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»Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.« Roger Willemsen
»Momentum« ist nicht nur ein sehr persönliches Buch der Erinnerung, sondern zugleich eine einzigartige Anleitung, die entscheidenden Augenblicke unseres Lebens zu erkennen: Augenblicke von atmosphärischer Intensität stehen neben Entscheidungssituationen, Dialoge von großer Komik neben stillen Natur- und Kunstbetrachtungen, Kindheitsmomente neben Augenblicken der Liebe. Sind sie die Trittsteine im Lebenslauf? Sind sie das Glück?

Produktbeschreibung
»Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.« Roger Willemsen

»Momentum« ist nicht nur ein sehr persönliches Buch der Erinnerung, sondern zugleich eine einzigartige Anleitung, die entscheidenden Augenblicke unseres Lebens zu erkennen: Augenblicke von atmosphärischer Intensität stehen neben Entscheidungssituationen, Dialoge von großer Komik neben stillen Natur- und Kunstbetrachtungen, Kindheitsmomente neben Augenblicken der Liebe. Sind sie die Trittsteine im Lebenslauf? Sind sie das Glück?
Autorenporträt
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«.Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Literaturpreise:Rinke-Preis 2009Julius-Campe-Preis 2011Prix Pantheon-Sonderpreis 2012
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2012

Sex im Einbaum mit Ursula Andress

Aber nur geträumt: Der Schriftsteller und Essayist Roger Willemsen montiert ein Leben aus Momenten - und lässt vor allem ratlose Leser zurück.

Wenn wir ehrlich mit uns sind und uns sämtliche, auch nur im Geringsten bemerkenswerten Momente unseres Lebens ins Gedächtnis rufen, die großen und die kleinen, die schönsten und die schlimmsten, müssen wir kleinlaut zu der Erkenntnis kommen, dass wir mit ihnen niemals ein Buch füllen könnten. Roger Willemsen hat es da besser. Er kommt in seinem jüngsten Opus "Momentum" auf dreihundertsechzehn Seiten, indem er sein Leben aus lauter winzigen Punkten in einer Art literarischem Pointillismus zusammensetzt - aus Augenblicken, Begegnungen, Erinnerungen, Gedanken, grob chronologisch geordnet von der Grundschule und der ersten Liebe bis zu ein paar Sterbefällen und Todesgedanken am Ende des Buches.

Viel Beiläufiges ist darunter, manches hübsch Beobachtete und nichts wirklich Aufregendes, keine Sternstunden der Menschheit, keine Schlüsselmomente der Zivilisationsgeschichte, keine Steine der Weisen, doch darum geht es auch gar nicht. Es sind eher Mosaiksteinchen, fixiert mit dem brüchigen Mörtel eines Plaudertons, der sich ab und zu ins Philosophische vertieft und ein bisschen zu oft von Manierismen umschlungen wird wie von aufdringlichem Efeu. Mitunter klingt er auch ziemlich schief, etwa wenn Flipperkugeln von Stromstößen durch die Welt gepeitscht werden.

Willemsens Apotheose des Augenblicks ist an sich eine wunderbare Idee in einer Welt, in der Smartphones und der ganze andere Aufmerksamkeitsablenkungsklimbim uns immer stärker das Gefühl für die Schönheit des Moments rauben. Allerdings leben schreibende Pointillisten gefährlich. Sie müssen sich die grundsätzliche Frage gefallen lassen, welches Bild aus den Hunderten von Punkten entsteht, wenn man zurücktritt und das große Ganze betrachtet? Ist Roger Willemsen ein Georges Seurat mit Feder statt Pinsel und das Buch sein ureigener Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte? Oder ist es ein wildes Gekleckse sprunghafter Reminiszenzen, die sich beim besten Willen zu nichts Vollendetem fügen?

