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In diesem Buch der Ideen und Betrachtungen zum Stand der Dinge wird noch einmal das Zeitalter gemustert.
In diesen unzeitgemäßen Betrachtungen über das Ganze, das in immer kleinere Teile zerfällt, spricht kein Niedergangsdiagnostiker, sondern einer, der davon überzeugt ist, dass wir das Erinnern neu erfinden müssen.
In diesem Buch der Ideen, Betrachtungen und Meditationen zum Stand der Dinge, zum Rückgang der Empfindungsfähigkeit und zur wachsenden Abstumpfung, wird noch einmal das Zeitalter gemustert. Notwendiger denn je sind das Innehalten, die Rückschau auf das Unerschließbare. Wer
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Produktbeschreibung
In diesem Buch der Ideen und Betrachtungen zum Stand der Dinge wird noch einmal das Zeitalter gemustert.

In diesen unzeitgemäßen Betrachtungen über das Ganze, das in immer kleinere Teile zerfällt, spricht kein Niedergangsdiagnostiker, sondern einer, der davon überzeugt ist, dass wir das Erinnern neu erfinden müssen.

In diesem Buch der Ideen, Betrachtungen und Meditationen zum Stand der Dinge, zum Rückgang der Empfindungsfähigkeit und zur wachsenden Abstumpfung, wird noch einmal das Zeitalter gemustert. Notwendiger denn je sind das Innehalten, die Rückschau auf das Unerschließbare. Wer nur nach vorne schaut, wird die Verluste und Opfer, das, was uns abhanden kommt, weder sehen noch verstehen; aber auch dem bloß starr zurück Schauenden wird die gegenwärtige Not nicht verständlich. Es geht darum, schmerzlicher und schärfer zu sehen.
Autorenporträt
Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale als Sohn eines Lebensmittelberaters geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Remscheid und Bad Ems studierte er 5 Semester Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie in Köln und München. 1967-1970 Redakteur und Kritiker der Zeitschrift "Theater heute". 1970-1975 dramaturgischer Mitarbeiter an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin. Botho Strauß ist Mitglied des PEN-Zentrums und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Sein schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet; 1987 wurde ihm der Jean-Paul-Preis und 1989 der Georg-Büchner-Preis verliehen. Seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.05.2004

