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Produktdetails
  • Verlag: Rotpunktverlag, Zürich
  • Seitenzahl: 267
  • Erscheinungstermin: 23. Februar 2010
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 355g
  • ISBN-13: 9783858694157
  • ISBN-10: 3858694150
  • Artikelnr.: 27986516
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2010

Moderne Bürger unter
rückständigen Herrschern
Nicht die Ayatollahs haben Iran auf die falsche Bahn
gebracht: Es begann mit dem Diktator Reza Schah Pahlavi
Als Mehdi Karrubi noch kein Führer der Opposition war, sondern Präsident des iranischen Parlaments, pflegte er Abstimmungen über Frauenrechte stets mit dem Satz zu beenden: „Die Damen (damals 13 weibliche Abgeordnete) sind dafür, die Herren ebenfalls – aus Angst vor ihren Frauen. Also ist das Gesetz angenommen.“ Er karikierte damit die Koexistenz des bekannten Patriarchats im öffentlichen Leben mit einem heimlichen Matriarchat, das Frauen innerhalb des Hauses und der Großfamilie oft wesentlich mehr Einfluss gibt als den Männern.
Die Rolle der Frau ist das Leitmotiv des Buches „Iran ist anders“. Es klingt in vielen Kapiteln an und wird schon auf dem Einband sichtbar: Getrennt von den Männern sitzt eine Frau auf dem Diwan eines Gartenlokals und raucht Wasserpfeife. Und schon das Vorwort rühmt „selbstsichere Studentinnen und Geschäftsfrauen, die sich gar nichts mehr sagen lassen von ihren Männern“ – ganz so, als ob Autismus die ideale Grundlage eines gleichrangigen Verhältnisses der Geschlechter wäre.
Zu Recht stellt das Autorenpaar die Wichtigkeit des Kopftuchs in Frage, aus dessen Zwang oder Verbot der Westen zu oft einen Gradmesser des Fortschritts macht. Werner van Gent war als Journalist und Organisator von Kulturreisen viel in Iran unterwegs, Antonia Bertschinger hat Persisch studiert und war Beraterin für Menschenrechtsfragen an der schweizerischen Botschaft in Teheran. Die zitierte Unwichtigkeit der Verhüllung wird von den vielen Frauen im iranischen Teil der Familie des Rezensenten bestätigt. Keine von ihnen verliert je ein Wort darüber. Sie legen das Kopftuch ganz selbstverständlich an, wenn sie ihr Heim verlassen, und legen es ab, wenn sie das Haus von Vertrauten oder Verwandten erreicht haben.
Viel wichtiger sind iranischen Frauen die sehr realen Benachteiligungen beispielsweise im Erbrecht und Familienrecht oder die vielfachen Karrierehindernisse. Sie werden im Buch ausführlich geschildert. Dabei wäre es nicht nötig, die traditionelle Vorherrschaft der Männer an Exempeln darzustellen, die obskurer und dubioser kaum sein könnten. So wird behauptet, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien die Trottoirs iranischer Städte (gab es sie schon?) nach Geschlechtern getrennt gewesen, die Frauen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen. Es mag sein, dass so etwas hier oder dort praktiziert wurde, aber gesellschaftlicher Brauch war es nie. Auf zeitgenössischen Photos ist davon nichts zu sehen. Die Mutter des Rezensenten, die als junge europäische Frau vor dem Ersten Weltkrieg mehrere Jahre in Iran verbrachte, war eine gute Beobachterin und Erzählerin. Ihr wäre die angebliche Trottoir-Apartheid nicht entgangen.
An anderer Stelle erwähnen die Verfasser einen „Gesetzesartikel“, freilich ohne ihn näher zu identifizieren, der Vätern oder Großvätern „sozusagen das Recht zugesteht, ihre Kinder beziehungsweise Enkel umzubringen“, wenn diese sich als allzu unbotmäßig erweisen, ohne eine Mordanklage zu riskieren. Kein befragter Iraner hat je von dieser Ungeheuerlichkeit gehört, weder von der theoretischen Möglichkeit noch gar von einer solchen Praxis. Hier scheint der „andere Iran“ noch schlimmer als in den Vorurteilen, die das Buch bekämpfen will.
Schade – denn in der Schilderung der Geschichte, der politischen Zustände, der gesellschaftlichen Verhältnisse bis hin zur persischen Küche ist das Buch vorzüglich. Hier stimmen die Fakten, die Gewichte und die Urteile. Dabei ist es kein Wälzer. Selten erfährt ein interessierter Leser auf so wenig Raum so viel über ein Land, dessen Bild für die Mehrheit von flüchtigen Fernseh-Aktualitäten, wenig Sympathie und vielen Abneigungen bestimmt wird. Auch für den Rezensenten war es ein oft wiederholtes Schlüsselerlebnis, mit deutschen Kollegen, die erstmals im Land waren, durch Teheran zu gehen und ihre Verblüffung darüber zu sehen, dass die Frauen keine Gesichtsschleier tragen und Auto fahren, dass es fröhliche Partys gibt, auf denen getanzt und getrunken wird, oder dass kein Mensch etwas gegen die Amerikaner hat und sich kaum jemand mit Israel beschäftigt.