Leser von schreibenden Pointillisten wiederum brauchen viel Geduld. Und so hangelt man sich stoisch von Punkt zu Punkt, kneift ab und zu die Augen zusammen, weil vielleicht ja schon etwas zu erkennen ist, wird indes ein ums andere Mal enttäuscht und kann sich immerhin damit trösten, dass Willemsen keinen Seelenexegesestriptease und keinen Stimmungsexhibitionismus betreibt. Er interessiert sich für die Welt, kommt viel herum, sammelt fleißig Reiseimpressionen - ein schauderhaftes Wort, aber hier passt es. Denn es sind oft nur wenige Zeilen lange Schnappschüsse aus Oslo, Manila, Irland, Borneo, Krakau, Macau, Nepal, Chile und immer wieder aus Italien, zum Beispiel aus Venedig, wo er sich darüber wundert, dass ihm alles so vertraut vorkommt; so etwas soll vorkommen bei gebildeten Menschen. Dazwischen streut er Kinoerlebnisse, Straßenbahnfahrten, Stadtspaziergänge, Kaffeehausbesuche und würzt das alles nach bewährter Bestsellermanier mit ein wenig Sex. Eine nackte Frau sitzt auf Willemsens Schreibtisch, er studiert im Zugabteil die blanken Oberschenkel einer Schlafenden gegenüber, und er treibt es ekstatisch mit Ursula Andress in einem Einbaum mitten im südamerikanischen Urwald, allerdings nur im Traum.

Andere Episoden sind weniger erfreulich, etwa wenn er schildert, wie er nachts zusammengeschlagen und ausgeraubt wird, was ihn zu dieser Schlussfolgerung bringt: "Ich wurde bestohlen. Ich fühlte das Verlorene nicht, nur das Verlieren." Hier horcht man auf, zögert einen Augenblick und denkt darüber nach, ob es Willemsen gelingt, in einem einzigen Satz einen ganzen Schicksalsmoment zu erfassen. Doch aus dem Grübeln wird schnell ein Seufzen, denn dieser Satz ist nichts als nett verpackte heiße Luft. Es ist doch klar, was jemand fühlt, wenn er gerade eins auf die Nase bekommen hat und auf dem Asphalt liegt, wahrscheinlich nur um ein paar Euro erleichtert. Natürlich denkt man dann nicht an die Handvoll Kröten, sondern an die Demütigung des Verlierens durch den Dreckskerl von Schläger.

Es wimmelt in dem Buch vor solchen Plattitüden, eingewickelt ins Geschenkpapier sprachlicher Selbstverliebtheit, der jede Selbstironie fremd ist. Und irgendwann wird man müde, Roger Willemsen dabei zu erleben, wie ernst er sich selbst nimmt, wie hemmungslos er die Schärfe seiner eigenen Wahrnehmung anhimmelt, seine unübertreffliche Beobachtungsgabe bewundert, sich am Momentum berauscht - und sei es auch nur, wenn ihm in Italien am Flussufer sein Kugelschreiber in den Po plumpst. Willemsen schaut dem Schreibgerät sinnend hinterher und denkt an Italo Svevo, der sein Schreiben als "Unterwassermalerei" bezeichnete, während wir Herrn Willemsen ein wenig entgeistert anstarren und eigentlich nur eines denken: Passen Sie das nächste Mal besser auf, und kaufen Sie sich jetzt einen neuen Stift!

Vor manchen pointillistischen Pünktchen wiederum steht man vollkommen ratlos und noch nicht einmal erratisch raunend, vor diesem Momentum zum Beispiel: "Ein Mann an der Seite seiner Frau, die eine rundliche Kichertaube ist, sagt immer nur und immer wieder: ,Möpschen, sei lieb zu mir!'." Und dieses Momentum ist auch nicht gerade erhellender: "Als in ein Telefonat zwischen Toto und mir infolge einer Fehlschaltung eine fremde Frauenstimme einbricht und wir beide rufen: ,Hallo Schatz!', erwidert die Frauenstimme: ,Was heißt hier Schatz?'". Gleich darauf aber folgt, als wolle uns Willemsen wieder mit sich versöhnen, die ausgesprochen schöne Beobachtung, dass in der Wirtschaftswunderzeit das Verkaufspersonal in den Fleischereien selbst so ausgesehen habe, als sei es "aus Salami und Cervelatwurst gepresst, mit Beinen wie Bierschinken und Nasen wie Nierchen".

