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Zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichnen die geistige Situation der heutigen Zeit: Mit den Fortschritten etwa in Biogenetik und Hirnforschung dringt eine naturwissenschaftlich objektivierte Selbstauffassung von Personen auch in alltägliche Handlungszusammenhänge ein. Damit verbindet sich für die Philosophie die Herausforderung eines szientistischen Naturalismus. Auf der anderen Seite ist eine Revitalisierung von Glaubensüberlieferungen und die Politisierung von Glaubensgemeinschaften zu beobachten. Daraus erwächst für die Philosophie die Herausforderung einer fundamentalistischen…mehr

Produktbeschreibung
Zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichnen die geistige Situation der heutigen Zeit: Mit den Fortschritten etwa in Biogenetik und Hirnforschung dringt eine naturwissenschaftlich objektivierte Selbstauffassung von Personen auch in alltägliche Handlungszusammenhänge ein. Damit verbindet sich für die Philosophie die Herausforderung eines szientistischen Naturalismus. Auf der anderen Seite ist eine Revitalisierung von Glaubensüberlieferungen und die Politisierung von Glaubensgemeinschaften zu beobachten. Daraus erwächst für die Philosophie die Herausforderung einer fundamentalistischen Grundsatzkritik am nachmetaphysischen Selbstverständnis der westlichen Moderne. Jürgen Habermas lotet das Spannungsfeld zwischen Naturalismus und Religion aus. Er plädiert einerseits für ein angemessenes naturalistisches Verständnis der kulturellen Evolution, das dem normativen Charakter des menschlichen Geistes Rechnung trägt, andererseits für eine adäquate Deutung der Säkularisierungsfolgen einer kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung.
Autorenporträt
Jürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren. Von 1949 bis 1954 studierte er in Göttingen, Zürich und Bonn die Fächer Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. Er lehrte unter anderem an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main sowie der University of California in Berkeley und war Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Jürgen Habermas erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden und Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001) und den Kyoto-Preis (2004).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005

Tiefe Wasser

VOR ZWEIHUNDERT JAHREN sank die Fregatte Medusa, der Kapitän machte sich in einem Boot davon, und die Mannschaft konnte sehen, wie sie sich auf einem Floß rettete. Was auf dem Floß geschah, bestätigte die schlimmsten Vermutungen über den Menschen als Mitmenschen. Dieser Vorfall ist gleichsam ein symbolischer Vorgriff auf die kommenden Jahrhunderte des Fortschritts und seiner schwarzen Seiten gewesen. Zwei Ärzte, die auf dem Rettungsfloß waren, haben aufgeschrieben, was damals passierte. Der Philosoph Jürgen Habermas sieht für die Vernunft keine Gefahr, daß sie sich in die Hoffnung auf Transzendenz verstrickt und untergeht. Er weist in seinem zeitdiagnostischen Aufsatzband der Religion einen festen Ort in der säkularisierten Moderne zu. Dort reagiert die Vernunft einfühlsam auf die Zeichen der Gegenwart, die sich in einer neuen Religiosität ergeht, und bescheidet sich darin, nicht über alles das letzte Wort zu haben. Als der Ort der Vernunft taucht am Horiziont Königsberg auf. Jürgen Manthey hat diese These seiner materialreichen und elegant erzählten Geschichte der Stadt zu Grunde gelegt, in der Kant sein ganzes Leben verbrachte und dabei die weiten Grenzen der Vernunft beschrieb.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2005

