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25 Jahre nach ihrem berühmten Essay "Über Fotografie" beschäftigt sich die Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mit dem entsetzlich aktuellen Thema der Kriegsfotografie. Sie rekapituliert deren historische Entwicklung vom Spanischen Bürgerkrieg bis Afghanistan, beschreibt die unvergesslichen Bilder bedeutender Fotografen und stellt die zentrale Frage: Was löst der Anblick eines leidenden Menschen im Betrachter aus?

Produktbeschreibung
25 Jahre nach ihrem berühmten Essay "Über Fotografie" beschäftigt sich die Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mit dem entsetzlich aktuellen Thema der Kriegsfotografie. Sie rekapituliert deren historische Entwicklung vom Spanischen Bürgerkrieg bis Afghanistan, beschreibt die unvergesslichen Bilder bedeutender Fotografen und stellt die zentrale Frage: Was löst der Anblick eines leidenden Menschen im Betrachter aus?
Autorenporträt
Susan Sontag, 1933 in New York geboren, war Schriftstellerin, Film- und Theaterregisseurin. Weltbekannt wurde sie vor allem durch ihre Essays. Für ihren letzten Roman 'In Amerika' wurde sie mit dem National Book Award ausgezeichnet. Sie erhielt den Jerusalem Prize und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2003. Susan Sonntag starb 2004 in New York.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2003

Die Qual der Bilder
Susan Sontags Gang durch die Geschichte der Kriegsfotografie

Vor nahezu dreißig Jahren, 1977, veröffentlichte Susan Sontag ein Buch "Über Fotografie", das große Beachtung fand. Es war Fotografiegeschichte und philosophische Reflexion in einem, eine Hommage an große Fotografen, vor allem aber eine Bestandsaufnahme der Gebrauchsweisen von Fotos. Die Fotografie erschien hier nicht nur als die Kunst unserer Zeit, sondern auch als ein Organ spefizisch moderner Erfahrungen. Ihr neuer Essay über fotografische Bilder von Krieg, Greueln und Leiden könnte wie die Fortschreibung einiger Motive des älteren Buches erscheinen. Tatsächlich aber ist es ein Vorhaben ganz anderer Art. Er handelt von schockierenden Bildern, von ihrer Geschichte, ihrer Herstellungsweise, ihren Wirkungen und ihrer Verbreitung, aber doch fast beiläufig. Denn dieser bedeutende Essay, der zu den exemplarischen Reflexionen unserer Zeit zählen wird, ist ein Moraltraktat über die moderne Wahrnehmung von Krieg, von Grausamkeit und Leid. Wer eine Predigt mit Fotografien erwartet, wird enttäuscht.

Susan Sontags Sprache ist lakonischer als je zuvor, fast teilnahmslos (allerdings ohne Zweifel an ihren Gefühlen zu lassen) spricht sie über die fotografierten Greuel und die Haltung der Betrachter. In knappen Sätzen durchstreift sie ein wüstes Gelände, ohne vorgezeichneten Weg und ohne jegliche belehrende Attitüde. Offenbar will sie um jeden Preis eine Haltung vermeiden, die Freud während des Ersten Weltkriegs als "Mitleidsschwärmerei" bezeichnete. Sie will sich auch nicht bei den heute gängigen Gebrauchsweisen der Schreckensbilder beruhigen. Die Hoffnung, die seit dem amerikanischen Bürgerkrieg viele Fotografen hegten, man könne die Faszination des Krieges brechen, indem man ihn zeigt, "wie er wirklich ist", hat sich mittlerweile als allzu trügerisch erwiesen.

Susan Sontag spricht in diesem Zusammenhang von Virginia Woolfs "Unschuld". Denn die Verfasserin des Antikriegsbuchs "Three Guinees" glaubte, daß jeder, der sich beim Anblick der Fotos von bis zur Unkenntlichkeit deformierten Toten des Spanischen Bürgerkriegs nicht gedrängt fühle, solche Verwüstungen aus der Welt zu schaffen, ein "moralisches Monstrum" sei. Zwar sei, merkt Susan Sontag an, "zentral für unser Weltverständnis und unser ethisches Empfinden" die Überzeugung, "daß der Krieg ein Irrweg sei", aber sie fügt hinzu: "wenn auch ein unvermeidlicher". Dazu gibt die Geschichte der fotografischen Leidensbilder, die sie in charakteristischen Beispielen nachzeichnet, auch wenig Anlaß.