Was also bleibt von diesem Sammelsurium der Momente, in dem man meist im Trüben nach Pointen fischt? Man nimmt kaum Lebenserkenntnisse mit, selten Aphorismen für den Gedächtnisschrank und so gut wie nie letzte Wahrheiten oder Augenblicke von exemplarischer Tiefe - nein, halt, das stimmt doch gar nicht, eine Erkenntnis steckt sehr wohl in diesem Buch, wenngleich gut versteckt: Das Leben, selbst das eines Roger Willemsen, ist banaler, als man denkt. Das Schicksal aber ist gnädig genug, uns all seine belanglosen Momente vergessen zu lassen - wenn man es denn nur walten lässt.

JAKOB STROBEL Y SERRA

Roger Willemsen: "Momentum".

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012. 316 S., geb., 21,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Weniger eine Rezension als vielmehr den Versuch einer Bestimmung von Roger Willemsens Buch "Momentum" unternimmt Helmut Böttiger. Der Fehler, einen Roman zu schreiben, kann einem Musil-Spezialisten wie Willemsen natürlich nicht unterlaufen, meint Böttiger, doch sei "Momentum" andererseits auch kein Reisebericht oder Reportagebuch. Seine "Assoziationsknäuel" und "Erinnerungsfetzen, die als stehen gebliebene Bilder irisierend leuchten", changieren zwischen Fiktivem und Autobiografischem und fügen sich in loser Folge zum Ganzen eines Menschenlebens, so der Rezensent. Er lobt die poetische Sprache und das cineastische Gespür von Willemsens Ästhetik und urteilt: "Nicht immer wirkt das gelungen, auf jeden Fall aber interessant".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012