Der Anwalt der Gegenwärtigkeit
Von wegen Rückzug: Botho Strauß in seinem neuen Prosaband „Der Untenstehende auf Zehenspitzen”
Lesen Sie diesen einen Satz – und denken Sie darüber nach: „Virtualität erhöht die Bereitschaft zur Sorge und halbiert zugleich ihr Gewicht.” Von der Zukunft ist hier die Rede, nicht von der fernen, sondern von der nächsten, der bald bevorstehenden. Und von den Spekulationen auf diese Zukunft: Wie werden die Krankenkassen auf die Entschlüsselung des Genoms reagieren? Wird der Golfstrom seinen Weg ändern, wenn sich die Erwärmung der Erde fortsetzt? Werden wir die Alten töten, wenn sie die Jungen um ihr Auskommen bringen? Wie wird es sein, wenn ... Tausendfach sind uns solche Angriffe der Zukunft auf die Gegenwart begegnet, mit erkennbar gegenwärtigen Zwecken.
Sorgen, die auf Phantasien gründen, sind keine guten Ratgeber. „Gegenwärtig ist den meisten kaum mehr ihre Gegenwart, sondern irgendein Zukunftsszenario, das Schlüsse aus ihr zieht. Diese Schlüsse beeinträchtigen die Erfahrungswachheit in der unerschlossenen Gegenwart.” Ist hier nicht jedes Wort richtig, wahr im reinsten und folgenreichsten Sinne des Wortes? Und wen gäbe es, hierzulande oder woanders, der solche Wahrheiten ausspräche?
Diese Sätze stammen aus dem jüngsten Buch von Botho Strauß: „Der Untenstehende auf Zehenspitzen” heißt es, und es besteht, wie schon mehrere Bücher dieses Schriftstellers, aus einer langen Reihe mal enger, mal weitläufiger miteinander verbundenen Prosaskizzen, kurzen Essays, Gedanken, Einfällen, Erinnerungen und Beobachtungen. Es gibt viele solcher Sätze in diesem Buch, Sätze von lakonischer Klarsichtigkeit und zuweilen erschütternder Prägnanz, wie sie gegenwärtig kein anderer Autor deutscher Sprache schreibt.
Es ist schön und stimmt froh, dass man Botho Strauß schon auf der ersten Seite dieses schmalen Buches wiedererkennt, und zwar auch, weil man weiß, dass man es klüger aus der Hand legen wird, als man es öffnete. Denn jenseits aller Beobachtungen aus der Uckermark, jenseits der Fischadler und Rotbuchen, jenseits der Reminiszenzen an weitgehend unbekannte portugiesische Mystiker und an noch unbekanntere Freundinnen, die manchmal Billie heißen, jenseits und mittendrin in allem Erzählen – auch dieses Buch ist ein philosophischer Traktat zur jüngsten Zeitgeschichte, selten scharf, tief und unnachgiebig.
Entstanden sind die Eintragungen in dieses Tagebuch eines ungebändigten Denkens im Laufe eines Winters und eines Frühjahrs – es beginnt mit dem Bild einer in Eis erstarrten Landschaft. Angler sitzen vor ihren Eislöchern, „wie Gaukler, die ihre Kunststücke vergaßen”. Der alte Schnee hat die Form der Wehe behalten, zu den ihn der Sturm zusammengefegt hatte. Dann fallen Flocken, und in nur wenigen Wörtern, vorsichtig, lässt Botho Strauß eine Metapher in die winterlichen Verhältnisse einziehen.
Plötzlich versteht der Leser: Der fallende Schnee – das sind die Gedanken, und während die einen schon im Sinken schmelzen, bilden die anderen eine feste Decke, und die einen kommen im Kleid der elektronischen Medien daher, und die anderen sind Schrift. Und wenn sich die Schrift leicht aufwirbeln lässt, dann ist es billiger Journalismus, und was liegen bleibt, ist ein Essay wie dieser: eine Schrift als Mittel des Aufschubs, der Verzögerung, des Innehaltens, Aufnehmens und Nachdenkens.
Mit Esoterik, Weltabgewandtheit, Rückzug hat das alles nichts zu tun, ja nicht einmal etwas mit Dissidententum – der grantelnde Eremit, der in die östliche Schorfheide entlaufene Chronist der halbgebildeten Stände, was für ein törichtes Gerücht des gehobenen Tratsches! Hier geht einer planvoll vor – ein wacher, teilnehmender und höchst informierter Zeitgenosse: „Der Unterschied zwischen Blut und Boden seinerzeit und Blut und Sperma, wie eine zeitgenössische Belletristik sie verschwendet, besteht darin, daß sich die Ideologie damals ihrer Geschmacklosigkeit nicht bewußt war, das abgefeimte Bewußtsein heute aber die Geschmacklosigkeit selbst verherrlicht” – und wenn dieser Satz längst geschrieben war, als zum ersten Mal von Thor Kunkel und der „Endstufe” die Rede war, so trifft er doch beiläufig auch diesen und beweist in dieser Beiläufigkeit Größe und Gültigkeit.
Wir Trickbetrüger
Wo hätte man dergleichen schon gelesen? „Nicht nur ein stilistisches Laster ist es, ein ,Wir- zu setzen als Pathospronomen der kulturkritischen Selbstbezichtigung.” Und der Gedanke hört in Decouvrierung der larmoyanten Selbstgefälligkeit nicht auf, sondern wird weitergeführt, bis er auch seinen Urheber erreicht. Denn auch dieser benutzt das „Wir”, wenngleich nicht als Instrument der Vereinnahmung, sondern um sich abzusetzen, als einen „Trickbetrug” zur Erzeugung von Unverbindlichkeit. Auch diese Fähigkeit zur skeptischen Selbstbeobachtung ist eine Freude und trennt Botho Strauß, sehr zu seinem Vorteil, von der Selbstgefälligkeit, mit der sein Vorbild Emile Cioran seine Einsprüche gegen die moderne Welt vortrug.
Botho Strauß denkt in Physiognomien. Das ist eine seltene Kunst, denn in der Wissenschaft wie in der Publizistik, ja sogar in der Literatur hat das analytische Denken, das Denken in Bedeutungen, das ältere physiognomische, das Denken in den Unterschieden der Oberfläche, längst ersetzt – nicht umsonst zieren drei Kopfstudien von Johann Heinrich Füssli den Schutzumschlag des Buches. Nur das physiognomischen Denken kann einem Sätze eingeben wie: „Es kam eines Tages in Mode, daß man sich schönküßte. Es genügte das Nippen am Rand des anderen.” Und stimmt hier nicht alles: die Beobachtung, der Vergleich und der Schluss von beidem auf die ungeheure Gefälligkeit und Selbstgefälligkeit, die in diesem Benehmen steckt?
Auch die Form dieses langen Essays verdankt sich dem physiognomischen Denken: die scheinbar lose Folge, die Neigung zur Unhandlichkeit sind Folgen der unmittelbaren Bindung des Denkens an den Stoff. Das Physiognomische ist die Voraussetzung auch der Nähe, die Botho Strauß zwischen sich und seinem Leser schafft – eine Vertrautheit nicht der Personen, aber des intellektuellen Reflexes. So kommt es, dass der Leser auf diesen knapp zweihundert Seiten einer langen Reihe von Beobachtungen begegnet, die er selbst schon mit sich herumgetragen haben mag, aber dann doch nie gedacht hat – wie zum Beispiel den Wunsch, ein Repertoire nicht nur für Musik, sondern auch für Literatur zu schaffen: „Irgendwann den Schlußstrich ziehen und die Wiederkehr (die stete Zunahme) des Meistgeliebten als Lebenszyklus erfahren.” Zu dieser Vertrautheit gehören bekannte Figuren, wie der Buchhändler Hans Brockmann vom Bahnhof Zoo, dem Botho Strauß einen anrührenden kleinen Nachruf widmet. Und unbekannte Gestalten wie der nur scheinbar an intellektuellen Erörterungen interessierte Besucher, an dem Botho Strauß den Unterschied zwischen „herzhaft” und „herzlich” offen legt: Der Besuch war eine Enttäuschung, denn es war dem Besucher nur darauf angekommen, die „Gesellschaftsfähigkeit unserer Intimität” zu prüfen – und das ist eine der apartesten Formen des Verrats.
Das Buch endet in Frühlingsbildern, darunter eine Halbmondnacht im Mai, mit einem blühenden Kirschbaum, der weiß auf einer dunklen Wiese leuchtet: „das frische Leben ein bleiches Gespenst”. Ein wenig unheimlich ist hier noch das versöhnlichste Bild der Natur, ein Gegenbild zum Schnee und auch dieses eine Aufforderung zur Unruhe: „Dich lockt keine Blume, dir bietet kein Raum Schutz, du mußt ihn suchen.” Nur zu, sagt da der Leser, und: er suchte gerne mit.
THOMAS STEINFELD
BOTHO STRAUSS: Der Untenstehende auf Zehenspitzen. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2004. 170 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2004

