefällt. Sie kommen aus Büros in London, New York, Frankfurt am Main oder aus denen der Offshore-Finanzplätze wie den Kaimaninseln in der Karibik. In diesen Büros - klimatisiert, mit feiner Adresse und ausgesuchtem Design - bestimmen Investmentbanker, Hedgefondsmanager, Angestellte von Rating-Agenturen und Zocker unsere Wirklichkeit. Und als wenn das nicht schon genug wäre, sitzen wir zur selben Zeit mit dreißig Millionen anderen Deutschen in unseren eigenen Bürozellen und terrorisieren uns untereinander. Mobbing, Selbstoptimierung, Coaching und Burnout nennen wir das.

Dieser Hölle entkommt man nicht. Schon gar nicht in der Literatur dieses Frühjahrs. Die Bücher nämlich, die man jetzt lesen kann, sind voller Controller, Versicherungsvertreter und Zwangsneurotiker. Es sind Bücher aus der bösen Welt der Angestellten, in denen mutwillig Abhängigkeitsverhältnisse eingegangen werden (die Affäre mit dem Vorstand), Belohnungsrituale ausgekostet (der Bordellbesuch für die männliche Belegschaft nach dem "Ergo"-Prinzip) und in denen die Angst vor der Entlassung den eigentlichen Leistungsantrieb darstellt.

Wer in der letzten Zeit den Eindruck hatte, das Angestelltenbüro sei vom Aussterben bedroht, es sei altmodisch und over, weil die jungen Kreativen der digitalen Boheme sich über den "unflexiblen Menschen" erhoben und die postbürokratische Ordnung jenseits der Festanstellung ausriefen, der wird jetzt ohne jede Romantik in die Normalität des Büroalltags zurückkatapultiert. Um "Co-Working Places" in wechselnden "Teamkonstellationen" geht es nicht. Es geht auch nicht um die "Home-Office"-Konzepte, Video- oder Skype-Konferenzen avancierter Unternehmen, die es den Angestellten erlauben, zu Hause zu bleiben. Es geht um Büros als Orte der Unfreiheit. Die meisten Menschen arbeiten genau da.

Was sind das also für Bücher? Gleich zwei Angestelltenromane stehen auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. Es sieht in ihnen und auch sonst überhaupt nicht gut aus für die Angestellten: In Thomas von Steinaeckers "Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen" wird die Versicherungsvertreterin eines großen Münchner Unternehmens mitsamt ihrer ganzen Abteilung wegrationalisiert. Jens Sparschuhs "Im Kasten" lässt den dem Ordnungswahn verfallenen Mitarbeiter einer Firma für Auslagerungs- und Haushaltsordnungssysteme in eine Zwangsjacke stecken. Christoph Bartmann, Leiter des Goethe-Instituts in New York und "Angestellter aus Leidenschaft", wie er sich nennt, hat einen Essay über das "Leben im Büro" geschrieben, den er gut gelaunt mit dem Protokoll eines seiner Bürotage beginnt, um eine niederschmetternde Analyse des Büros von heute folgen zu lassen. Alain de Botton besucht in seinem Reportagebuch über die "Freuden und Mühen der Arbeit" ein Büro für Wirtschaftsprüfung, in dem der Arbeitsbeginn das "Aus für die Freiheit" bedeutet.

Und wie es aussieht, wird es so weitergehen: Gerade sitzt Ulrich Blumenbach an der Übersetzung des nachgelassenen Romanfragments von David Foster Wallace, "The Pale King", über den Alltag in einer Steuerbehörde der amerikanischen Provinz, deren fünfstöckige Fassade das Mosaik eines Einkommensteuererklärungsformulars zeigt; die Kästchen zum Ankreuzen dienen als Fenster. Im Juli schließlich soll Rainald Goetz' ungeduldig erwarteter "Johann Holtrop" erscheinen, laut Suhrkamp-Verlag ein Roman über einen Vorstandsvorsitzenden in Deutschland in den nuller Jahren, Herr über 80 000 Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von fast zwanzig Milliarden weltweit, den Egomanie, die Verachtung der Arbeit, die Verachtung der Gegenwart und die Verachtung des Rechts ins wirtschaftliche Aus und gesellschaftliche Nichts abstürzen lassen.

Es ist dabei sicher kein Zufall, dass es in diesen Büchern um Angestellte aus allen Etagen geht (selbst der Vorstandsvorsitzende ist ja ein Angestellter seines Unternehmens). Denn die Angestelltenkultur der Gegenwart hat sich in eine Kultur des Managertums verwandelt: "Aus Behörden sind Agenturen geworden und aus Beamten und Angestellten, zumindest auf dem Papier, unternehmerisch handelnde Subjekte", schreibt Christoph Bartmann. "Eines dieser Subjekte bin ich. Ich bin, ohne gefragt worden zu sein, zum Manager geworden. Wir alle sind Manager geworden."