Wenn man aus der Haustür tritt, ist da gesellschaftliche Moral
Der neue Schriftenband des Philosophen Jürgen Habermas handelt von Gehirnen, Religionen und Kollisionen
Dass Jürgen Habermas stets einen empfindlichen Nerv trifft, halten wir inzwischen für normal. Darum wundert man sich nicht über den Inhalt des neuen Buches, das heute erscheint. Die Beiträge kreisen um die im Feuilleton ausführlich diskutierte Frage der menschlichen Willensfreiheit, um Probleme der Biogenetik und um die - angesichts neu ausgebrochener Frömmigkeit - bedenkenswerte Frage der Religionsintegration in den säkularen Staat.
Die Natur gibt keine Moralorientierungen vor. Wenn bei der Embryonenforschung der untersuchte Sachverhalt referiert wird, um daraus Schlussfolgerungen für die moralische Orientierung zu ziehen, ist das nur die Hälfte der Wahrheit. Sicher braucht man epistemische Informationen, doch müssen moralische hinzutreten. Erst beides zusammen führt zur Handlungsorientierung. Habermas findet nicht, dass wir auf die Fragen der Gentechnik und der Reproduktionsmedizin bereits die richtigen Antworten haben, doch sicher ist ihm, dass die Medizin allein sie uns nicht gibt. Der Grundsatz der Gleichheit aller gibt ihm dabei Orientierung. Der genetische Eingriff dürfe nicht so weit gehen, dass ein Verhältnis zwischen Designer und Produkt entsteht. Das würde soziale Verhältnisse schaffen, die wir alle nicht wollen können: Die Anerkennung der gleichen Freiheit für alle würde in Frage gestellt.
Der neuerlich zu beobachtende Hang zur Naturalisierung moralischer Probleme äußert sich außer bei der Biogenetik in Fragen zur menschlichen Handlungsfreiheit. Die von Habermas namentlich genannten Wortführer in dieser Debatte, Gerhard Roth und Wolf Singer, meinen aufgrund ihrer hirnphysiologischen Untersuchungen, dass unser Freiheitsbewusstsein auf einer Selbsttäuschung beruht und menschlichen Handlungen Hirnaktivitäten physiologischer Art voraus gingen, die die Handlung bereits festgelegt hätten. Für Habermas sind die Ergebnisse von Wissenschaft stets durch das Forschungsdesign bestimmt - so auch hier. Er attestiert den Neurowissenschaftlern Reduktionismus, der die soziale Komponente ausblende. Sie gingen von einer rein physiologischen Konstitution des menschlichen Gehirns aus.
Roth, Singer und die Physis
Dagegen macht Habermas geltend, dass Menschen vom ersten Augenblick ihres Daseins an in den sozialen Kontext eingebunden sind. Der Mensch sei „von sozialen Interaktionen abhängig, die bei ihm tiefer in die Organisation und Ausprägung der kognitiven Fähigkeiten eingreifen als bei irgendeiner anderen Spezies.” Soziales lasse sich nicht auf Physisches reduzieren. Die sozialisierten Gehirne müssten deshalb Gegenstand der Forschung sein. „Auch eine Art Weltsicht”, würden die Hirnforscher Habermas antworten. Darum müsste man hier zusätzlich die Experimente heranziehen, die der amerikanische Säuglingsforscher Daniel Stern gemacht hat, mit denen man Habermas’ Auffassung erhärten könnte. Um zu widerlegen, muss man auf derselben Ebene bleiben. Experimentelle Ergebnisse gegen andere experimentelle Ergebnisse stellen: Nur das würde Roth und Singer zu denken geben.
Weiterhin führt Habermas ins Feld, dass unsere Freiheit immer schon eingeschränkt ist: Durch Gründe, die wir für eine gewählte Handlung anführen, durch Wünsche und Präferenzen, die wir als Personen haben, und erst recht durch die Moral, die uns zu Handlungen verpflichtet, die nicht in unserem Eigeninteresse liegen, ja ihm zuweilen zuwiderlaufen. All das sind ganz andere Freiheitsbegrenzungen als die, die Roth und Singer vorschweben. Es sind soziale, nicht naturalistische.
Beim zweiten Themenkomplex mahnt Habermas zunächst an, dass aufgeklärte, säkulare Bürger religiöse Überlieferungen und Religionsgemeinschaften nicht als archaisches Relikt ansehen sollten. Dann könnte man im Verfassungsstaat die Religionsfreiheit nur als kulturellen Naturschutz ansehen. Das würde der Bedeutung des Christentums für unseren liberalen Verfassungsstaat nicht gerecht: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden.”
Gut, mag man sagen, das ist das Erbe, doch was bedeutet das heute für uns? Die Antwort: „Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.”
Auch bei Trennung von Staat und Kirche müssten die Bürger Interesse haben an der Artikulation religiöser Stimmen in der politischen Öffentlichkeit, sonst könne man nicht wissen, ob sich die säkulare Gesellschaft von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneidet. Einen Aspekt vergisst Habermas dabei. Religiöse Gemeinschaften sind oft Minderheitsgemeinschaften. Im demokratischen Verfahren haben wir es aber meist mit Mehrheitsentscheidungen zu tun. Folglich ist es für Mitglieder von Minderheitsgruppen schwer, sich Gehör zu verschaffen. Darum muss die Quote angemessen berücksichtigt werden. Der liberale Staat hat hier Nachbesserungsbedarf.