Das schönere Nichtmehr
Auf wilder Jagd: Botho Strauß aktiviert das Präteritum-Gen

Gesten der Erschöpfung" möchte er sehen: "ich kann diese skrupellose Geschwindigkeit um mich herum nicht mehr aushalten." Das ist nicht neu. Lange schon hat Botho Strauß wenn auch nicht gerade Mitstreiter, so doch zumindest Mitleidende gefunden. Aber wer hätte gedacht, daß dieser Wunsch schon im Jahr 1975 formuliert wurde? Das Leiden an der gefühlten Beschleunigung unserer Lebenswelt ist innerhalb der letzten drei Jahrzehnte längst zum Gemeinplatz verkommen. Was der Seismograph gestern erspürte, das leise Zittern, mit dem sich ein Erdbeben ankündigt, begräbt heute die Massen unter sich. Vor dreißig, vierzig Jahren, so heißt es im neuen Buch von Botho Strauß, herrschte eine "Gestimmtheit der Angst", die der Autor auf den Schrecken der Kernspaltung, den Ölschock und anderes zurückführt. "Inzwischen überwiegt allgemein eine Gestimmtheit, die einerseits von Funktionslust, von großer Weltbeholfenheit geprägt ist, andererseits von großer Enttäuschung. Denn das meiste ward nicht, wie es versprach zu werden."

