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Ora erzählt: von ihrer Liebe zu zwei Männern, von Wut und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Leidenschaft und von ihrem Sohn Ofer, der sich freiwillig für einen Militäreinsatz im Westjordanland meldet. Seine Mutter hofft, das drohende Unglück zu bannen, indem sie ihrem Jugendfreund Avram, der im Sechstagekrieg selbst Soldat war, von Ofers Vorhaben berichtet. Und unerreichbar zu sein, falls das Schreckliche geschieht ... Autor und Friedensaktivist David Grossman spiegelt die großen Fragen in den kleinen Erlebnissen des Alltags. Er zeigt, wie in Israel das Schicksal der Menschen unauflöslich mit…mehr

Produktbeschreibung
Ora erzählt: von ihrer Liebe zu zwei Männern, von Wut und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Leidenschaft und von ihrem Sohn Ofer, der sich freiwillig für einen Militäreinsatz im Westjordanland meldet. Seine Mutter hofft, das drohende Unglück zu bannen, indem sie ihrem Jugendfreund Avram, der im Sechstagekrieg selbst Soldat war, von Ofers Vorhaben berichtet. Und unerreichbar zu sein, falls das Schreckliche geschieht ... Autor und Friedensaktivist David Grossman spiegelt die großen Fragen in den kleinen Erlebnissen des Alltags. Er zeigt, wie in Israel das Schicksal der Menschen unauflöslich mit Politik verbunden ist. Ein mitreißendes, unvergessliches Buch und ein Protest gegen den Krieg.
Autorenporträt
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012) und Aus der Zeit fallen (2013).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2009

Wenn die Söhne in den Krieg ziehen

Die Angst mit tausend Erinnerungen überschreiben: Der Roman des israelischen Autors David Grossman ist eine bewegende Symphonie der Stimmen.

Von Anja Hirsch

David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" ist eine der großen, bleibenden Lektüren dieses Herbstes. Denn der 1954 in Jerusalem geborene Autor hält den täglichen Schlagzeilen über den Nahost-Konflikt das Versprechen der Literatur entgegen - und löst es ein.

In Grossmans Werken geht es oft um ein nicht ganz ungefährliches Spiel: um das Ausloten von Persönlichkeitsgrenzen. Wie nah kann man einander sein, wie viel Distanz muss man wahren? Jair, ein Mann Anfang dreißig, schreibt Briefe an eine Frau, die er nur einmal gesehen hat. Er hofft nicht auf eine Antwort: Seine Sehnsucht gilt dem leeren Raum, also der mächtigen Projektionsfläche zwischen den Menschen. Zu wissen, wo der andere beginnt, heißt zu wissen, wo man selbst endet. Die Vorstellung eines unbespielten Raumes, eine haltlose Utopie: nicht nur, aber auch ein israelisches Thema.

In "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" erleben wir die Panik einer Mutter, die ihren Sohn zum Sammelplatz begleitet, von wo er in den Krieg ziehen wird: auch das eine israelische Erfahrung. Freiwillig hat der junge Mann sich zum Militäreinsatz im Westjordanland gemeldet. Von ihm bleiben in seinem Zimmer eine Socke, ein Brief, ein umgekehrtes Buch am Boden zurück. Was, fragt sich die Mutter, ist der letzte Satz, den er gelesen hat? Schon stellt sie sich das Klopfen an der Tür vor, wenn man ihr die Nachricht von seinem Tod überbringt. Doch sie entscheidet sich zu gehen, nicht zu warten. Wie David Grossman die zurückgelassene Frau namens Ora im Laufe einer langen Wanderung die Splitter der letzten zwanzig Jahre behutsam aufheben lässt, ist ein beispielloser Akt der Auseinandersetzung mit der eigenen Ohnmacht. Am Ende weitet sich der Blick, obwohl die Bedrohung bleibt. In einer bildmächtigen Prosa beschreibt der Roman den Versuch, die Angst mit tausend winzigen Erinnerungen zu überschreiben, wenn auch nie zum Verschwinden bringen zu können. Mit Ora hat Grossman eine launische, sinnliche, ergreifende Lichtfigur ins Zentrum gerückt, die sich mit Hilfe der Erinnerung und Imagination gegen die Vereinnahmung durch zu viel Wirklichkeit sträubt. Durch ihre Augen nimmt der Leser den politischen Konflikt in seiner ganzen Schärfe wahr.

