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»Aktennotiz meines Engels« faßt sämtliche Gedichtbände Harald Hartungs zusammen, ergänzt um neue Gedichte aus den Jahren 2002 bis 2004.Jenseits jeden Marktgeschreis, unbeirrbar durch Tagesmoden, geht der Lyriker Harald Hartung seinen eigenen Weg. Seine Gedichte aus über vier Jahrzehnten sind ebenso raffinierte wie unaufdringliche Gebilde. Sie fassen die Wirklichkeit in Schnappschüsse, doch im Blitzlicht leuchtet ein Hintersinn auf. Sie holen die Historie als Krieg, Nachkrieg und Gegenwart in die persönliche Geschichte und zeigen die Parzen in der Fußgängerzone. In kunstvollem Übermut…mehr

Produktbeschreibung
»Aktennotiz meines Engels« faßt sämtliche Gedichtbände Harald Hartungs zusammen, ergänzt um neue Gedichte aus den Jahren 2002 bis 2004.Jenseits jeden Marktgeschreis, unbeirrbar durch Tagesmoden, geht der Lyriker Harald Hartung seinen eigenen Weg. Seine Gedichte aus über vier Jahrzehnten sind ebenso raffinierte wie unaufdringliche Gebilde. Sie fassen die Wirklichkeit in Schnappschüsse, doch im Blitzlicht leuchtet ein Hintersinn auf. Sie holen die Historie als Krieg, Nachkrieg und Gegenwart in die persönliche Geschichte und zeigen die Parzen in der Fußgängerzone. In kunstvollem Übermut verwandeln sie alte Formen in neue Verfremdungen und lassen Trauer in Ironie, Witz in Empfindung umschlagen. Sie tarnen sich als »arme Kunst« und zeigen einen Reichtum der Töne, der in der gegenwärtigen Lyrik einzig ist.
Autorenporträt
Harald Hartung, geb. 1932 im westfälischen Herne, Lyriker, Kritiker, Essayist, war bis 1998 Literaturprofessor an der Technischen Universität in Berlin, wo er auch heute lebt. Er gab wichtige Anthologien wie 'Luftfracht' heraus und veröffentlicht seit Mitte der sechziger Jahre Gedichte, zuletzt den vielgelobten Band 'Langsamer träumen' (2002). Hartung erhielt u.a. den Droste-Preis, den Premio Antico Fattore, den Preis der Frankfurter Anthologie und den Würth-Preis für europäische Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2006

Glück im Sekundenschlaf
Einleuchtende Meisterschaft: Harald Hartungs Gedichte

Was macht das Meisterhafte aus? Es ist schwer zu definieren, aber wenn man es vor sich sieht, erkennt man es. Das Meisterhafte muß seine Zeit ausdrücken und doch über ihr stehen. Es muß überraschend und doch selbstverständlich sein. Formaler Fertigkeiten darf es sich nicht brüsten, aber keine darunter darf fehlen. Die Regeln kennt es so gut, daß es sie ein bißchen necken kann. Das Meisterhafte darf rätselhaft, aber nicht hermetisch sein; individuell, aber nicht privat. Das Meisterhafte ist intim und allgemein. Vor allem aber ist es eines: selten.

Der Band mit Gedichten, der hier vor uns liegt, zählt zu den Büchern, die man als meisterhaft ansprechen muß. Er umfaßt das Lebenswerk des 1932 geborenen, in Berlin lebenden Lyrikers, Kritikers, Literaturprofessors, Malers und Motorradexperten Harald Hartung. Ginge es mit gerechten Dingen zu, hätte die Kennzeichnung Hartungs als eines Meisters den Beiklang eines truism und klänge wie: Brecht und Benn waren bedeutende Dichter. Leider ist zu fürchten, daß die Kennzeichnung nicht nur nicht wie ein Gemeinplatz klingt, sondern vereinzelt auf leere Blicke stößt. Nach dieser Summa "Aktennotiz meines Engels", der Sammlung seiner Gedichte von 1957 bis 2004, die das meiste dessen aufwiegt, was im letzten Herbst in den Feuilletons gefeiert wurde, sollte es damit ein Ende haben.

Hartung ist nie laut, nie aufdringlich und nie langweilig. Man schlägt die "Aktennotiz" irgendwo auf und liest sich augenblicklich fest - keine Eigenschaft, deren sich jeder Gedichtband rühmen kann. Noch weniger eine Eigenschaft, die sich leicht erklären ließe. Ganz unmöglich, durch einzelne herausgerissene Proben den Eindruck dieser vierhundert Seiten Form gewordenen Lebens zu vermitteln. Hartung ist abgründig und dezent, seine Pointen und Effekte glänzen weniger, als daß sie schimmern. Sie haben das je-ne-sais-quoi des durch leichte Verschiebung sofort Einleuchtenden. Schon die Anfangszeilen beweisen ihren ganz eigenen Rhythmus und Schwung - "Du möchtest eigene Fische schuppen", oder: "Im Louvre lieb ich die Kopisten". Formal spielen diese Gedichte zwischen Sonett, Ghasel und freien reimlosen Rhythmen alles durch, was die Verskunst aufzubieten hat. Aber sie halten den perfekt beherrschten Apparat verdeckt. Sie sind überraschend und selbstverständlich; manchmal rätselhaft, aber nicht dunkel; intim, aber nie narzißtisch. Harald Hartungs Gedichte speichern ihre Zeit und schweben dennoch den nötigen Millimeter über ihr.