Aber stimmt das überhaupt? Speist sich die Enttäuschung, die Botho Strauß zu Recht konstatiert, tatsächlich aus dem Ausbleiben befürchteter Katastrophen? Wohl kaum. So präzise und leichthändig dieser Autor das Aroma unserer Zeit mit den Begriffen "Funktionslust" und "Weltbeholfenheit" auf den Punkt bringt, so leichtfertig geht es weiter. Die Nachlässigkeit mag nicht zuletzt damit zu tun haben, daß Botho Strauß seines Amtes als Chronist unserer Befindlichkeiten und Attitüden gründlich müde geworden ist: "Die Stimmungen im Land ziehen dahin wie die Wolkenschatten über unsere Weide. Befindlichkeiten sondieren, das ist, als wollte einer Badeschaum an die Wand nageln."

Aber den Badeschaum an die Wand werfen und dann verfolgen, welche Muster sich ergeben, wenn er langsam und unaufhaltsam an den Kacheln entlang zu Boden gleitet, das geht noch, das läßt sich noch immer machen, und nur ganz selten kippt der Tonfall gepflegter Melancholie in düstere Depression. Botho Strauß leidet nicht mehr, wie er früher litt. Und mit dem Schmerz schwindet der Zorn. Gelassenheit macht sich breit, die mitunter in Zufriedenheit mündet. Sogar tiefes Einverständnis zeigt sich hier und dort, wenngleich es vor allem der Natur gilt. So läßt sich manches aushalten, auch wenn es bis zu jenem Zustand des "höchsten Bewußtseins", das zuletzt mit allem einverstanden ist, "einfach mit allem", noch ein weiter Weg sein muß.

Der Blick zurück auf die Revolten vergangener Tage relativiert auch die schärfsten Debatten der Gegenwart. Angesichts der Kritik an der Biotechnologie und ihren gewaltigen Herausforderungen erinnert Strauß an die ökologische Endzeitstimmung der siebziger und achtziger Jahre, als etwa ein Sammelband mit dem Titel "Bis hierher und nicht weiter" erschien. Das dem Buch Hiob entlehnte Wort erinnert ihn an gegenwärtige "Pathosformeln" im Kampf gegen die Allmachtsansprüche der Wissenschaft. Strauß betrachtet diese Auseinandersetzung wie eine längst geschlagene Schlacht, nach deren Ende Fortschrittsbegriff und Forscherdrang vor ihrer Neudefinition stehen: "Eines nicht zu fernen Tages werden die besten Köpfe nicht mehr erkennen wollen, was zuvor noch kein Mensch erkannt hat. Sie werden vielmehr von der Neugier gepackt, erkennen zu wollen, was einst der Mensch erkannte."

Genau diese Neugier aber ist es, die Botho Strauß antreibt. Seine Sehnsucht gilt der Vergangenheit oder vielmehr dem Vergangenen, und mit ungewohnter Offenheit kommentiert hier ein Autor seine Person, sein Werk und sogar seine Sprache. Womöglich, so wird auf den ersten Seiten des neuen Buches sinniert, hätten die vielen "sinnlichen Nichtmehrs seines Lebens", von der Schreibmaschine bis zum Fünfzig-Pfennig-Stück, seinen "natürlichen Gegenwartssinn getrübt" und ein "Präteritum-Gen aktiviert, so daß ich vieles von dem, was sich gerade um mich herum zutrug, unwillkürlich in der Vergangenheitsform erlebte ... Und so erkannte ich in allem, was jetzt ist, sein schöneres Nichtmehr."

