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Noch nie konnten so viele Menschen wie heute ihre Meinung auf der ganzen Welt verbreiten. Internet und Globalisierung haben eine neue Epoche der Redefreiheit möglich gemacht, gleichzeitig provozieren sie neue kulturelle und religiöse Konflikte. Müssen wir rassistische Kommentare auf Facebook hinnehmen? Darf Satire den Propheten Mohammed verhöhnen? 2011 hat Timothy Garton Ash eine Debatte angestoßen, seitdem diskutieren Teilnehmer aus der ganzen Welt die Frage, wie wir in Zukunft vernünftig unsere Standpunkte austauschen, wie wir das Recht auf Redefreiheit genauso wie die Würde Andersdenkender…mehr

Produktbeschreibung
Noch nie konnten so viele Menschen wie heute ihre Meinung auf der ganzen Welt verbreiten. Internet und Globalisierung haben eine neue Epoche der Redefreiheit möglich gemacht, gleichzeitig provozieren sie neue kulturelle und religiöse Konflikte. Müssen wir rassistische Kommentare auf Facebook hinnehmen? Darf Satire den Propheten Mohammed verhöhnen? 2011 hat Timothy Garton Ash eine Debatte angestoßen, seitdem diskutieren Teilnehmer aus der ganzen Welt die Frage, wie wir in Zukunft vernünftig unsere Standpunkte austauschen, wie wir das Recht auf Redefreiheit genauso wie die Würde Andersdenkender sichern können. Es ist der Stoff für sein neues Buch: Ein Standardwerk zur Redefreiheit im 21. Jahrhundert.
Autorenporträt
Timothy Garton Ash, 1955 geboren, ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University, daneben schreibt er regelmäßig für wichtige internationale Zeitungen und Zeitschriften. Er lebt in Oxford. Bei Hanser sind zuletzt erschienen: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt (2016), Ein Jahrhundert wird abgewählt. Europa im Umbruch 1980-1990 (erw. Neuausgabe 1989/2019) sowie Europa.Eine persönliche Geschichte (ET: 17.04.23).

Helmut Dierlamm, Jahrgang 1955, übersetzte u.a. Timothy Garton Ash, Henry Kissinger, Naomi Klein, Walter Laqueur, Barack Obama und Tom Segev.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der hier rezensierende Zeithistoriker Andreas Rödder kann Timothy Garton Ash und seinen zehn Prinzipien der freien Rede in der vernetzten Welt keineswegs in allem zustimmen. Ob den Konsens, den Ash fordert, wirklich alle unterschreiben können, möchte er bezweifeln. Auch formal macht es der Autor dem Rezensenten nicht leicht, trennt er die von ihm behandelten Ebenen von der globalen Vernetzung über universale Werte bis zum Schutz der Privatsphäre doch nicht analytisch, sondern bildet das Beschriebene bloß ab, wie Rödder kritisiert. Das wirkt disparat und kryptisch und mitunter allzu vage, meint er, und hat einen neokolonialistischen Beigeschmack, wenn Garton Ash einen "universellen Universalismus" begründen will. Angesichts der um sich greifenden Gewalt scheint Rödder die Tragfähigkeit dieser Konzepte zudem fragwürdig. Andererseits bedeutet Ashs Konzept ein "Mehr an Verständigung" und eine Alternative sieht Rödder eigentlich auch nicht. Weshalb er dem Buch am Ende etwas hilflos bescheinigt, "hilfreich" zu sein.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016

Die zehn Prinzipien der freien Rede

Konsens ist das Ziel, aber ob darunter wirklich alle dasselbe verstehen? Timothy Garton Ash entwirft eine Hausordnung für die Kommunikation in der vernetzten Welt.

Von Andreas Rödder

Im Jahr 2012 erregte ein amerikanisches Video auf Youtube weltweites Aufsehen. "Innocence of the Muslims" war eine schlecht gemachte, billige Persiflage auf einen sexgeilen, blutrünstigen, tumben Mohammed. Demonstrationen gegen dieses Video in arabischen Ländern führten zu gewaltsamen Ausschreitungen, die mit der Ermordung des amerikanischen Botschafters in Libyen endeten und insgesamt etwa fünfzig Todesfälle zur Folge hatten. Barack Obama thematisierte das Video in einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, und die amerikanische Regierung sowie 21 weitere Staaten gingen Google an. Youtube sperrte das Video schließlich in einigen Ländern, in anderen nicht - mit der Begründung, dass "in einem Land Anstoß erregen kann, was anderswo ganz in Ordnung ist".