Das bedeutet, dass es sich bei Menschen im Büro schon längst nicht mehr um eine fremdbestimmte Masse von Befehlsempfängern handelt, die pflichterfüllt abarbeitet, was ihnen aufgetragen wird. Die gibt es zwar auch noch. Sie gibt aber nicht den Ton an. Die neuen Angestellten sind "Virtuosen des Selbstmanagements, flexibel und hochmotiviert". Sie sind freiwillige Selbstoptimierer, denen ständig eine Zielvereinbarung mit sich selbst im Nacken sitzt. Sie steuern sich selbst, in aller Regel sogar gut, im Einklang mit den Zielen der Organisation, weil sie diese Ziele ja selbst formuliert und vereinbart und ihnen auf der anderen Seite des Verhandlungstisches selbst zugestimmt haben. "Kein autoritärer Chef nötigt uns, die Dinge zu tun, die wir tun, wir nötigen uns selbst", schreibt Christoph Bartmann in seinem lesenswerten Buch und endet mit einer brutalen Einsicht: "Nie waren wir so frei im Büro, und nie zuvor waren wir so dressiert."

Das verändert auch die Situation der Angestelltenliteratur. Die Bürogestalten, die die Literatur des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat, bei Georg Kaiser, Robert Walser oder Fernando Pessoa, waren Männer ohne Qualitäten und Besonderheiten, Wesen ohne Botschaft, durch die alle Aufträge hindurchgingen. Es waren "Angestellte", die, wie Siegfried Kracauer es formuliert hat, "von sich nicht sprechen können" und deren Gesichtsfarbe man sich immer leitzordnergrau vorstellte.

Interessanterweise hieß das nicht, dass sie ohne subversives Potential und ohne Macht waren. Herman Melvilles Schreiber "Bartleby" führt das mit seinem berühmten Arbeitsverweigerungssatz "I wouldprefernot to", ich möchte lieber nicht, genauso vor wie Sekretärinnen, die entscheiden, wer zum Chef durchkommt und wer nicht - und darin an den Türhüter in Franz Kafkas Erzählung "Vor dem Gesetz" erinnern, bei dem man vergeblich um Einlass bittet: "Es ist möglich", heißt es da, "jetzt aber nicht." Und: "Wenn es dich so lockt, versuche, trotz meines Verbots hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig."

In der Büroliteratur der Gegenwart ist es genau umgekehrt: Renate Meißner, die Heldin der Selbstoptimierung aus Thomas von Steinaeckers Roman "Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen", stellvertretende Abteilungsleiterin im Versicherungskonzern CAVERE, 42 Jahre alt, die sich mit Medikamenten fit hält, in Statistiken oder Kausaldiagrammen aus Lebenslogikseminaren denkt und sich selbst Managerin nennt, trägt nicht grau, sondern Chanel und Salvatore Ferragamo. Sie weiß sich zu präsentieren und zu verkaufen, wie es Berater und Coaches Arbeitnehmern als unbedingtes Muss nahelegen. Jeden Tag schreibt sie sich eine E-Mail mit einer "Performance-Eigenevaluation", in der sie sich Punkte gibt. Dafür ist von Subversion keine Spur. Im Gegenteil. Innerhalb der Optimierungslogik würde sich eine Geste der Weigerung oder der Blockade ja gegen einen selbst richten. Die Devise lautet: Übererfüllung.

"Wie: Ende?", schreit sie in Steinaeckers Roman am Telefon deshalb ihren Kollegen an, der ihr mitteilt, dass die ganze Abteilung aufgelöst wird, Beschluss von ganz oben: "Haben sich verspekuliert, die Herren aus dem Vorstand. Mit faulen Papieren. Im schönen Amiland. Und wir dürfen das jetzt ausbaden." Renate Meißner ist völlig fassungslos. CAVERE ist seit zwölf Jahren ihr Zuhause. Sie meint CAVERE und sagt: wir. Sie sagt nicht: Wie geht es uns, sondern: Wie geht es uns noch besser. CAVERE hat einen Traum. Die Steigerung der Quartalszahlen. In ihrem 11-Quadratmeter-Büro hat auch sie diesen Traum geträumt. Warum sollte man jemanden, der alles immerzu so überrichtig gemacht hat, rausschmeißen?