Die wilde, verwegene Jagd nach dem schöneren Nichtmehr führt über Stock und Stein. Manches geht auf immer verloren, anderes widersteht dem Jäger lange Zeit und ergibt sich dann plötzlich und unverhofft seinem Drängen. Dann kann es passieren, daß der Jäger, der meistens mehr ein Findender als ein Suchender ist, eines Morgens, wenn er im Flurspiegel an sich vorübereilt, Camus darin erblickt. Es könnte genauso gut Eluard oder Max Ernst sein, der Autor ist nicht mehr als ein "durchlässiges Zwischengeweb", von den feinsten Beeinflussungen unentwegt konstituiert und wieder aufgelöst. Konsistenz, feste, unveränderliche Umrisse sind so nicht zu haben, aber Strauß läßt keinen Zweifel daran, daß er sein Sehnsuchtstreiben zu genießen weiß: "Täglich sich etwas unergründlich machen, das ist das Leben!"

Derlei Emphase ist selten, aber wo sie zutage tritt, läßt sie sich auch von den Dämonen des Fortschritts nicht vertreiben. Das Erschließbare am Menschen, ein unablässig wachsender Bereich, zu dem auch der Genomcode gehört, ist ihm weit weniger von Interesse als das Unerschließbare, ein Reich, dessen Ausmaß auch die "verwegensten Entschlüsselungen" nicht verkleinern können. Die Reserven des Unerschließbaren, des Unverfügbaren und Unveräußerlichen, so muß man Botho Strauß verstehen, sind endlos, und es ist nicht zuletzt diese der Gestimmtheit unserer Zeit so völlig zuwiderlaufende Zuversicht, die dieses Buch so erstaunlich macht.

An die Stelle hochfahrender Bocksgesänge sind intime Zwiegespräche und Demutsgesten getreten: "Im wesentlichen berichte ich den toten, den von mir geliebten Autoren, die unverständig aus mir herausblicken auf diese Welt, von den unerhörten Dingen, die sich dort zutragen. Dabei versuche ich mich in einer Sprache auszudrücken, die ihnen, wie ich hoffe, bekannt vorkommt. Jedoch, wenn man es stilistisch genau nähme, so fragt alles, wovon ich spreche. Es fragt an bei ihnen und ihrem alten Verstehen."

Wer es stilistisch genau nimmt mit diesem Autor, der weiß natürlich, daß das aktivierte Präteritum-Gen immer wieder unter dem Störfeuer der Gegenwartssprache zu leiden hat. Das Nebeneinander gezierter Wendungen und schrecklich schiefer Bilder, der edle hohe Ton, der rasant ins Triviale abstürzt, die zuweilen brachiale Kraftanstengung, mit der auch recht banale Erwägungen ins Korsett der Prätention geschnürt werden, all das kennt man nicht erst seit verwandten Werken wie "Wohnen Dämmern Lügen" (1994) oder "Das Partikular". Auch in "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" stößt man auf Sätze wie diesen: "Die Dinge verwirklichen ihr fading. Kaum etwas, das nicht schwände." Hier straft Strauß seinen eigenen Aphorismus, dem zufolge das Häßliche, nicht aber das Schöne zu verstehen sei, Lügen.

Aber in diesem Buch der Reflexion und der Prätention, der intensivsten Natur- und entspanntesten Selbstbetrachtung ist auch der Schlüssel zum Rätsel der verunglückten Formulierungen zu finden. In Anlehnung an das Goethewort, dem zufolge jedes Erbe erworben werden will, schreibt Botho Strauß: "Nicht mehr die Sehnsucht ist die aufs äußerste gespannte Saite, sondern zu haben, was man nicht ist, zerreißt den Erben/Lageristen fast." Das gilt auch und vielleicht gerade für die Sprache des neunzehnten Jahrhunderts und seiner Menschen, zu denen auch der Unzeitgemäße nicht gehören kann.