Die Lektüre macht deutlich, dass die Islamische Republik nicht eines Tages vom Himmel fiel. Sie war das Produkt der korrupten Herrschaft des Schahs, der mit skrupelloser Gewalt alle demokratischen oder sozialistischen Alternativen aus der Welt schaffte. Am Ende konnte sich die Unzufriedenheit nur noch über das Netzwerk von Ayatollah Chomeinis Moscheen artikulieren. Nicht eine übereilte Modernisierung, die vom rückständigen Volk nicht verstanden wurde, war schuld an der Revolution, wie oft behauptet wird, sondern die schlechte Qualität der Modernisierung.
Die Ausbeutung des Landes sowie seine Fremdbestimmung durch Briten, Russen und zuletzt Amerikaner wird mit der Ausführlichkeit geschildert, welche diese 150 Jahre dauernde Epoche im Bewusstsein der Iraner hat. Selbst für informierte Westler sind es längst erledigte historische Marginalien, dass die Briten das iranische Erdöl nur mit einem Trinkgeld honorierten, dass das Land in zwei Weltkriegen militärisch von den Alliierten besetzt war, dass der bürgerliche Nationalist Mohammed Mossadegh, der einzig demokratisch legitimierte Regierungschef, den das Land je hatte, durch einen CIA-Putsch (mit britischer Assistenz) gestürzt wurde, nachdem er das Erdöl verstaatlicht hatte, und dass danach der schon ins Ausland geflohene Schah zurückkehren konnte, um seine Diktatur zu errichten.
Für die Iraner waren dies traumatische Erlebnisse, deren fortdauernde Wirkung einen Amoklauf wie die Besetzung der US-Botschaft oder heute Teherans Haltung im Atomstreit erklärt. Vielleicht kommt in dieser Krankheitsgeschichte der Krieg mit dem Irak etwas zu kurz. Der Sicherheitsrat brauchte damals mehr als zwei Jahre, um sich mit der Aggression Saddam Husseins zu beschäftigen, der als „laizistisches Bollwerk“ gegen den Fundamentalismus die massive Unterstützung des Westens genoss. Zu einer Schuldzuweisung gelangte der Rat nicht. Als Saddam, inzwischen zum „neuen Hitler“ ausgerufen, Kuwait angriff, kam eine Resolution für bedingungslosen Rückzug der Iraker binnen zwölf Stunden zustande. Alles das ist längst vergessen überall in der Welt – nur nicht in Iran.
Das mit Liebe verfasste Kapitel über Sprache und Dichtung enthält eine Fleißarbeit. Mehrere Gedichte, darunter Verse von Ferdousi und Hafez, sind zweisprachig abgedruckt. Gleich darauf folgt eine letzte Übung in politischer Korrektheit. Auf einer einzigen Seite spricht das Autorenpaar von „Spezialistinnen und Spezialisten der Gedichte von Hafez“ sowie von „Generationen von Hafez-Interpreten und Interpretinnen“. RUDOLPH CHIMELLI
WERNER VAN GENT, ANTONIA BERTSCHINGER: Iran ist anders. Leben im Land der Gottesgelehrten. Rotpunktverlag, Zürich 2010. 270 Seiten, 24 Euro.
Die Islamische Republik ist nicht
plötzlich vom Himmel gefallen.
Für ihr Öl erhielten die Iraner
von den Briten nur ein Trinkgeld.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Selten hat er so viel Interessantes über den Iran gelesen wie in diesem Buch, lobt Rezensent Rudoph Chimelli überschwänglich, aber er hat auch einiges an ihm auszusetzen. Positiv rechnet er der Arbeit des Autorenpaars Antonia Bertschinger und Werner van Gent an, dass sie Land und Leute nicht auf das Regime der Mullahs reduzieren, sondern ein differenziertes Bild zeichnen. Ganz richtig findet er etwa, wenn sie die Bedeutung des Kopftuchs relativieren und andere Benachteiligungen wie etwa im Erbrecht oder im Berufsleben höher veranschlagen. Einverstanden ist er auch mit der Schilderung der iranischen Geschichte, deren unguter Verlauf nicht mit den Ajatollahs begonnen habe, sondern dem Putsch der CIA gegen Mossadegh, der den Schah wieder an die Macht gebracht habe. Weniger glücklich ist Chimelli, wenn die beiden Autoren die negativen Seiten des Irans schildern: Hier erscheine das Land schlimmer als die gängigen Vorurteile, und das geht für den Rezensenten natürlich nicht.

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