David Grossman begann mit der Arbeit an diesem Roman, kurz bevor sein erstgeborener Sohn Jonathan den Militärdienst beendete und Uri, der Jüngere, einberufen wurde. Mit ihm hat er viel über das Buch und die Figuren gesprochen. "Was hast du ihnen diese Woche wieder angetan?", fragte der Sohn oft. In den letzten Stunden des zweiten Libanon-Krieges am 12. August 2006 wurde er getötet.

"Eine Frau flieht vor einer Nachricht" beschreibt eine israelische Wirklichkeit, wie sie Generationen prägt. Der Konflikt um die besetzten Gebiete wurde von vielen israelischen Autoren als literarisches Thema lange gemieden. Grossmans Novelle "Das Lächeln des Lammes", 1983 erschienen, gilt als eine der ersten hebräischen Erzählungen dazu. Später begann auch er, die neben Amos Oz und Abraham B. Jehoshua wichtigste Stimme im Land, fein zwischen politischen Artikeln und Literatur zu trennen. Dennoch flossen seine Visionen und Reflexionen stets auch in seine Figuren: störrische und stürmische Kinder oder versonnene Heranwachsende, fremd im eigenen Leben, jedoch immer im Gespräch oder wenigstens im Selbstgespräch. Niemals zuvor aber hat Grossman israelische Wirklichkeit und die intime Atmosphäre von Familienleben so zwingend erzählerisch aufeinander bezogen wie jetzt.

Es sind auch diesmal Heranwachsende, die das eigentliche Romangeschehen in einer Art Prolog eröffnen. Die noch junge Ora liegt fiebernd auf einer Isolierstation. Manchmal bekommt sie Besuch von anderen Sechzehnjährigen, die einander in der Dunkelheit ertasten und keine Möglichkeit zur Flucht nach draußen haben. Sie haben schon zu viel gesehen, vom Krieg gehört, den sie nicht verstehen, einen Freund gehabt, der Soldat wurde, und eine Freundin, die starb. Die Szenen, in denen die suchenden Stimmen der fiebernden Kinder das Krankenzimmer füllen, ähneln einem in Prosa gefassten Hörspiel. Grossman macht uns hier bekannt mit den künftigen Hauptfiguren, und er zeigt sie schutzlos: Ora und ihre beiden künftigen Männer. Mit dem einen, Ilan, wird sie Jahre später eine Familie gründen und diese zerbrechen sehen; mit dem anderen, Avram, wird sie durch Israel wandern und ihm von dieser Familie erzählen, während ihr Sohn Ofer als Soldat kämpft. Die Familie gibt es nur in diesem erzählerischen Rückblick, nur als Vergangenheit.

Dieser traumartig verwischte Prolog enthält in Miniatur das Gebirge des Romans: die Suche nach Normalität inmitten der Angst, während Kriegspropaganda aus einem kleinen Transistorradio im Krankenhausflur zu den schüttelfröstelnden jungen Körpern dringt. Oras Gefühl, "wie man sie langsam aus dem Bild ihres Lebens herausschnitt", bestimmt die folgenden siebenhundert Seiten und auch das Denken der erwachsenen Frau.