Entweder wird man zum Opfer der Irren - oder man wird selbst irre: Das ist es, was uns die neuen Angestelltenromane erzählen. Irre wird der ordnungsbesessene Hannes Felix aus Jens Sparschuhs Roman "Im Kasten", Angestellter der Firma NOAH, was für "Neue Optimierte Auslagerungs- und Haushaltsordnungssysteme" steht. Sein Fall ist der einer pathologischen Pflichtübererfüllung. Manisch sucht er nach immer ausgefeilteren Strategien, sein Leben und die Dinge auch außerhalb der Arbeit so effizient wie möglich zu ordnen. Er ist sich sicher, dafür bald befördert zu werden. Stattdessen holen ihn die Psychiater. "Jetzt", denkt er, als er sich von einer großen, feierlichen Eskorte in den Hof begleitet fühlt, "ist endlich alles in Ordnung."

Und so schnell kommt man aus dieser Ordnung nicht wieder raus. Hat man das Optimierungs- und Evaluationssystem und die damit verbundene Formelsprache der neuen Büros einmal verinnerlicht, ist es kaum möglich, sie ohne weiteres wieder abzulegen. Genau darin bestehen ja der Terror und die Zurichtungen des Büros. Dass Thomas von Steinaecker Renate Meißner am Ende seines Romans weit weg nach Samara schickt, in einen Vergnügungspark, den er poetisch verklärt. Dass er sie dort ohne Tabletten schlafen, auch mal wieder weinen und mit der Hand statt am Computer schreiben lässt - all das ist wenig überzeugend, so kitschig wie der lange Titel seines Romans und droht die Schlagkraft seiner treffenden Büroweltanalyse beinahe wieder zu kassieren.

Denn man kann dem Terror kein Ende machen, indem man einfach wegfährt. Man kann auch nicht einfach das Internet oder Telefon abstellen, und alles ist gut. Darin besteht das Missverständnis der viel beschworenen Sehnsucht nach der Unerreichbarkeit, dem "Disconnectopia", nach der Auszeit, dem "Ich bin dann mal weg", jener temporären Flucht "aus dem Hamsterrad" und der Rolle vorwärts in eine sogenannte Spiritualität. Ob Asien oder Jakobsweg, Wellness-Spa oder Meditationskloster: Für Christoph Bartmann sind es therapeutische Gegen- und Parallelwelten, die das weitere Funktionieren der Bürowelt nur sichern. Dasselbe gilt seiner Ansicht nach für die Burnout-Klinik, wie er in einem eindrucksvollen Wutanfall über Miriam Meckels Buch "Brief an mein Leben" feststellt: "Die Burnout-Klinik, aus der heraus sie ihren Bestseller geschrieben hat, ist, wie das Kloster oder die Wellness-Oase, eine jener Außenstellen des Büros, in denen Büroteilnehmer ihre ausgebrannten Existenzen kurieren, ohne dabei sich oder anderen die Systemfrage stellen zu müssen."

Stellen wir also die Systemfrage. Stellen wir sie, zwischen den Angestelltenromanen und Bürobüchern dieses Frühjahrs, im Redaktionsbüro. Unserer Terrorzelle.

JULIA ENCKE.

Christoph Bartmann: "Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten". Hanser, 320 Seiten, 18,90 Euro.

Alain de Botton: "Freuden und Mühen der Arbeit". S. Fischer, 352 Seiten, 19,99 Euro.

Jens Sparschuh: "Im Kasten". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 18,99 Euro.

Thomas von Steinaecker: "Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen". Roman. S. Fischer, 399 Seiten, 19,99 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Rezensent Ulrich Rüdenauer hat ein Zitat des Autors Thomas von Steinaecker ausgegraben, demzufolge ein Autor nicht die "fantastischen Gegenbenheiten unserer Wirklichkeit" verkennen darf, Folge und Strafe einer solchen Vernachlässigung wären soziale Irrelevanz. Ob Steinaecker also seinem eigenem Anspruch gerecht wird? Er erzählt die Geschichte einer hyperrationale Versicherungsvertreterin, die sich aus ihrem Leben ausklinkt, als sie auf eine vermeintliche Wiedergängerin ihrer Großmutter stößt, die in Russland einen Europa-Vergnügungspark betreibt. Rüdenauer erzählt ausführlich diese Handlung nach und kommt zu dem etwas apodiktischen Schluss, dass Steinaeckers Roman soziale Relevanz beweist, da seine Heldin von einem anderen Leben träumen darf. Wir lesen das als Empfehlung, auch wenn Rüdenauer mit weitergehenden Urteilen hinterm Berg hält.

© Perlentaucher Medien GmbH