Wie charakteristisch genau er sie erfaßt, indem er doch nur seinem Ich den Puls abnimmt, das ist das Erstaunlichste an diesem Lebensbuch. Wer die jüngste deutsche Geschichte kennenlernen will, der lege die historischen Monographien beiseite und studiere diese Lyrik. Von den dreißiger Jahren an ist alles in ihr enthalten. In der Kindheit die Graubrotschnitte mit Rübenkraut, die sich in der Hitze krümmt, "am Himmel glänzt der Zeppelin"; die dicke Berta, "Schwarm meines dritten Schuljahrs", das Seitengewehr, das beim Weißen Jahrgang nicht zum Einsatz gelangt: "die Blutrinne sah kein Blut / Mein Engel macht eine Aktennotiz".

Dann die Nächte im Luftschutzkeller und das Kriegsende: "Einer aus dessen Bauch es quoll / wimmerte Mama Mama (...) Ich trug einen Lodenmantel der / mir viel zu warm war." 1947 steht der Vater als Kriegsheimkehrer vor der Tür ("Ich mußte ihm die Schuhe putzen / bloß weil er zurückgekommen war"); der verwirrte hungrige Sohn "memorierte Latein (sine - ohne) / schlief endlich über Apfelsine ein".

In den fünfziger Jahren die ersten Frauen, die alle Hedwig oder Gisela hießen: "Sie trug ein weißes Fähnchen aus Lavabel / Sie schaukelten im Stadtpark mit dem Kahn / und in dem Wäldchen an der Autobahn / erforschte er die Gegend um den Nabel." Es folgen die sechziger und siebziger Jahre, Marx, Reich und Lachsack; die achtziger und neunziger mit Chaostheorie und Diskurs (die ästhetisch gefährlichste Zeit); der erste Golfkrieg und der Mauerfall mit seinen Miniaturfolgen für den am Wannsee Wohnenden.

"Kurznachrichten" lautet das Gedicht, das die Zeit der Wende einfängt: "Potsdamer Autonummern und neue Gesichter / Gekonnte Blickvermeidung auf dem Treidelweg / (...) Im Garten wartet der Hausbesitzer im Gebüsch / da steht er seit Tagen und ist nicht zu vertreiben." In den Schlußzeilen läßt Hartung die historischen Umwälzungen mit den Naturgewalten kollidieren: "Draußen auf dem Atlantik tobt der Orkan und drückt / den Tanker gegen die Steilküste: bis Blut austritt." Die finale kleine Verschiebung macht es; das kleine Naturwunder, das zähes Öl verflüssigt zu lebendigem Blut.

Die alte Alchimie des Poetischen, die Polares verschmelzen und zu neuem Stoff läutern kann, tritt auch in Hartungs Naturbildern in Kraft. Das Leichteste, kaum noch Stoffliche, verschmilzt mit der Härte des Marmors, wenn "Sommerwolken aus bestem Carrara" am Himmel ziehen. Im Gedicht "Blick in den Hof" ist es das oxymorotische "weiße Dunkel", das sofort die Stimmung eines frühen Winterabends freisetzt.

"Während es anfängt zu schneien

schaukelt das Mädchen im Hof

schaukelt sich tief

ins wachsende weiße Dunkel

Glück ist ein Sekundenschlaf

Ich schaue auf, die leere Schaukel

schwingt noch ein wenig nach."

Was sich hier schon andeutet, ist der Grundklang zumal der spätesten Hartungschen Lyrik: tiefe, tiefe Melancholie. Auch in den Gedichten der mittleren Epoche liegt sie offen, aber die lassen sich von der Welt noch heiterer bewegen. Hartung ist ein großer Reisedichter; sein Werk durchquert nicht nur sieben Jahrzehnte, sondern auch Meer, Gebirge und Campagna. Eines freilich ist überall und über alle Zeiten hinweg gleich: "Japaner knipsen wen? Japaner." Die schönsten Gedichte, ganz aus der Hand geschüttelt bei zu pflückender Gelegenheit, gelten dem Süden oder den Nietzsche-Orten in der Schweiz. Der römische "Mund der Wahrheit", die Bocca della Verità, regt ihn zum Heine-Ton an: "Nur in der Abendkühle / läßt er sich gehen ich schwörs / da zeigt er die Gefühle / da kommen die vapeurs." In Rom sucht er eine frühere Wohnung: "Du weißt noch, ein Tenor, der wohnte dort / Nie hörten wir ihn singen doch die Frau / war in der Liebe ungebührlich laut." "Campo San Polo" ist der Titel eines späten Zweizeilers: "Ein feines Zirpen kommt von des Alten Hand / Ein Spatz! Es ist ein Spatz der sich streicheln läßt."