Grossman erzählt in "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" eigentlich zwei große Geschichten: Die eine ist die Klage einer Frau, die um sich selbst und die wegziehenden Männer ringt, die andere die Geschichte der verlorenen Söhne, die inmitten der Soldatenwelt irritierend schnell die Rhetorik dieses Krieges übernehmen und sich seltsam fremd werden. Wie die Männer sich wappnen, ist erschreckend: "Wie ein Tierjunges, das zum ersten Mal Blut geschmeckt hat", kommt Ora ihr Sohn Ofer, der sich freiwillig meldete, bisweilen vor. Er scheint wie angezogen von einem Magnetfeld, zu dem Ora, außer durch sporadische Anrufe, keinen Zugang erhält - weshalb sie, statt zu warten, lieber flieht, auf jene lange Wanderung im Nirgendwo eines Landes, das um seine Grenzen ringt. Immer in Bewegung bleiben, verordnet sich Ora angesichts des Notstands: "Sie hier, Ofer irgendwo dort." Dazwischen bäumt sich die gemeinsame Vergangenheit auf - und die Rede darüber erscheint die einzige Möglichkeit, dem Sohn beschützend nahe zu sein. Zwar kommen Ora ständig Zweifel - "Sie soll wissen, wie man richtig von Ofer erzählt?" -, doch Avram, ihr früherer Geliebter, drängt sie zu reden: über erste Schritte, Reimwörterspiele, über das neugierig fragende Kind, dem man noch nicht alles erzählen mag, weil man es vor der Brutalität der Welt bewahren will.

Wie ein Regisseur blendet Grossman in einzelnen Szenen immer wieder die Bedingungen ein, unter denen diese Kraterbiographien entstanden sind. Avram, gefoltert in einem anderen Krieg, haben die Wunden der Vergangenheit zum traumatisierten Einsiedler gemacht. Ihn aus der Starre zu erlösen, erledigt Ora wie nebenbei - sie hat Kraft zu verschenken. Avram, in dem alles abgestorben schien, entdeckt die Lust des aufmunternden Zuhörens. Aber er fragt auch: Wozu weiterleben?

Diese abgerissenen und wiederaufgenommenen Gespräche zwischen Avram und Ora sind Lebensspender auch für die Leser. Bisweilen scheint etwas vom anderen verstanden, ein kurzes, winziges Glück. Dann wieder trennt das bittere Wissen, dass Oras Geschichte immer auch "in Spiegelschrift" geschrieben ist, lesbar nur für sie selbst. Nichts vernarbt in diesem Land. "In allem lag ein großer Fehler, den man nicht mehr gutmachen konnte."

Jenseits des großen politischen Konflikts erzählt Grossman vom inneren Konflikt des Einzelnen wie durch ein Brennglas. Wenn Avram als Funker im Jom-Kippur-Krieg aus der Wüste beharrlich Sätze durch sein Funkgerät in die Welt spricht, ruft, fragt, nicht wissend, ob man ihn hört, ergreift den Leser diese Schilderung als Bild ebenso wie durch die stille, minutiöse Art der Darstellung. Auf ihrer Wanderung durch Galiläa begegnen Ora und Avram einem Mann, der Lebensgeschichten sammelt. Auch diese haben Eingang in diesen Roman gefunden. Und mit ihnen weitere Spuren von Kriegen, Terror, Leidenschaften. Mit "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" hat Grossman einen bewegenden, vielstimmigen Roman geschaffen.

David Grossman: "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, München 2009. 730 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.08.2009

