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Diese Studie behandelt die afghanische Ratsversammlung Loya Jirga, die seit der Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn 2001 in aller Munde ist. Die Loya Jirga, so das weitverbreitete Verständnis, könne als traditionelles "Stammesparlament" im 21. Jahrhundert die afghanische Staatlichkeit auf eine für Afghanistan typische Weise voranbringen. Benjamin Buchholz zeigt, dass das Phänomen der Loya Jirga so einfach nicht zu fassen ist. Gestützt auf bislang unerschlossene Quellen aus Afghanistan macht Buchholz deutlich, wie die Herrschenden die Loya Jirga seit fast einem Jahrhundert nutzen. Sie…mehr

Produktbeschreibung
Diese Studie behandelt die afghanische Ratsversammlung Loya Jirga, die seit der Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn 2001 in aller Munde ist. Die Loya Jirga, so das weitverbreitete Verständnis, könne als traditionelles "Stammesparlament" im 21. Jahrhundert die afghanische Staatlichkeit auf eine für Afghanistan typische Weise voranbringen.
Benjamin Buchholz zeigt, dass das Phänomen der Loya Jirga so einfach nicht zu fassen ist. Gestützt auf bislang unerschlossene Quellen aus Afghanistan macht Buchholz deutlich, wie die Herrschenden die Loya Jirga seit fast einem Jahrhundert nutzen. Sie dokumentierten auf den Versammlungen den eigenen Machtanspruch, ließen wichtige Beschlüsse verabschieden und schufen ein öffentliches Kommunikationsforum, mit dessen Hilfe Botschaften von Kabul aus an die afghanische Peripherie transportiert werden konnten. Jeder derartige Konvent blieb ein Spiegel der Gesellschaftsvorstellungen und der Machtkonstellation seiner Zeit und wurde entsprechend den Erfordernissen und sich ändernden symbolischen Bezügen angepasst.
Wer mit Buchholz den Weg durch Jahrzehnte vielfältiger Inszenierungen von Herrschaft beschreitet, wird begreifen, wie wechselnde afghanische Regierungen bis heute von Kabul aus die Provinzen zu beeinflussen und in eine gewünschte Richtung zu lenken suchen. Er oder sie wird gleichfalls verstehen, warum sich Afghanistan mit einer westlichen Auffassung von politischer Repräsentanz und Entscheidungsfindung allein nicht regieren lässt.
Dr. Benjamin Buchholz promovierte 2012 mit der vorliegenden Arbeit am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Sonderforschungsbereich 640 "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel".
Autorenporträt
Buchholz, Benjamin
Dr. Benjamin Buchholz promovierte 2012 mit der vorliegenden Arbeit am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Sonderforschungsbereich 640 »Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2014

Seit neunzig Jahren bewährt
Benjamin Buchholz über Afghanistans erfundene Tradition der Loya Dschirga

Westliche Politiker verweisen in der Diskussion um das Sicherheitsabkommen Afghanistans mit den Vereinigten Staaten neuerdings gern auf die Loya Dschirga, weil sie - anders als Präsident Hamid Karzai - den Entwurf des Abkommens im Dezember vergangenen Jahres abgesegnet hat. Dabei wird die "Große Ratsversammlung" oft als eine Mischung aus urdemokratischer Institution und archaischer Stammestradition dargestellt. So sprach etwa Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kürzlich in einem Interview von "der Repräsentanz der afghanischen Bevölkerung schlechthin". Diese Darstellung lässt nicht nur die Frage offen, wofür Afghanistan dann neben der Loya Dschirga überhaupt noch ein Parlament hat. Sie lässt auch außer Acht, dass es bei den meisten Ratsversammlungen in der afghanischen Geschichte wenig demokratisch zuging. So war etwa ein großer Teil der 2500 Delegierten der jüngsten Loya Dschirga im November 2013 von einer dem Präsidenten nahestehenden Kommission ausgewählt worden. Zudem wurde über das Sicherheitsabkommen mit Washington gar nicht abgestimmt, sondern die Billigung der Versammlung durch den Präsidenten gewissermaßen vorausgesetzt. Auf zustimmendes Murmeln im Saal sagte er: "Ich kann sehen, dass die Mehrheit der Mitglieder der Loya Dschirga dem zustimmt."

In der Medienberichterstattung wird zudem häufig der vermeintlich traditionelle Charakter der Versammlung unterstrichen - mit romantisch anmutenden Bildern von alten, bärtigen Männern mit großen Turbanen. Dabei waren bei der Loya Dschirga im vergangenen Jahr ein Viertel der Sitze für Frauen reserviert. Bei der Ratsversammlung von 1928 bestand König Amanullah Khan gar darauf, dass die Delegierten in Anzug und Krawatte erschienen. Und während der Zeit der kommunistischen Herrschaft waren viele Arbeiter und Bauern unter den Delegierten.