Am Schluß ihres Essays formuliert Susan Sontag eine Haltung zu diesen Bildern, die weniger unschuldig ist als jene Virginia Woolfs und die das Fazit aus der Folgelosigkeit der emotionalen Antworten auf das Grauen zieht. Die ungeheure Menge von Bildern von Krieg und Grausamkeit könne nur zu der Einsicht führten, daß der Mensch so ist und daß man dies zu einer "feststehenden Einsicht über den Menschen machen muß". Das Wissen, das diese Bilder, jenseits von Erschütterungen und Haß, vermitteln, ist freilich eine Einsicht in die Monstrosität des Menschen. Die Zeiten, in denen er sich in Unterscheidung davon definieren konnte, sind vorüber. Wenn es sich um Einsicht handelt, ist dieses Wissen freilich nicht resignativ, es läßt einen kleinen Spalt zur Hoffnung offen.

Was die Fotografie (und den Film) für die erstrebte Einsicht in die spezifischen Formen moderner Grausamkeit so unentbehrlich macht, ist die Tatsache, daß durch sie eine gänzlich neue Erfahrung eröffnet wird. Neu im Vergleich zu früheren Zeiten, erklärt Susan Sontag, sei die Vielzahl der Gelegenheiten, bei denen man heute das Leiden anderer Menschen betrachten kann: "Zuschauer bei Katastrophen zu sein, die sich in einem anderen Land ereignen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung." Fotografien bringen weit entferntes Unglück und Leid zum Betrachter, der durch sie aufgefordert ist, darauf zu reagieren wie auf etwas, was in seiner unmittelbaren Nähe geschieht. Dies bedeutet eine Zäsur in der Gefühlsgeschichte des Menschen, dessen Mitleid kein Distanzsinn, sondern Nahsinn ist. Aber den daraus abgeleiteten, oft erhobenen Einwand, Bilder machten es möglich, Leiden aus der Distanz zu betrachten, erledigt Susan Sontag mit der aphoristisch knappen Erwiderung: "als gäbe es auch eine andere Art der Betrachtung".

Die Fotografie wird zur Gemeinsprache für Leiden und Unheil überall - nicht weil sie dieses tatsächlich vergegenwärtigen könnte, sondern weil sie eine besondere Beziehung zum Gedächtnis unterhält. Wie die Fotografie, so Susan Sontag, arbeite das Gedächtnis mit "Standbildern". Fotografien sind Erinnerungsträger, weswegen man ihnen oft Aufgaben zumutet, die ihre Leistungskraft übersteigen. Die Verführung, mit Bildern ein kollektives Gedächtnis schaffen zu wollen, ist naheliegend, aber aus ähnlichen Gründen zum Scheitern verurteilt wie der Versuch, aus dem Anblick des Leidens anderer ein "Wir" zu bilden. Die Erinnerung, so gibt Susan Sontag zu bedenken, sei immer "vor allem lokal", sie läßt sich vom Schauplatz des erinnerten Geschehens nicht lösen.

Fotos sind also nicht jenes Zaubermittel der Ausdehnung der Gefühle in globale Dimensionen, für die sie oft ausgegeben werden, sondern eher eine Methode, etwas schnell zu erfassen und gut zu behalten und ihm in der Verständigung Prägnanz zu verleihen. Das gilt auch für die Verständigung über das Leiden, die immer mit Ambivalenz und Vieldeutigkeit der gefühlsmäßigen Reaktionen rechnen muß: "Bei jedem Unheil, das ins Bild kommt, verspürt der Zuschauer Mitleid und Empörung, Sensationskitzel oder Zustimmung." Susan Sontags Entschlossenheit, reinen Tisch zu machen mit allen gutgemeinten moralischen Erwartungen an die Fotografie, kommt der Einsicht zugute. Aus Sarajevo schildert sie, ohne das Verhalten der Beteiligten auch nur mit einem Wort zu kritisieren, folgende Szene: Ein englischer Fotograf stellt seine in Sarajevo aufgenommenen Fotos zusammen mit Schreckensbildern aus, die er in Afrika gemacht hat. Die Besucher der Ausstellung betrachten nur die Bilder ihrer eigenen Leiden und sind verärgert, daß sie mit Leiden anderer verglichen werden. Der Leidensegoismus der Bürger vor Sarajevo läßt schlimme Rückschlüsse auf die Bereitschaft zu, die Realität als solche überhaupt wahrzunehmen. Wie es keinen automatischen Realismus der Fotografie, so gibt es auch keine automatisch moralische Reaktionsweise auf Bilder des Schreckens, und sei ihre Sprache noch so deutlich.