Das Land zerstört die Familie
David Grossman erzählt von der Angst einer israelischen Mutter: „Eine Frau flieht vor einer Nachricht”
Kann Sprache retten, oder ist sie die große Verräterin - ein falsches Wort genügt, und schon ist alles zu Ende? Wie Sisyphos seinen Stein wälzt David Grossman diese Frage durch seinen Roman. Es ist die alttestamentliche Frage nach dem Schibboleth, dem Erkennungszeichen, das Zugehörigkeit oder Aussonderung bewirken kann. Grossman verbindet sie mit dem arabischen Scheherazade-Motiv zu einem Roman von geradezu halsbrecherischer Menschlichkeit. Es geht hier nicht nur um die Grundfragen der Existenz, um Liebe und Tod, Vertrauen, Freundschaft und Verrat, nicht nur um die Schwierigkeiten, in einem Land wie Israel ein einigermaßen normales, also privates Leben zu führen, nicht nur um die Angst als ständigen Begleiter. Es geht auch und vielleicht in erster Linie um die Verletzlichkeit des Menschen, körperlich und seelisch, und darum, sie nicht nur als Nachteil, sondern auch als eine Art Geschenk zu sehen.
Es ist eine Frau um die fünfzig, Ora, die David Grossman auf die Reise schickt, quer durch Galiläa, quer durch ihre Lebensgeschichte, begleitet von einem Mann, Avram, der ihr zuhört, zögerlich und verschlossen zunächst. Seit er in ägyptischer Gefangenschaft gefoltert wurde, will er vom Leben nichts mehr wissen. Doch je länger er zuhört, desto offener wird er. Er ist Teil dieser Geschichte und wird später ihr Erzähler sein. Später, wenn Ora selbst vielleicht nicht mehr lebt, weil sie den größten Schmerz ihres Lebens nicht ertragen will. Vor ihm flieht sie, siebenhundert Seiten lang, die der Leser mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, angstvoll und wachsam. Und doch ist der Schmerz immer schon da, als nackte Angst, als Körpergefühl, das Ora, tausendmal imaginiert, bereits zu kennen meint: Wie es sich anfühlen wird, wenn man ihr eines Tages die Nachricht überbringt, einer ihrer beiden Söhne sei getötet worden.
Mehr als zwanzig Jahre ist alles gutgegangen. Adam, der ältere Sohn, hat den dreijährigen Militärdienst überstanden, auch Ofer, der jüngere, hat ihn gerade hinter sich. Doch am Tag seiner Entlassung meldet er sich freiwillig zu einem Einsatz im Westjordanland. Da hält es Ora nicht mehr zu Hause aus. Sie will nicht in der Nähe des Telefons sein, nicht in der Nähe der Tür. Wenn sie anrufen, wenn sie kommen, um die Nachricht bei ihr abzuladen, wird sie nicht da sein! Zum Überbringen einer Botschaft gehören immer zwei, sagt sie sich, einer, der sie bringt, und einer, der sie in Empfang nimmt. Dem wird sie sich verweigern. Wenn keiner da ist, kann das Schicksal auch nicht zuschlagen. Man kennt diese Art von magischem Denken auch aus den anderen Büchern des Autors. So dringlich aber war es noch nie.
Ora flieht, weg aus ihrem Haus, weg aus Jerusalem. Der Rucksack ist längst gepackt, ihrer und auch ein zweiter. Er war für Ofer gedacht. Denn eigentlich sollte die Wanderung durch Galiläa, die sie nun alleine machen will, ein Geschenk für ihn sein, ein Geschenk, um das Ende seines Militärdiensts zu feiern, und zugleich ein Versöhnungsangebot. Denn Ofer, der ruhigere, klarere und weichere ihrer beiden Söhne, der seiner Mutter so nah gewesen ist, hat sich während der Militärzeit von ihr entfernt. Ihre ständige Sorge, ihre Mahnungen, nur ja auf sich aufzupassen, aber auch auf keinen Fall jemals auf einen anderen Menschen zu schießen, fand er schon lange einfach nur noch lächerlich: „Sorry, Mama, das ist Krieg.” Nun muss sie erkennen, was das Militär tatsächlich mit ihm angestellt hat. „Drei Jahre lang habe er an diesen Scheißstraßensperren gestanden, Patrouillen gefahren, habe sich in palästinensischen Dörfern und jüdischen Siedlungen von den jeweiligen Kindern mit Steinen beschmeißen lassen, ganz zu schweigen davon, dass er schon ein halbes Jahr keinen Panzer mehr von innen gerochen habe – da soll er jetzt nicht mitmachen dürfen, er, der immer Pech hat und das Beste verpasst, so einen Bombeneinsatz, drei Panzerbrigaden gemeinsam, hatte er geschrien, mit Tränen in den Augen, für einen Moment hätte man denken können, er streite mit ihr darum, dass er spät von einer Klassenparty heimkommen darf – und wie sollte er bitte zu Hause sitzen oder in Galiläa wandern gehen können, wenn alle seine Freunde dort waren.”
Aus einem intimen Album