"Willkommen in Kosmopolis", so begrüßt Timothy Garton Ash die Leser seines neuesten Buches, das den normativen Anspruch einer zumindest rudimentären Hausordnung für diese Welt erhebt und dabei mindestens vier Ebenen thematisiert: erstens die weltweite Vernetzung durch die digitalen Medien, zweitens das Verhältnis zwischen privaten Medienkonzernen und staatlicher Macht sowie zwischen globaler und nationaler Ebene und drittens die Frage nach universalen Werten, interkultureller Kommunikation und der Akzeptanz von Vielfalt vor allem im Konflikt zwischen einem pluralistisch-liberalen Westen und der islamischen Welt. Viertens schließlich geht es um Kommunikationsstandards in einem Internet, das es einerseits leichter macht, Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, und das es andererseits erschwert, Dinge für sich zu behalten, und das sowohl befreiend als auch repressiv wirkt.

All diese Ebenen spielen in der Realität zusammen. Statt sie aber analytisch zu trennen und die Mechanismen ihres Zusammenspiels herauszuarbeiten, bildet Ashs Buch die beschriebene Welt gleichsam ab, indem es netzwerkartig von einer interessanten Einzelbeobachtung zur anderen surft und dabei immer wieder die Perspektiven beziehungsweise den Fokus wechselt. Kryptische Überschriften tragen zum Leseeindruck einer eklektizistischen Rhapsodie ebenso bei wie ein allzu kurzes Fazit. Was in Ashs Reportagen aus dem kommunistischen Osteuropa oder über die "Jahrhundertwende" funktionierte, wirkt hier oftmals disparat.

So bleibt der Leser nach einem ersten Teil über "Kosmopolis" und einige theoretische Grundlagen des Ideals der Meinungsfreiheit auf die zehn Prinzipien der Kommunikation in einer vernetzten Welt im Zeitalter der Diversität verwiesen, die der Autor bereits auf der Internetplattform seines internationalen Projekts freespeechdebate.org proklamiert hat. Das erste Prinzip ist zugleich der Königstiger: die Meinungsfreiheit. "Wir - alle Menschen - müssen in der Lage und befähigt sein, frei unsere Meinung zu äußern und ohne Rücksicht auf Grenzen, Informationen und Ideen zu suchen, zu empfangen und mitzuteilen."

Dass Meinungsfreiheit nicht die Freiheit zur unbegrenzten Anstößigkeit und zur grenzenlosen hate speech bedeuten kann, ist auch Ash klar. Die erforderlichen Einschränkungen bedürfen aber der guten Gründe und hängen von Ort, Zeit, Medium und Publikum ab. Ob eine aufhetzende Äußerung an eine aufgebrachte Menschenmenge vor einer brennenden Botschaft gerichtet oder in einer Runde zurückgezogener Greise getätigt wird, macht einen grundlegenden Unterschied aus. Je größer der drohende Schaden und je mehr dieser durch den Kontext verstärkt wird, desto größer sollte die Beschränkung sein, so Ashs eher pragmatisch-allgemeine Maßgabe. Ansonsten sollte dieses "Kernland der Freiheit so groß wie eben möglich sein." Ash plädiert für eine "Kultur offener Diskussion und robuster Zivilität" (die auch nicht gleich die Sexismuskeule schwingt, wenn eine Ministerin einmal aufgefordert wird, nicht so weinerlich zu sein).

Zudem hat Garton Ash neun weitere Prinzipien im Angebot, die abermals mit einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen unterlegt werden. "Wir drohen weder mit Gewalt, noch akzeptieren wir gewaltsame Einschüchterung" lautet das zweite. Das dritte zielt auf die uneingeschränkte Verbreitung von Wissen, das vierte auf das Prinzip der Vielfalt: "Wir sprechen offen und mit robuster Zivilität über alle Arten von Unterschieden zwischen Menschen."