Es gibt deswegen auch keinen ein für allemal vorgezeichneten Gebrauch solcher Bilder. Ob sie ihren moralischen Absichten genügen können, hängt letztlich von der Eindruckskraft der Formulierung ab. In wenigen Sätzen geht Susan Sontag auch auf Goyas "Desastres de la Guerra" ein, die ihre Wirkungskraft bis heute nicht verloren haben und die einen Realismus der Leidenswahrnehmung geschaffen haben, dessen Erbe die Fotografie angetreten hat. Goya entdeckte eine neu Darstellungsform, neue Leiden, neue Funktionen der Bildunterschrift, auch sie ein Vorgriff auf Fotografie. Es sind Ausrufe von fiktiven Betrachtern, und sie nehmen viel von den Wirkungen der modernen Kriegsfotografie vorweg: "Man kann gar nicht hinsehen" - "Das ist schlimmer!" - "Das ist das Schlimmste" - "Das ist zuviel" - "Warum?" Dieses "Warum?", mit leiser Stimme, ist auch Susan Sontags Fazit ihres Ganges durch die Geschichte der Kriegsfotografie.

Susan Sontag: "Das Leiden anderer betrachten". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Kaiser. Hanser Verlag, München 2003. 151 S., geb., 15,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Gerade wenn sie über den Krieg, dieses "männliche" Spektakel, schreibt, offenbart sich die Stärke ihres Stils, der von Pragmatismus ebenso geprägt ist wie von gelegentlicher Emotionalität, stets aber reflektiert und distanziert auftritt."
Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.06.03

"(Sontag) hat ein untrügliches Gespür für das gerade aktuelleste Thema und dann den Vorwurf, eine Modeschriftstellerin zu sein, dennoch von sich weisen, denn sie sucht die Tagesbezogenheit nur, um die falsche Aufgeregtheit, mit der sich die Öffentlichkeit erregen lässt, wieder durch Einsicht zu bannen."
Hannelore Schlaffer, Stuttgarter Zeitung, 22.08.03

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Für Rüdiger Zill steht dieses Buch Kriegsfotografie im "Schatten seines Vorgängers" von 1977, dem Essay "Über Fotografie", in dem Susan Sontag dargelegt hatte, wie über Fotos "öffentlich geredet" wird. Im vorliegenden Text nun untersucht Sontag die Entwicklung und Veränderung von zunächst gemalten und dann fotografierten "Gräueldarstellungen", erklärt der Rezensent. Dabei stellt er einen entscheidenden "Kurswechsel" zu den 1977 geäußerten Thesen der amerikanischen Autorin fest: Hatte sie in ihrem früheren Essay kritisiert, dass maßloser Gebrauch von Bildern gegenüber fremdem Leid abstumpft, so betone sie im vorliegenden Text, dass Bilder nun mal das Wirkungsvollste sind, wenn es darum geht, fremde Erfahrungen zu vermitteln. Dabei verabschiedet Sontag sich notgedrungen auch von der "Fundamentalkritik" an Fotografen, wonach diese, statt einzugreifen, lediglich Bilder machten und damit schuldig würden, so Zill zustimmend. Er bemerkt angetan, dass der Band "mehr" ist als nur "ein weiteres Buch über Bilder", weil es auch über die "prinzipielle Unüberwindlichkeit von Erfahrungsschranken" reflektiert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.08.2003