Harald Hartungs Witz ist im Wortsinn sublim, so daß man ihn fast nicht bemerkt. Sein Werk ist getränkt vom Äther der Selbstironie, der es vorzüglich konserviert. Selbstironisch ist er auch dort, wo er die Instrumente der humanistischen Bildung zeigt. "Moratorium nicht mit mors verwandt", lautet die scheinbelehrende Schlußzeile des Gedichts über einen sommerlichen Krankenhausaufenthalt. Das weiß der Dichter, der als hungriges Kind "sine - ohne" gelernt hat, und weiß doch auch, daß der philologische Trost ein schwacher und der Tod nach der Genesungspause nur für ein Weilchen aufgeschoben ist. Der Trost der Dichtung ist überhaupt ein schwacher, was der eine Sinn des Titels ist, der über der letzten Abteilung dieser Sammlung steht: Arme Kunst. Schon die "Blätter für Zachäus" von 1999 beginnen mit der Klage: "Dem Empfindsamen rauchen die Trümmer / Dem Klugen kehren die Menschen zurück / Aber die Sonne beginnt zu stinken / ehe die Gräber geöffnet werden." Nicht die verwesten Toten stinken in den Gräbern, sondern - wieder die kleine Verschiebung - die ewig strahlende Sonne. Von jenen, den nicht erweckten Toten, handelt dann untergründig fast nur noch der Abschnitt "Arme Kunst".

Diese letzte Abteilung ist der Gipfelpunkt nicht nur dieses lyrischen Werks. Die ihr vorangestellte Widmung deutet den privaten tragischen Verlust an, um den sie kreist: "Dem Andenken meines Sohnes Stefan (1961-2002)". Zwei, drei dieser Gedichte, darunter "Für einen Schatten", sind in ihrer Lakonie so erschütternd, daß man sie nicht immer lesen kann. Mantegnas Sebastian greift die Lieblingsschmerzensfigur der Künstler auf, den pfeildurchbohrten Dulder, mit dem verglichen zu werden schon Thomas Mann als Labsal empfand. Bei Hartung dient die Ikone der Ablenkung.

"Ich zählte alle Pfeile

die er an seinem Leib trägt

die Stellen wo sie eintreten

die Stellen wo sie austreten

auch die verdeckten

und vergaß über meinem Zählen

den eigenen Schmerz."

Ebendies vermögen Mantegna und die Kunst überhaupt: eine kurze Zeit abzulenken und den Schmerz zu dämpfen; mehr nicht. Immerhin dies. Groß und ergreifend, im Goethe-Ton, der Schluß der Parabase: "Ach! Die Täuschung was wir hatten / sei für keine Zeit verloren / und was nachts die Augen feuchtet / werde morgens neu geboren / Ach! Die Hoffnung daß dein Schatten / endlich meinen Schmerz erleuchtet."

Groß und ergreifend in seiner ruhigen Untröstbarkeit ist vieles am Spätwerk dieses Lyrikers, der zu Unrecht noch nicht Rang und Ruhm eines Allerersten genießt. "Rauch beizt mir die Augen", heißt es in "Der Koch spricht": "Gedacht für fünftausend / reicht es nun / nichtmal für einen." Mit Hartungs meisterhaftem Lebenswerk verhält es sich genau umgekehrt. Gedacht vielleicht nur für einen, der sich im Gedicht der Welt vergewissern und dem Fließenden Form geben will, wäre es gut für mindestens fünftausend happy few. Soll sich endlich der Rauch vor ihren Augen verziehen!

Harald Hartung: "Aktennotiz meines Engels". Gedichte 1957-2004. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 412 S., geb., 28,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dieser Gedichtband zeugt von echter "Meisterschaft", meint Michael Maar. Er hält das vorliegende lyrische Lebenswerk Harald Hartungs für einen Schatz, "gut für mindestens 5000 happy few", den es dringend zu heben gilt. "Rätselhaft", aber nicht hermetisch, "intim" und allgemein zugleich, eigen in Rhythmus und Schwung, "nie laut, nie aufdringlich und nie langweilig", historisch genau, aber dennoch "den nötigen Millimeter" über der Zeit - so charakterisiert Maar diese Lyrik. Voller Hochachtung, auch für die formale Meisterschaft des Autors, erklärt er den Lyriker Hartung für den besseren Historiker. Dessen Graubrotschnitten-Reminiszenz etwa führt ihm eine Vorkriegskindheit eindringlich vor Augen. "Kleine Verschiebungen" lauern in den Gedichten, die "alte Alchimie des Poetischen, die Polares verschmelzen und zun neuem Stoff läutern kann". Kurz: Poesie in Reinform. Und ein thematisches Spektrum, das dem Rezensenten den Atem raubt: Nachkriegszeit, Marx und Chaostheorie, Mauerfall und Bukolisches.

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