Habermas übersieht allerdings nicht den Aspekt der Schutzpflicht des liberalen Verfassungsstaats. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft darf nicht nur staatsrechtlich betrachtet werden; sie dient meist der Realisierung eines geglückten Lebens. Dass das Individuum in dieser Hinsicht geschützt werden muss, ist im Rechtsstaat keine Frage. Doch wie weit geht dieser Schutz? „Von Toleranz darf nur dann die Rede sein, wenn die Beteiligten ihre Ablehnung auf eine vernünftigerweise fortbestehende Nicht-Übereinstimmung stützen können. Dem Rassisten oder dem Chauvinisten begegnen wir ja nicht mit dem Ruf nach mehr Toleranz, sondern mit der Aufforderung, seine Vorurteile zu überwinden.” Erst nach Überwindung von Vorurteilen treten die Gründe hervor, die man für seine andere Lebensweise vernünftigerweise anführen kann.
Glaube, Heimat und die Grenzen
Alles läuft darauf hinaus, dass wir zwischen einer Vielzahl von Gemeinschaftswerten und der gesellschaftlichen Moral unterscheiden müssen. Religionsgemeinschaften sind geprägt durch Wertauffassungen, die von gesellschaftlicher Moral verschieden sein können. Benedikt XVI. mahnt, die christlichen Werte dürften nicht relativiert werden, wenn die Menschen in ihrem Haus, der Kirche, eine Heimat finden wollten. Es gibt viele Häuser. Doch immer, wenn man aus der Haustür auf die Straße tritt, muss man den Pflichten der gesellschaftlichen Moral nachkommen. Dabei kann es durchaus zu Kollisionen kommen.
Darum erneut die Frage, wo die Grenzen sind. Habermas antwortet, das gemeinschaftliche Ethos könne nur in den Grenzen dessen realisiert werden, was allen gleichermaßen zusteht. Nur so könne die von der eigenen Religion vorgeschriebene Lebensweise realisiert werden. Dies könne eine ungleiche Lastenverteilung der Toleranz bei Gläubigen und Ungläubigen zur Folge haben. Die Verfassung verlangt vom Gläubigen möglicherweise mehr Einschränkungen als vom säkularen Bürger; andererseits garantiert sie die Glaubensfreiheit. Sie garantiere allen Zugang zu kulturellen Umgebungen, Traditionen und interpersonalen Beziehungen, die für die Identitätsbildung und -erhaltung notwendig sind. Die Frage ist nun, ob auch diese Gruppen, die all das bereitstellen, was die Personen zu ihrer Identitätsbildung brauchen, geschützt werden müssen. Hier ist eine Schwachstelle des liberalen Verfassungsstaats, der nur das Individuum schützt, nicht jedoch die Gruppe. Darum schlägt Habermas eine Revision des Begriffs „Rechtsperson” vor, der einen Gruppenrechtsschutz ermöglichen würde.
Themen dieses Buches sind die aktuellen Probleme, die in der Wissenschaft und im Feuilleton derzeit diskutiert werden. Habermas wehrt sich zu Recht gegen eine Naturalisierung. Mit einer Berufung auf die Natur stiehlt man sich aus der moralischen Verantwortung für Lösungen von Problemen, die uns alle angehen. Wieder einmal erhebt Habermas hier warnend seine Stimme. Ebenso in der Frage des Zusammenlebens der Religionsgemeinschaften im säkularen Verfassungsstaat; im Grunde sind das zwei Einrichtungen, die sich wechselseitig ausschließen. Doch Habermas bietet Problemlösungsmöglichkeiten für Konflikte an, die bei ihrer Berührung entstehen.
DETLEF HORSTER
JÜRGEN HABERMAS: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 371 Seiten, 24,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Mit großen Respekt äußert sich Hans Joas über diesen Aufsatzband, der Arbeiten des Philosophen Jürgen Habermas aus den Jahren 2001 bis 2004 versammelt. Besonders den autobiografischen Text am Anfang des Bandes, in dem Habermas zum ersten Mal öffentlich die Erfahrungen mit seiner Lippenspalte reflektiert, findet er "anrührend". Nichtsdestoweniger übt Joas in seiner sehr ins philosophische Detail gehenden Besprechung immer wieder Kritik an einzelnen Punkten, in denen er mit Habermas nicht übereinstimmt. Als eines der zentralen Themen des Bandes nennt er die Auseinandersetzung mit der geistigen Situation der unmittelbaren Gegenwart, die für Habermas von den gegenläufigen Tendenzen eines naturalistischen Weltbildes einerseits und den zunehmenden Einfluss von Religion andererseits geprägt ist. In "meisterlicher Weise" erörtere Habermas die Stellung der Religion in der Öffentlichkeit. Alles in allem präsentiert sich Habermas für Joas als ein "neuer Kant", als ein "Kant der kommunikativen Vernunft und des Zeitalters nach Darwin". Daher verwundert es ihn nicht, dass gerade die Studie zu Kants Religionsphilosophie die "brillanteste" der ganzen Sammlung ist. Fest stehe zumindest, dass das Plädoyer für einen produktiven Dialog von Gläubigen und Nichtgläubigen selten so "eloquent und konzis" vorgetragen wurde wie hier.

© Perlentaucher Medien GmbH
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