Was der Schock vermag
Selbstkorrektur: Heute erscheint Susan Sontags Essay „Das Leiden anderer betrachten”
Das Buch hat keine Bilder. Nur auf dem Umschlag ist eine Radierung aus Goyas „Schrecken des Krieges” zu sehen, ein am Baum Erhängter, vor dem auf einer kleinen Mauer ein Soldat in Uniform sitzt. Den Körper zurückgelehnt und den Kopf auf den linken Arm gestützt, betrachtet er den Toten. Schon eine ganze Weile scheint er dort zu sitzen, hat dem Verurteilten vielleicht beim Sterben zugesehen.
„Regarding the Pain of others”, „Das Leiden anderer betrachten”, heißt der neue Essay von Susan Sontag, der heute in der deutschen Ausgabe erscheint. Und wenn Sontag darin die Ikonen der Kriegsfotografie aufruft – den „Tod eines republikanischen Soldaten” oder die Landung an Omaha Beach von Robert Capa, auf die sich Steven Spielberg in „Saving Private Ryan” stützt; die Fotografien von der Befreiung der Konzentrationslager oder das bekannte Bild aus dem Vietnamkrieg, auf dem Kinder bei einem Napalm-Angriff schreiend die Straße entlang laufen –, dann verlässt sie sich darauf, dass wir sie kennen.
Allerdings vermeidet sie auch, sie noch einmal zu zeigen: „Das Problem”, sagt sie, „besteht nicht darin, dass Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern dass sie sich nur an die Fotos erinnern.” Die Konzentrationslager, oder die Bilder, die 1945 bei ihrer Befreiung gemacht wurden, seien schon fast alles, woran die Leute im Zusammenhang mit dem Nazismus und dem Elend des Zweiten Weltkriegs dächten. Erinnern bedeute immer weniger, sich auf eine Geschichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild aufzurufen. Erzählungen können etwas verständlich machen. Fotos dagegen suchen heim und lassen nicht mehr los. Sontag selbst will niemanden heimsuchen. Sie will erzählen und tauscht Bilder gegen Worte.
Mit den Aufnahmen aus Bergen-Belsen und Dachau, die sie im Juli 1945 zufällig in einer Buchhandlung in Santa Monica entdeckte, hatte bei ihr alles angefangen. Sie war damals zwölf Jahre alt, Tochter einer jüdischen Familie in New York, und sie verstand nicht: „Als ich diese Fotos betrachtete”, schreibt sie 1977 in „Über Fotografie”, „zerbrach etwas in mir. Eine Grenze war erreicht, und nicht nur die Grenze des Entsetzens; ich fühlte mich unwiderruflich betroffen, verwundet, aber etwas in mir begann sich zusammenzuballen; etwas starb; etwas weint noch immer.”
Aus dieser Urszene ist eine lebenslange Beschäftigung mit Schockfotos hervorgegangen. Eine lange Erzählung, die sich aus vielen kurzen Essays zusammensetzt. Wenn sie jetzt in „Das Leiden anderer betrachten” an ihr Buch von 1977 anknüpft, wenn sie auf manches noch einmal zu sprechen kommt, dann nicht, um es bloß fortzuspinnen. Sie widerruft sich vielmehr selbst. Der Ehrgeiz, sich ständig neu zu erfinden, sei das Amerikanischste an ihr, hat sie einmal gesagt, was nicht kokett war. Denn der Mut zur Revision macht sie zu dem, was sie heute ist: eine Intellektuelle, beweglich im Denken, die – dafür ist ihr unpatriotischer „Schnellschuss” nach dem 11. September das beste Beispiel – sich nicht scheut, spontan zu reagieren und später ihre Meinung zu ändern.
Blut kommt immer gut
Über manche Selbstkorrekturen ist man tatsächlich erleichtert. Wer in den letzten Jahren Sontags frühe Fotografie-Essays gelesen hat, dem kamen sie zuweilen sehr moralisch vor. „Das Fotografieren”, so die strenge Diagnose, habe eine „chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet”. Man sah die Autorin dann im weißen Chefarztkittel vor sich – der Leser selbst nicht mehr als ein kläglicher Patient der bebilderten Moderne.