Unzensierte, vielfältige und vertrauenswürdige Medien sind des Weiteren die Grundlage, um informierte Entscheidungen zu treffen und am öffentlichen Leben teilzuhaben. Was das sechste Prinzip zur Religion angeht, so stellt sich die Frage nach der universellen Zustimmungsfähigkeit: "Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte." Der Abschnitt über "Das Problem mit dem Islam" bleibt eher blass.

Auch das siebte Prinzip zur Privatsphäre - sie zu schützen, aber ihre Einschränkung im öffentlichen Interesse zu akzeptieren - bleibt etwas vage, während das achte Prinzip darauf zielt, Einschränkungen der Informationsfreiheit zu hinterfragen, die mit dem Schutz der nationalen Sicherheit begründet werden. Schließlich will das neunte Prinzip das Internet gegen illegitime Eingriffe durch öffentliche und private Mächte schützen, während das zehnte zum Mut auffordert: "Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen und tragen dafür die Konsequenzen."

Das Ziel der gesamten Unternehmung ist ein "universeller Universalismus", der sogleich die Frage aufwirft, ob es sich dabei nicht um ein genuin westliches Konzept, ja um eine neue Form des westlichen Kolonialismus handelt. Dem hält Garton Ash einerseits den postmodernen Comment entgegen, dass es nicht den Westen, Osten oder Islam an sich gebe. Andererseits verwahrt er sich gegen ein "liberales Rosinenpicken", das ein paar verblüffende Zitate nicht westlicher Denker herausgreift und sie als Beleg für die humanitäre Liberalität anderer Kulturen ausgibt, und ebenso gegen die "aufgeblasene Verschwommenheit" der Idee eines "Weltethos". Dennoch erkennt er grundlegende globale Gemeinsamkeiten in Wertfragen wie die "Goldene Regel" der praktischen Ethik ("Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst"). Dies ist aber nur die Grundlage für das eigentlich konstitutive Moment seines Universalismus: Kommunikation und Debatte auf der Suche nach Konsens.

Dieses Konzept verbindet Elemente einer pragmatischen Hermeneutik mit Idealen der Aufklärung - und bleibt in der Tat ein westliches Konzept, das zugleich die Gretchenfrage aufwirft, wie viel Vielfalt insbesondere Muslime bereit sind zu akzeptieren. Mit dem Verweis, dass es "den Islam" nicht gibt, ist es nicht getan, und angesichts der gewaltsamen Realität von Riad bis Nizza stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit von Garton Ashs Konzept. Aber eine überzeugende Alternative steht nicht zur Verfügung, will man sich nicht auf die Vorstellung eines unausweichlichen Kampfes der Kulturen einlassen. Immerhin läuft Garton Ashs Konzept auf ein Mehr an Verständigung hinaus; und jedenfalls ist sein Appell zugunsten offener Diskussion und robuster Zivilität statt enger moralisierender Sprachgrenzen für öffentliche Debatten hilfreich.

Timothy Garton Ash: "Redefreiheit". Prinzipien für eine vernetzte Welt.

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Thomas Pfeiffer. Carl Hanser Verlag, München 2016. 688 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2016