Kurz bevor sie aufbrechen will, ruft Avram an, ihre zweite große Liebe neben Ilan, ihrem Mann, der sie vor neun Monaten verlassen hat. Dass er Ofers Vater ist, erfahren wir erst später, und auch die weiteren Details einer Familiengeschichte, in der trotz aller Komplikationen die „Fülle des Lebens” zu Hause war. Ora holt Avram in Tel Aviv ab, lädt ihm den Rucksack des Sohnes auf und zwingt ihn, Wort für Wort, Schritt für Schritt, den Menschen kennenzulernen, den er gezeugt hat: als Baby, das gleich nach der Geburt seinen Platz in der Welt gefunden zu haben schien, als Vierjährigen, der sich plötzlich weigert, Fleisch zu essen, weil er begreift, dass die Tiere eigens dafür getötet werden, als Sechsjährigen, der sich fragt, welche Länder für und welche gegen Israel sind, und der nach jedem Anschlag die verminderte Zahl der Israelis notiert, bis er eines Tages schockiert feststellt, dass es auch arabische Israelis gibt. Wie Szenen aus einem Album, das so intim ist, dass man es normalerweise keinem zeigt, entwirft David Grossman das Porträt einer Familie, deren Zusammenhalt ganz allmählich vom Schicksal ihres Landes unterminiert und zerstört wird.
Es ist nicht zuletzt die geradezu zärtliche Geduld, mit der Grossman seine Geschichte wachsen lässt, die diesen Roman so ergreifend macht. Ohne jedes Pathos, ohne jede Sentimentalität entsteht vor den Augen des Lesers ein Raum aus Worten, der die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz ausspricht und bewahrt.
Verletzbar zu sein und das auch zu zeigen hält der 1954 in Jerusalem geborene David Grossman für die Voraussetzung der Liebe und der Kunst. Bisher hat er die beiden Seiten seiner Schriftstellerexistenz sehr bewusst auseinandergehalten: den politischen Autor, der sich aktiv und in zahlreichen Essays und Zeitungsartikeln für den Frieden mit den arabischen Nachbarländern und einen eigenen palästinensischen Staat einsetzt; und den literarischen Autor, der mit Phantasie, Sprachlust und unverhohlener Freude am Intimen das private Leben verteidigt. In diesem Roman, den Anne Birkenhauer mit all seinen sprachlichen Einfällen gekonnt ins Deutsche übertragen hat, kommen beide Seiten zusammen.
So war das Buch konzipiert, als David Grossman es im Mai 2003 begann. Und so hat er es zu Ende geschrieben, nachdem in seinem Leben die Katastrophe eintrat, die seine weibliche Hauptfigur mit allen Mitteln abzuwenden versucht. Am 12. August 2006 fiel sein jüngerer Sohn Uri in den letzten Stunden des zweiten Libanonkriegs. Der größte Teil des Romans, von dem er hoffte, er könne sein Kind beschützen, war bereits geschrieben und von Uri mit flapsigen Kommentaren bedacht („Was hast du ihnen diese Woche wieder angetan?”).
Dass sich der „Resonanzraum” geändert hatte, als die letzte Version entstand, spürt man auf jeder Seite dieses wahrhaft großen Romans, der die kleinen Dinge, aus denen wir Menschen gemacht sind, mit so viel Zärtlichkeit bedenkt. „Tausende von Minuten, Stunden und Tage, Millionen Dinge, unendlich viele Tage, Versuche, Fehler, Gespräche und Gedanken - das alles, um einen einzigen Menschen zu bilden”, schreibt Ora in ihr Notizbuch und diktiert Avram, was er ergänzen soll: „Einen Menschen, der so leicht zu zerstören ist.”
MEIKE FESSMANN
DAVID GROSSMAN: Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. C. Hanser Verlag, München 2009. 728 Seiten, 24,90 Euro.
„Drei Jahre lang an diesen Scheißstraßensperren gestanden” – Szene aus Hebron, Juli 2008. Foto: Reuters
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Meike Fessmann hat einen Roman von "halsbrecherischer Menschlichkeit" gelesen, wie sie  ergriffen erwähnt. Man merke dem Roman von David Grossman die dahinter stehende persönliche Geschichte stark an. Wie seine Protagonistin Ora um ihren jüngsten Sohn bangt, der als israelischer Soldat in den Krieg zieht, musste sich auch der Autor im jüngsten Libanonkrieg um seinen Sohn sorgen. Dieser starb. Diese traurige Verzweiflung färbe den Roman, der die Absoluthaftigkeit einer Nachricht vom Tod des Sohnes aber geschickt zu umgehen weiß: Ora geht von Zuhause weg, weil sie nicht warten möchte. Sie entzieht sich der Möglichkeit, die Nachricht vom Tod des Sohnes überhaupt zu erhalten. Dem Autor gelinge es, die Unsicherheit menschlicher Existenz ohne "Pathos" oder "Sentimentalität" sprachlich darzustellen, was die Rezensentin hervorhebt. Sie beeindruckt die Fülle an Liebe, Zärtlichkeit und Eindringlichkeit, die diesen Roman für sie "wahrhaft groß" macht. Sie lobt die Übersetzung von Anne Birkenhauer, die die Ideenfülle des Autors einfange.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Meisterhaft beleuchtet Grossman die Psyche einer Frau und Mutter, erzählt von Liebe und erotischer Leidenschaft, von Männerfreundschaft und leisen Nuancen des Alltags in einem von Gewalt und Angst zermürbten Land." Anat Feinberg, Die Welt, 22.08.09