Meine Lippen passen auf alles
Die Beklommenheit vor der Pointe, die Scheu vor dem Kuss: Roger Willemsen
erinnert sich und entwirft ein Dasein aus Augenblicken seines Lebens
VON BURKHARD MÜLLER
Kann der Mensch, der dieses Buch geschrieben hat, derselbe sein, dessen Biografie der Klappentext gibt? Dort tritt einem ein hochgradig Umtriebiger entgegen, Autor, Übersetzer, Dozent, Korrespondent, Produzent, Schirmherr und Fernsehmoderator, der Buch an Buch reiht, Preis um Preis abräumt, vertont, verfilmt und vernetzt in jede Himmelsrichtung. Hier aber, im Buch, erlebt der Leser einen, der unendlich viel Zeit für alle und alles hat, der Manila, Madeira, Murano und tausend andere Orte nicht so sehr bereist als sich dorthin treiben lässt wie eine Flaschenpost, im Zuhören geübt wie auch im Horchen; ganz Auge, Ohr und Stift, der es aufschreibt, freundlich, zutraulich, sich mit wahrer Neigung seinem Nächsten öffnend, und dann dem Übernächsten.
  „Momentum“ lautet der Titel, nicht etwa bloß „Momente“. Die wären lediglich isolierte Punkte; aber „Momentum“, das geht aufs Prinzipielle und stellt dem Lebenslauf im herkömmlichen Sinn ein anderes Konzept entgegen. Es erklärt an der Perlenschnur des Daseins nicht die Schnur, sondern die Perlen zu dem, was zählt, und jede Perle ist rund in sich. Auch wo dieser Erzähler „Ich“ sagt, tut er es so, als ob er sich selbst zum Abschied winkt.
  Das gilt vor allem für die zahllosen Frauengeschichten dieses wahren Anti-Casanovas, die fast alle auf Unterwerfung und Scheitern hinauslaufen. Nicht erobern will er, sondern seine Unzulänglichkeit stets neu von einem schönen genervten Mund ausbuchstabiert bekommen. „Ich vergesse über der Lektüre, dass mir heute Abend meine Freundin am Telefon betrunken den endgültigen Abschied gegeben hat. Sie hat so recht. Ich schneide mir Äpfelchen wie ein Rentner, die entfernten Kerngehäuse auf eine Untertasse legend.“ Wie der seelisch verwandte Peter Altenberg, nur melancholischer, hat er sich der weiblichen Übermacht ein für alle Mal so tief gebeugt, dass er den Stöckelschuh wie eine Krone trägt; so verkörpert er die Tugend der Demut. Wer außer ihm brächte an einer Zicke wie der folgenden dermaßen galant das Holde zum Vorschein?
„,Es ist so schön mit dir‘, sage ich, ,so schön.‘
,Warum?‘
,Du bist so . . .‘ Ich suche, ihre Züge trüben sich ein, weil ich überhaupt suchen muss, ,so ein . . .‘
Sie zieht die Brauen hoch: , . . . so ein was?‘
Ich fühle meinen verlorenen Posten, treibe auf See: ,So ein Individuum.‘
Sie stimmt ein langsames, hohnlachendes Crescendo an:
,Danke, das ist ja herrlich, ein Individuum, er sagt, ich bin ein Individuum . . .‘
Besonders ergreifend ist immer die kleine Feierlichkeit vor dem Kuss. Wir küssen uns ohne diesen Ernst. Ich sage:
,Unsere Lippen passen zusammen.‘
Sie erwidert: ,Meine Lippen passen auf alles.‘“
  Doch gewinnt der Erzähler aus seinen Wahrnehmungen auch eine sprungbereite Bosheit, welche die Damen durchaus nicht schont. „Ihr Eros verdankt sich der Tatsache, dass sie sich selbst unwiderstehlich findet. Zu dem Mann an der Fensterseite des Abteils spricht sie von ihrem Körper und seinen Fähigkeiten wie von einer Gabe, einer Segnung. Der Sex mit ihr, so versteht man, ist eine Einladung zur Teilhabe an ihrer Selbstliebe.“ Er goutiert „die leise Form der Liebe, die geneigte“. Er spekuliert über den unterschiedlich entwickelten Grad an Bewusstsein, der in den menschlichen Gerätschaften steckt. „Wenig davon hat der Hammer, viel der Regenschirm.“
  Hört so einer nicht zuweilen das Gras wachsen, wo gar keins ist? Die Versuchung ist in der Tat groß. Dass ein Fisch „besorgt“ blicken könne, beruht wohl auf Einbildung, denn Fische kennen keine Besorgnisse in unserem Sinn, zumal wenn es sich wie hier um einen toten Fisch handelt. Und wie viel vom Körperpuder englischer Ladys in Ascot muss man wirklich mit eigenen Nüstern eingesogen haben, um daraus im Vergleich die Atmosphäre einer ganzen Stadt zu entfalten? Diese Art zu schreiben tendiert dazu, sich auf die Pointe und die Poesie zu fokussieren und den Wein des Lebens zu einem allzu scharfen Schnaps zu brennen.