Benjamin Buchholz will nun den Schleier der Verklärung über dieser afghanischen Institution lüften. Er weist nach, dass nicht nur westliche Politiker und Medien zum Mythos der Loya Dschirga beitrugen, sondern vor allem afghanische Herrscher und nationalistisch gesinnte Historiker. Die meisten offiziellen afghanischen Schriften zur Großen Ratsversammlung bis hin zur Website der amtierenden afghanischen Regierung datieren die erste Versammlung dieser Art auf das Jahr 1747 und verknüpfen sie mit dem Gründungsmythos der afghanischen Nation, der Krönung Ahmad Schah Durranis.

Im Gegensatz dazu schreibt Buchholz ausgerechnet dem Reformkönig und übereifrigen Modernisierer Amanullah die Erfindung der Loya Dschirga zu. Als dieser 1923 erstmals eine solche einberief, die sich sowohl im Namen als auch im Format von allen früheren Versammlungsformen unterschied, betrachtete Amanullah diese als moderne Institution, die einen Neuanfang im Verhältnis zwischen Herrscherhaus und Stämmen markieren sollte. Erst ab Mitte der dreißiger Jahre begannen spätere Machthaber - mit Hilfe der Geschichtswissenschaft und staatlicher Medien - das Konzept der Loya Dschirga nachträglich auf frühere Treffen zwischen Herrschern und Stämmen zu projizieren und so eine vermeintliche Kontinuität zu konstruieren. Das zeigt Buchholz durch den Vergleich von Schulbüchern aus den Jahren 1921 und 1980.

Faszinierend an Buchholz' Analyse der Loya Dschirgas der vergangenen neunzig Jahre ist vor allem, wie flexibel sich diese Institution in den verschiedensten politischen Kontexten erwies - sie wurde von Monarchen und Kommunisten ebenso einberufen wie von Islamisten und Demokraten. Dabei ging es selten darum, dass die Delegierten Entscheidungen treffen sollten, sondern vielmehr darum, maßgeblichen Richtungsentscheidungen der Machthaber Legitimität zu verleihen und diese in alle Landesteile zu kommunizieren. Auch versicherte sich die Nation in Zeiten des Umbruchs und der Krise ihrer selbst und ihrer Werte. Trotz der offensichtlichen Vereinnahmung der Loya Dschirga durch die verschiedenen Machthaber scheint sie bis heute ihre symbolische Wirkmächtigkeit und Sinnstiftung nicht eingebüßt zu haben. Das liegt wohl auch an dem Begriff "Loya Dschirga", denn Dschirgas sind in Afghanistan als Beratungsgremien auf allen gesellschaftlichen Ebenen präsent. Doch diese paschtunische egalitäre Tradition (die den Schuren im persischsprachigen Teil des Landes ähnlich ist) hat mit den auf die Herrschenden zugeschnittenen Loya Dschirgas wenig gemein.

Buchholz hat wertvolle Informationen über eine bislang kaum erforschte, äußerst erfolgreiche und weltweit einzigartige politische Institution zusammengetragen. Als ursprüngliche Promotionsschrift, die chronologisch und in spröde-lexikalischem Ton die Geschäfts- und Sitzordnungen, Rederechte und Einladungsverfahren der verschiedenen Loya Dschirgas vergleicht, wird sie jedoch den meisten Lesern unzugänglich bleiben. Anekdoten über Intrigen, Finten und Posen der Herrschenden, die die afghanische Politik begreifbar und lebendig machen, sind leider im Buch ausgespart.

FRIEDERIKE BÖGE

Benjamin Buchholz: Loya Jirga. Afghanischer Mythos, Ratsversammlung und Verfassungsorgan. Rombach Verlag, Freiburg i. Br. 2013. 279 S., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Es handelt sich zwar um eine etwas dröge Lektüre, wie die Rezensentin Friederike Böge unter Hinweis auf den Ursprung des Buchs in einer Dissertation bemerkt, aber um eine für Fachkräfte und alle Afghanistaninteressierte dennoch lohnende. Die Loya Dschirga sei zwar eine durchaus erfolgreiche Institution, aber darum noch längst nicht jene urdemokratische Stämmeversammlung, als die sie gerne in Medien verklärt wird. Im Grunde wurde sie erst vom Radikalreformer Amanullah in den zwanziger Jahren als Anknüpfung an die Tradition geschaffen und diente verschiedenen Regimes dazu, ihren Willen zu popularisieren und zu kommunizieren, erläutert Böge. Aber so gesehen war sie dann eben doch erfolgreich und wird, wenn man der Rezensentin glaubt, auch für die künftige Entwicklung Afghanistan von Bedeutung bleiben. Dem Autor dankt die Rezensentin für die gründliche Aufarbeitung des Themas, das für das Verständnis dieses Landes unerlässlich ist.

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