"Kann ein Buch Leben retten? Der israelische Schriftsteller David Grossman wollte erzählend seinen Sohn beschützen. Er schrieb ein Epos über sein Land. Und - Weltliteratur." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.08.09

"Man liest immer langsamer, weil man nicht will, dass der Roman aufhört. Noch Tage danach ist man wie benommen und voll von dieser Romanwelt, die ein Leben nicht retten konnte, die aber ihrerseits Rettung ist, weil man in einer Welt ohne Bücher wie dieses gar nicht leben will." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.08.09

"Grossman erzählt mit einer angstfreien Verletzbarkeit, er schreibt sich um Kopf und Kragen, spricht in die Welt hinein, poetisch und wuchtig, sinnlich und wütend, leidenschaftlich und sanft, und so schreibt er nicht allein um sein Überleben, sondern um unseres." Carolin Emcke, Die Zeit, 13.08.09

"Ein Meilenstein in der zeitgenössischen hebräischen Prosa." Anat Feinberg, Die Welt, 22.08.09

"Sein bisher schönstes und reifstes Buch: eine Familiengeschichte, die zugleich eine Geschichte Israels ist." Klara Obermüller, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.09

"Es ist nicht zuletzt die geradezu zärtliche Geduld, mit der Grossman seine Geschichte wachsen lässt, die diesen Roman so ergreifend macht. Ohne jedes Pathos, ohne jede Sentimentalität entsteht vor den Augen des Lesers ein Raum aus Worten, der die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz ausspricht und bewahrt. (...) Ein wahrhaft großer Roman, der die kleinen Dinge, aus denen wir Menschen gemacht sind, mit so viel Zärtlichkeit bedenkt." Meike Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 28.08.09

"Vom ersten Wort an imprägniert diesen meisterlichen Roman eine schmerzliche Intensität, die ihm Kraft und Tiefe gibt und ihn zum großen Sehnsuchts- und Trauerbuch macht." Sigrid Löffler, Frankfurter Rundschau, 09.09.09

"DER moderne Israel-Roman, so etwas wie ein israelisches Pendant zu 'Krieg und Frieden'. Er verbindet das Private mit dem Politischen, verknüpft die wechselvolle Liebes- und Familiengeschichte von Avram, Ilan, Ora und deren beiden Söhnen mit der Geschichte der letzten 40 Jahre. Und er setzt der israelischen Landschaft ein literarisches Denkmal." Rolf Spinnler, Der Tagesspiegel, 13.09.09

"Dies ist einer dieser wenigen Romane, bei denen man das Gefühl hat, sie hätten die Welt verändert." Colm Tóibín, New York Times Book Review, 23.09.10

"Sein bisher wichtigstes Buch." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.10
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