Nicht beleidigt sein
Praktische Weltethik: Timothy Garton Ashs Zehn Gebote
für die Kosmopolis des Internets
VON GUSTAV SEIBT
Wenn das Bundesamt für Migration in einem Tweet seine Asylgewährungspraxis erläutert, dann machen sich schon eine Woche später ein paar Tausend Flüchtlinge mehr über die Ägäis auf den Weg. Wenn ein texanischer Evangelikaler ein dämliches Video gegen den Propheten Mohammed auf Youtube postet, dann bedarf es nur einer Synchronisierung, und Christen zwischen Marokko und Pakistan müssen um ihr Leben bangen. Das ist die Welt, in der wir seit wenigen Jahren leben. Timothy Garton Ash, eigentlich Historiker, kein Internetguru, nennt sie „Kosmopolis“ und beschreibt damit die Weltgesellschaft der Vernetzten, die in einer komprimierten Raumzeit absoluter Gleichzeitigkeit, Hochgeschwindigkeit, außerdem bei beliebig abrufbaren, ewigen Archiven interagieren.
Und da Garton Ash Historiker ist, erzählt er die Entstehung und die aktuelle Machtordnung dieses Weltzeitraums seit 1989. Auch wer die letzten Jahre nicht verschlafen hat, findet hier ein konzises Handbuch mit Übersichten, wie sie so plastisch nur britischen Historikern gelingen. Ein Beispiel: Die Ordnung der Kosmopolis sei von drei konkurrierenden Machtgruppen regiert. Garton Ash nennt sie Hunde, Katzen und Mäuse. Die Hunde sind die wenigen staatlichen Großmächte wie die USA, die EU und China, und ein paar kleinere Mittelmächte, die stark genug sind, den fetten Katzen, den Firmen, die das Internet heute organisieren (Google, Facebook, Apple, Wikipedia) Grenzen und Regeln aufzuerlegen. Die Mäuse: Das sind wir, die User an unseren Kästchen und Tastaturen, samt klickenden Mäusen, Bürger der Megacity Kosmopolis.
Wir, das Milliardenheer, sind sowohl Kunden, Rohmaterial, Massenbewegung wie, ganz am Ende, auch Großmacht des Netzes, durch unsere Plebiszite im Sekundentakt, das irrwitzige Spiel der Rückkoppelungen. Zugleich sind wir potenzielle Opfer, etwa von Gewaltwellen, von Ausspähung, von totaler Transparenz, von Cybermobbing. Wer das auf wenig mehr als hundert Seiten aufgenommen hat, begreift besser, was seit einem Vierteljahrhundert passiert: eine menschheitsgeschichtliche Revolution, deren Rang der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks gleichkommt. Garton Ashs Buch hat andere Ziele, aber es ist auch ein Beitrag zur Diagnose der Zeit, nüchterner und sachhaltiger als viele Utopien und Apokalypsen.
Doch sein Buch bezweckt etwas anderes, nämlich das Update der liberalen Idee von freier Rede unter den neuen Bedingungen. Freie Rede ist ungefähr das, was „Meinungsfreiheit“ meint, jedoch aktivistischer. „Rede“ ist ja Tat und Zuhören, meinen könnte man ja auch nur in der Gehirnkammer. Garton Ash greift hoch, indem er sich in die Reihe der großen englischen Redefreiheitsdenker stellt, John Milton, John Stuart Mill, George Orwell. Um ihr Erbe in der neuen Welt geht es, um freien Selbstausdruck, Wahrhaftigkeit, gute Regierung durch gutes Argumentieren; und darum, in der Kosmopolis der zwangsläufig Verschiedenen zusammenleben zu können, was ohne freie Rede nicht möglich ist.
Als Historiker kennzeichnet Garton Ash das Internet auch als Produkt eines bestimmten Ideals radikaler Meinungsfreiheit, der amerikanischen „Religion des Ersten Zusatzartikels“, jener Grundbestimmung der Verfassung der USA, die bis heute maximale Redefreiheit auch für Spinner und Fanatiker gewährt. Dieses Ideal formte bis ins Technische eine Struktur, die heute von Religionskriegern, Infopartisanen, Geheimdienstlern, Trollen, Hasspredigern ebenso benutzt wird wie von Bürgerrechtlern, Wissenschaftlern und Verkaufsplattformen. Auch das Technische, seine Organisation in Weltbehörden und Standards ist kontingent, vielleicht das letzte Gesetz, das der „Westen“ dem Globus auferlegen konnte. Selbst die von fast allen Ländern dieser Erde unterschriebenen Menschenrechtsbestimmungen gehören hierher.
Gleichwohl ist die Intention dieses zwischen Bestandsaufnahme und philosophischem Traktat changierenden Buches nicht betrachtend. Es will ein Regelwerk für diese neue Welt vorschlagen, als Antwort auf Gefahren, welche die enormen Freiheitschancen zu verdunkeln drohen, die mit der vernetzten Weltpolis verbunden sind. Garton Ash hat seine Arbeit selbst kosmopolitisch organisiert, mit Studenten aus aller Welt, in Seminaren zwischen Oxford, Peking, Kairo und Istanbul und vielen anderen Orten, und all das auf einer vielsprachigen Internetseite mit Debatten, spezialisierten Abhandlungen und, natürlich, Feedbackmöglichkeiten abgebildet (www.freespeechdebate.com). Das ist keine Beiläufigkeit, weil es den Internetdiskurs von einem metaphorisierendem Raunen befreit, der ihn vielen Nicht-Aficionados verdächtig macht. In diesem Projekt ist alles bodenständig – keine Selbstverständlichkeit.
Die zehn Regeln oder Grundsätze sind, wenn man sie hintereinander wegliest, oft nur Allgemeinplätze, zum Beispiel Satz 2: „Weder drohen wir mit Gewalt, noch akzeptieren wir gewaltsame Einschüchterung.“ Interessant werden solche Gebote durch ihre Kasuistik. Soll man aus Prinzip gotteslästerliche Karikaturen abdrucken, um Gewaltresistenz zu beweisen, auch wenn es Menschenleben kosten kann? Oder Satz 6: „Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte.“ Das dürfte eine der Regeln sein, die am meisten befragt werden müssen.