Heute, gleich fühlt man sich besser, spricht sie anders und bezeichnet ihre eigenen Thesen als „konservative Kritik”. Das waren sie, bedenkt man, dass schon Baudelaire den Verfall des Empfindungsvermögens beklagt hatte, obwohl es in seiner Tageszeitung noch gar keine Fotos gab. Er fand es unerträglich, dass zivilisierte Menschen zum Frühstück einen Ekel erregenden Aperitiv von Abscheulichkeiten serviert bekamen. „If it bleedes, it leads”, „Blut kommt immer gut”, hieß später die Faustregel der Massenpresse und Nachrichtenkanäle.
Meine frühe Argumentation, sagt Susan Sontag, zielte auf die Verteidigung der Wirklichkeit und der gefährdeten Maßstäbe für eine adäquate Auseinandersetzung mit ihr. „Lassen wir uns von den grausigen Bildern heimsuchen”, lautet dagegen jetzt die Devise. Nicht nur hätten Opfer ein Recht darauf, dass ihre Leiden dargestellt werden. Den Bildern käme eine wichtige Funktion zu, auch wenn sie die Realität, auf die sie sich beziehen, nicht erfassen können. Sie sagen: „Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun, vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.” Sich heimsuchen lassen von den Schockfotos, um dann davon zu erzählen: das ist in „Das Leiden anderer betrachten” Sontags Programm.
Dabei hält sie auch an alten Behauptungen fest, insistiert auf dem, was in Bezug auf die Fotografie wohl nicht oft genug wiederholt werden kann. Man mag es banal finden, wenn sie feststellt, dass die Vorstellungen von einem Leiden, das sich in einer Anzahl ausgewählter, anderswo stattfindender Kriege nach und nach anhäuft, ein „Konstrukt” ist. Doch besteht die Magie der Fotografie seit ihren Anfängen darin, sich selbst nicht als „Konstrukt”, sondern als „Beweis” zu suggerieren. Immer besteht Grund zur Annahme, dass etwas existiert – oder existiert hat – das dem gleicht, was auf dem Bild zu sehen ist. Das Ereignis, so der Mythos, scheint ohne symbolische Übersetzung ins Bildliche transportiert zu werden.
Das war nie so. Stets warf sich jemand in Pose, wurde ein Ausschnitt gewählt und Blenden eingestellt, wurde verkleinert, vergrößert, retuschiert. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn viele Reportagefotos, unter ihnen Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich der Erinnerung eingeprägt haben, gestellt sind. Merkwürdig ist vielmehr, dass wir, wenn wir davon erfahren, überrascht und immer enttäuscht sind. Wir fühlen uns betrogen. Besonders dann, wenn sich Fotos als arrangiert erweisen, die intime Höhepunkte festzuhalten scheinen: Augenblicke von Liebe und Tod. Das gilt für Capas Bild vom „republikanischen Soldaten”. Es gilt aber auch für Robert Doisneaus Liebespaar am Pariser Hôtel de Ville. Die Enthüllung, dass hier ein Mann und eine Frau eigens angestellt wurden, einen Tag lang für Doisneau zu knutschen, sorgte selbst nach vierzig Jahren noch für heftige Verstimmung.
„Kein noch so ausgeprägtes Bewusstsein davon, was Fotografie ist oder sein kann, wird jemals der Faszination etwas anhaben können, mit der uns ein Bild erfüllt, das ein Fotograf im richtigen Augenblick von einem unerwarteten Geschehen festhält”, heißt es in „Das Leiden anderer betrachten”. Doch schreibt Susan Sontag beharrlich an diesem Bewusstsein weiter. „Was vermögen Bilder, was vermag der Schock?”, fragt sie und will sich – trotz Vietnam – nicht darauf verlassen, dass diese pazifistische Handlungen nach sich ziehen. Erzählen hält sie für wirksamer. Sonst wäre sie sicher Fotografin geworden.
JULIA ENCKE
SUSAN SONTAG: Das Leiden anderer betrachten. Hanser Verlag, München 2003. 150 Seiten, 15,90 Euro.
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