  Der Erzähler erkennt die Gefahr, meistens jedenfalls. Ruhebedürftig sitzt er in den Taxis dieser Welt. „Würden Sie mich hier wohl eine Weile dämmern lassen? Ich bin so müde.“ Der Taxifahrer, ein ukrainischer diesmal, fügt sich und erklärt, wohl leicht beleidigt: „Ich schweige.“ Jedoch „nach einer halben Stunde erhebt er aus dem Nichts seine Stimme wie eine Orgel: 'Jätzt erzäähle iich Wiitz!'“ Oje, denkt sich der Leser, jetzt kommt's. Aber es kommt eben nicht, wenigstens nicht so, wie er befürchtet hat, sondern ganz anders. „Der Witz beginnt mit 'kommt Blondiine zu Blondiine', ist nicht nach meinem Geschmack. Doch freut mich die Entscheidung des Mannes für einen Witz, ja, selbst für diesen Witz, für die Beklommenheit vor der Pointe, die aussieht, wie die Scheu vor dem Kuss.“
  Der Witz wird also nicht seiner üblichen Struktur nach – Anbahnung, Zuspitzung und Knall – mitgeteilt, sondern in seiner sich ausbreitenden Lust an sich selbst, als Bö in einer Luft der Heiterkeit; so wächst er über sein an sich beschränktes Dasein hinaus in die Welt. Man will dem Autor für diesen ziemlich originellen Akt der Befreiung schon danken, da geht es weiter: “ – und ich kurbele die Scheibe runter und rufe im Vorbeifahren den Passanten zu: ,Den müssen Sie hören . . . Jätzt erzäähle iich Wiitz!‘“
  Da kehrt sie doch wieder, die Pointe, die schon erfolgreich vermieden schien, verwandelt zwar, aber dennoch unverkennbar in ihrer zwanghaften Aufgekratztheit. In der Poesie läuft es manchmal noch schlimmer ab. Da glaubt die Anekdote von der einsam Tauben fütternden alten Frau erst dann ihren Ruhepunkt gefunden zu haben, wenn sie schließt: „Die Träne stammt nicht aus ihren Augen, sondern aus ihrem Gemüt.“
  Warum hat hier kein wohlmeinender Erstleser den Autor darauf hingewiesen, dass hier nicht ein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als- auch gilt? Dass eine Freundin einen Brief (und der Erzähler seinen Kurztext) mit dem Satz beendet „Ich vernimmerwiedersehne mich“, wird nicht besser dadurch, dass es womöglich genau so dagestanden hat: Was immer diese Neuprägung an emotionaler Komplexität zusammenspannt, es ist beim Teufel, wenn es zur Stummfilmgeste des Abgangs wird.
  So muss jede dieser vielen kleinen Geschichten ihr Glück auf eigene Faust suchen. Einer überraschend hohen Zahl gelingt es tatsächlich. Dann tritt die Wendung ein, in der das Unerwartete kraft Anmut die Physiognomie des Überzeugenden gewinnt. Da man Bücher billigerweise nach ihren besten und nicht nach ihren schlechteren Teilen beurteilen soll (und für ein solches lose aufgeschüttetes gilt das erst recht), sei zum Schluss noch eine Passage mitgeteilt, die dem Rezensenten in besonderer Weise eingeleuchtet hat.
  Der Erzähler ist eingeladen bei der Familie eines emeritierten Professors in Belgrad. Man spricht über alles Mögliche. „,Und die serbische Dichtung?‘ frage ich. Der Sohn mischt sich ein und sagt: Ein Belgrader Straßendichter, bekannt seit Jahrzehnten und als Original verehrt, dichtete: ,Ich sitze auf dem Heuhaufen / und sehe deine Titten wachsen.‘ Ratlosigkeit ringsum. Der Sohn fügt hinzu, so fatalistisch wie sein Vater: ,Im Serbischen reimt sich das.‘“
  Merkt man, wie die Ratlosigkeit, die wohl mehr als ein bisschen Peinlichkeit in sich schließt, sich mit einem Schlage lichtet? Alle sind plötzlich verständigt in einem Lachen, das nicht der Mechanik des Witzes entspringt, sondern der Entdeckung eines Türleins, wo man bloß eine Wand vermutet hätte. Na wenn das so ist! dürfen sie rufen, und sind für den Augenblick erlöst.
    
Roger Willemsen: Momentum. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 320 Seiten, 21,99 Euro.
Wenig Bewusstsein
hat der Hammer, viel
der Regenschirm
Würden Sie mich hier
wohl eine Weile
dämmern lassen?
Roger Willemsen
FOTO: STEPHAN SAHM/LAIF
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