Denn: Kann man das trennen? Die Kirche achtet angeblich den Homosexuellen, verdammt aber die Homosexualität – Schwule sagen dazu: besten Dank auch. Zugleich versteht man, dass Garton Ashs Unterscheidung eines der brennenden Konfliktfelder der Weltgesellschaft wenigstens vorläufig ordnen soll. Solange wir einander nicht bekehren, müssen wir mit den Unterschieden leben. Zur Not hilft es, das Anstößige nur auf „einen Click weit“ zu entfernen, ohne es zu löschen. Am Ende gilt: „Wir sprechen offen mit robuster Zivilität über alle Arten von Unterschieden zwischen Menschen.“ Wenn es einen Kernsatz dieses Buches gibt, dann diese Regel Nummer 5.
Sie hat zwei Adressaten: die Hassprediger und die Beleidigten. Alles muss auf den Tisch, aber ohne Fanatismus. Und alles sollte ertragen werden, ohne vom Wort zum Terror überzugehen. Zivilität muss „robust“ sein, etwas aushalten, aber auch starke Grenzen setzen. Die erfrischendsten Passagen in Garton Ashs meist ruhig abwägender, Beispiele häufender Erörterung betreffen dieses Problemfeld. Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ nennt der Brite ein „stinkendes Gebräu aus Eugenik und Kulturpessimismus“. Aber erfolgreich sei es nur geworden, weil viel zu lang nicht offen über Probleme und Unterschiede gesprochen wurde.
Unmissverständlich benennt Garton Ash auch das Gewaltproblem großer Teile des heutigen Islams, seine in der Kosmopolis völlig inakzeptable Intoleranz. Aber genauso weiß er: „Kaum etwas ist lächerlicher als ein westlicher Atheist, der kaum etwas über den Islam weiß, aber dennoch mit einer kaum benutzten Penguin-Ausgabe des Korans herumwedelt und verkündet: ,Da seht ihr’s, im Islam muss der Abfall vom Glauben immer mit dem Tode bestraft werden!‘“ Wenn es hierzulande die Reclam-Ausgabe und nicht irgendein Google-Treffer ist, hat man noch Glück.
Glaubwürdig sind solche Invektiven, weil Garton Ash sich robust auch mit einer besonders ärgerlichen Beschädigung der Redefreiheit auseinandersetzt, der Kultur des Beleidigtseins unter identitärem Vorzeichen. Der „dünnhäutige Identitätsaktivist“, der als Frau, Schwuler, Andersfarbiger schon empört ist, wenn die Nomenklatur oder das grammatische Geschlecht nicht stimmen, die Liste der Sonderfälle nicht heruntergebetet wird, und der mit Lust Aufschrei-Kampagnen aus Beiläufigkeiten und Missverständnissen entwickelt, hat Garton Ashs ebenso herzhafte Verachtung wie der Bundesbanker im Ruhestand, der zum Islamexperten wird. All das ist unfreie Rede und damit Wasser auf die Mühlen deren, denen „Multikulti und Genderwahn“ ganz grundsätzlich gegen den Strich gehen. Bei Joseph Conrad darf der „Nigger“ nicht mehr Nigger heißen? Absurd.
Freie Rede ist offenherzige Rede. „Wir haben die Pflicht, nicht zu schnell beleidigt zu sein.“ Man möchte diese Regel vor mancher Moschee, vor manchem kulturwissenschaftlichen Seminar aufhängen. So plädiert dieses Buch auch entschieden gegen geschichtspolitische Gesetzgebung (etwa den Straftatbestand der Holocaust-Leugnung) und möchte der Hassrede lieber mit Gegenrede als mit Strafverfolgung entgegentreten. Dass man hier, von Fall zu Fall, auch anderer Meinung sein kann (etwa wenn ein starkes Machtgefälle die Redesituation bestimmt), gehört zum robusten Spiel der freien Rede. Mord- und Gewaltaufrufe sollte man schon aus hygienischen Gründen strafrechtlich verfolgen. Doch in einer Welt hinter den Gitterstäben Tausender Tabus würde sich am Ende das Gift vermehren. Auch wird die Freude am Beleidigen zurückgehen, wenn es nicht wirkt.
Zumal es viel drängendere Probleme gibt, den drohenden Verlust von Privat- und Intimsphäre, die totalitäre Steuerung. Ohne Whistleblower geht es nicht, auch das gehört zu dieser praktischen Weltethik. Künftig wird auch die Frage, wem das Internet gehört, also das eminent politische Problem der Netzneutralität, neu erörtert werden müssen. Der Bogen, den Garton Ashs Buch spannt, ist denkbar umfassend, er reicht von der Kulturphilosophie bis zum Völkerrecht, vom Journalismus bis zur Wissenschaft. Darum verzeiht man ihm auch den robusten Verstoß gegen das elfte Gebot: Fasse dich kurz, nutze die endlose Schriftrolle am Bildschirm nicht unbedacht aus! Das gedruckte Buch nämlich ist nur die Spitze eines Eisbergs, den erst das E-Book und die Internetseite erkennbar machen. Dort kann man Zitate und Zitate von Zitaten auffinden, mit der kuriosen Folge, dass auf gemeinfreie, aber uralte Übersetzungen etwa von Aristoteles („,Politik‘, Berlin 1872“!) verwiesen wird. Auch eine Art von Allgegenwart, Gott sei Dank harmloser als die von Hass-Postings.
Timothy Garton Ash: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Thomas Pfeiffer. Carl Hanser Verlag, München 2016. 688 Seiten, 28 Euro.
www.freespeechdebate.com
Die Regeln haben zwei
Adressaten – die Hassprediger
und die Beleidigten
Das Buch möchte der Hassrede
lieber mit Gegenrede als mit
Strafverfolgung entgegentreten
Die ganze Welt als Kosmopolis des Internets, die als sprichwörtliche Wolke den
Planeten Erde nicht umhüllt, sondern durchdringt.
Foto: nasa
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"Das Standardwerk zum Thema Meinungsfreiheit". Der Spiegel, 03.11.19