Max Ernst hätte sich nicht träumen lassen, daß eine der größten Bedrohungen der Menschheit einmal den Namen Castor tragen würde, als er das Brüderpaar malte und Pollux den Namen "Pollution" gab. Und auch die Umweltschützer, die den Regenwald bewahren wollten, konnten nicht ahnen, daß sich auf den abgeholzten Flächen ein Savannengras ansiedeln würde, das dem Treibhauseffekt entgegenarbeitet. Botho Strauß beschreibt dieses ökologische Paradox und setzt eine zarte Hoffnung auf den "hinterlistigen Kreuzschluß allen Gleichgewichts". Von dieser Dialektik der Unvernunft ist es gar nicht mehr so weit bis zur prästabilierten Harmonie. Führt der Weg des Botho Strauß also von Voltaires "Alles geht uns an" zum allumfassenden Einverständnis eines "höchsten Bewußtseins"? Wohl kaum. Wenn Botho Strauß Teixeira de Pascoaes zitiert - "Ein Gott, der sich zeigt, hat auf der Stelle einen Teufel, der über ihn lacht" -, dann weiß er, daß ein Lichtenberg nur auf einen solchen Satz gelauert hätte, um ihn umzudrehen: Kein Teufel kann sich zeigen, ohne daß nicht ein Gott ihn zu seinem gefallenen Engel erklärte.

Botho Strauß: "Der Untenstehende auf Zehenspitzen". Carl Hanser Verlag, München und Wien 2004. 169 S., geb., 17,90 [Euro].

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"Präzise und leichthändig bringt er das Aroma unserer Zeit auf den Punkt." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.04

"Das ist glänzende Kulturkritik... Botho Strauß muss wieder als Seismograf des intellektuellen Zeitgeistes gelten." Iris Radisch, Die Zeit / Literaturbeilage, 25.03.04

"Wieder setzt man sich, süchtig und erwartungsvoll über einen Band mit kurzer Prosa von Botho Strauss. Wieder wissend, dass man hingerissen und abgestossen, verstört und betört sein wird." Andreas Isenschmid, Neue Zürcher Zeitung, 21.03.04

"Botho Strauß ist der umfassendste Zeitdiagnostiker, den wir haben. Ein Glücksfall." Stephan Sattler, Focus, 15.03.04

"Der Anwalt der Gegenwärtigkeit [...] Sätze von lakonischer Klarsichtigkeit und zuweilen erschütternde Prägnanz, wie sie gegenwärtig kein anderer Autor deutscher Sprache schreibt." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 14.05.04

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Sie mag ihm gar nicht mehr widersprechen, stellt Iris Radisch gleichermaßen erstaunt wie besorgt fest, und doch, gesteht die Literaturkritikerin, beschleicht sie beim Lesen von Strauß' neuesten Notaten mit dem schönen Titel "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" leichte Ungeduld. Wer will Strauß' kulturkonservativem Lamento, seiner Untergangsklage, die er schon vor zehn Jahren in den "Bocksgesängen" zur Empörung vieler anstimmte, heute noch ernsthaft etwas entgegenhalten, fragt Radisch. Auch in seinem neusten Buch geht das Lamento weiter, bekennt sie, endlos sei die "Kette der Verfallserscheinungen", die Strauß aneinander reihe, und dennoch: messerscharfe Kulturanalyse und glänzende Fortschrittskritik, bekräftigt Radisch. Was sie stört, vielleicht auch langweilt, ist die Wiederholung der alten Rede, die "kalte" und "pompöse" Geste, mit der Strauß verkündet, was er immer schon verkündet hat. Das alles ist glänzend formuliert, gesteht Radisch zu, sozusagen in "Goldrand" gefasst, wodurch es sich zwar von der deutschen Durchschnittsprosa abhebe, aber eben auch nicht daran reibe, sondern steril bleibe. Die schönsten Passagen in dem Buch sind darum für Radisch diejenigen, wo Strauß gleichsam auf Zehenspitzen unter seinen Rotbuchen in der Uckermark steht und sich Sorgen um die Baumkronen macht. "Offenbar erkennen auch sie nicht, was höher ist als sie selbst", schreibt Radisch liebevoll spöttelnd.

© Perlentaucher Medien GmbH
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