"Timothy Garton Ash bricht eine Lanze für die Meinungs- und Redefreiheit. ... Garton Ash bietet nicht nur ein kohärentes Update liberaler Ideale von Redefreiheit. Er offeriert auch viele kluge Gedanken über das, was man den Wandel unserer Infrastruktur für öffentliche Debatten nennen könnte. ... Timothy Garton Ashs Opus stellt das bisher wichtigste Manifest für den globalen Kampf um Redefreiheit dar." Jan-Werner Müller, Neue Zürcher Zeitung, 28.01.17

"Dieses Buch (...) über den Austausch von Standpunkten in der Erregungsgesellschaft im Internet gilt als eines der besten Sachbücher des Jahres" Peter Illetschko, Der Standard, 14.12.16

"Ein kluges, konstruktives Buch." Die Welt, 03.12.16

"Wer das Buch jetzt liest, nach der US-Wahl, muss denken: Garton Ash hat das Zeug zum Propheten. ... Es ist ein Plädoyer, das er da vorlegt, ein Regelwerk, eine Aufforderung an große Gruppen, an Regierungschefs, an die Firmenlenker von Google und Facebook, aber auch an jeden Einzelnen von uns." Susanne Beyer, LiteraturSpiegel, Dezember 2016

"Timothy Garton Ash gelingt ein grosser Wurf zur Redefreiheit im Zeitalter des Internets und der digitalen Überwachung. (...) 'Redefreiheit' wird auf Jahre hinaus das Standardwerk zum Thema sein; ein Buch, das nahezu alle Aspekte des globalen Zusammenlebens berührt." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 27.11.16

"Garton Ash ist ein Liberaler, der statt Zensur und Gefängnis mehr Mut zum Disput fordert. ... Der Historiker erläutert seine Prinzipien in einer gründlichen und anschaulichen Darstellung, die sich durch eine geradezu weise Argumentation auszeichnet und durch eine wohltuende Unaufgeregtheit. Und: Er drückt sich nicht vor unbequemen Fragen." Roman Herzog, SWR 2 "Forum Buch", 27.11.16

"Eine immer wieder faszinierende Untersuchung. Garton Ashs Buch liefert eine beeindruckende Analyse unserer Wirklichkeiten und bietet durch seine Prinzipien Geländer an." Eva Bucher, Die Zeit, 24.11.16

"Es führt kein Weg daran vorbei, in näherer Zukunft internationale Regelungen (für Redefreiheit im Internet) zu debattieren. Die Initiative Garton Ashs ist ein Anfang." Christiane Müller-Lobeck, taz am Wochenende, 19.11.16

"Sicherlich eines der großen Sachbücher dieses Herbstes." Niels Beintker, Knut Cordsen, Bayern 2 "Diwan live", 22.10.16

"Mit seiner eindringlichen Verteidigung der freien Rede in vernetzten Zeiten hat Timothy Garton Ash ein Frühaufklärungsbuch für das 21. Jahrhundert geschrieben. ... Wer also sollte dieses Buch am besten lesen? Wir alle, die wir uns als mündige Welt- und Netzbürger begreifen." Marc Reichwein, Die Welt, 15.10.16

"Timothy Garton Ash entwirft eine Hausordnung für die Kommunikation in der vernetzten Welt." Andreas Rödder, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.16

"Ein wirklich allumfassendes Buch, das auch ein paar Redundanzen enthält. ... Trotzdem dominiert immer wieder der genuin liberale Ansatz, die Redefreiheit nicht durch Gesetze oder Maßnahmen von Regierungen oder Privatkonzernen einschränken zu lassen, sondern selbst ... Normen und Praktiken für den Gebrauch dieser essenziellen Freiheit zu entwickeln." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 05.10.16

"Timothy Garton Ash's umfassende Vorschläge sind darum so überzeugend, weil er immer das Für und Wider abwägt und immer auch unterschiedliche kulturelle Perspektiven in die Waagschale wirft, also nicht nur die westliche. Der Schlüssel sei Dialog, über alle Kulturen hinweg, so sein Fazit, die beste Zivilität ist die, die ohne Zwang entsteht." Vera Linß, Deutschlandradio Kultur, 30.09.16

"Der Bogen, den Garton Ashs Buch spannt, ist denkbar umfassend, er reicht von der Kulturphilosophie bis zum Völkerrecht, vom Journalismus bis zur Wissenschaft. ... Auch wer die letzten Jahre nicht verschlafen hat, findet hier ein konzises Handbuch mit Übersichten, wie sie so plastisch nur britischen Historikern gelingen." Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 28.09.16

"Timothy Garton Ash stellt sehr reflektierte und gleichzeitig alltagsnahe Überlegungen an. ... Sein sehr lesenswertes, mit zahlreichen spannenden Beispielen gespicktes Buch ist ein wertvoller Beitrag zu einer dringend zu führenden Debatte." Christoph Sterz, Deutschlandfunk, 26.09.16

"Mit seinem von klugen Überlegungen, Anregungen und gut recherchierten Hintergünden überquellenden Buch trägt Timothy Garton Ash wohltuend zur Strukturierung und womöglich zur Deeskalation einer hitzigen Debatte bei." Karen Horn, NZZ am Sonntag, 25.09.16

"Der Hanser Verlag bewirbt es als 'Standardwerk der Rede- und Meinungsfreiheit im 21. Jahrhundert' - und das wohl zu Recht." Tobias Becker, Literatur Spiegel, Oktober 2016

"Ein hochinteressanter Ansatz. (...) Eine Fundgrube für alle, die über eine Diskursethik neu und ergebnisoffen nachdenken möchten." Horst Meier, NDR Kultur, 22.09.16

"Ein herausforderndes Buch, ein anregendes. Eins, das auf über 600 Seiten viel Raum für Diskussionen bietet." Vera Gonsch, NDR Info, 10.10.16
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