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Lassen sich Lebensformen kritisieren? Lässt sich über Lebensformen sagen, sie seien gut, geglückt oder gar rational? Die politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats versteht sich als Versuch, das gesellschaftliche Zusammenleben auf eine Weise zu gestalten, die sich zu den unterschiedlichen Lebensformen neutral bzw. "ethisch enthaltsam" verhält. Dadurch werden Fragen nach der Art und Weise, in der wir individuell oder kollektiv unser Leben führen, in den Bereich nicht weiter hinterfragbarer Präferenzen oder als unhintergehbar gedachter Identitätsfragen ausgelagert. Wie über Geschmack lässt…mehr

Produktbeschreibung
Lassen sich Lebensformen kritisieren? Lässt sich über Lebensformen sagen, sie seien gut, geglückt oder gar rational? Die politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats versteht sich als Versuch, das gesellschaftliche Zusammenleben auf eine Weise zu gestalten, die sich zu den unterschiedlichen Lebensformen neutral bzw. "ethisch enthaltsam" verhält. Dadurch werden Fragen nach der Art und Weise, in der wir individuell oder kollektiv unser Leben führen, in den Bereich nicht weiter hinterfragbarer Präferenzen oder als unhintergehbar gedachter Identitätsfragen ausgelagert. Wie über Geschmack lässt sich über Lebensformen dann nicht mehr streiten. Rahel Jaeggi hingegen behauptet: Über Lebensformen lässt sich mit Gründen streiten. Lebensformen sind als Ensembles sozialer Praktiken auf die Lösung von Problemen gerichtet. Sie finden ihren Maßstab "in der Sache" des Problems.
Autorenporträt
Rahel Jaeggi, geboren 1967, ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort seit 2018 das Centre for Social Critique.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

So richtig warm wird Michael Schefczyk nicht mit Rahel Jaeggis Studie über die Kritik von Lebensformen. Schon die implizite Behauptung, politische Philosophie à la Habermas und Rawls fordere ethische Enthaltsamkeit und lasse den Streit über Lebensformen nicht zu, findet der Rezensent zweifelhaft. Wenn Jaeggi mit Hegel und dem Pragmatismus argumentiert, stößt Schefczyk zwar auf interessante Perspektiven, zugleich jedoch scheint ihm das Ansinnen der Autorin höchst fragwürdig, unvernünftig, weil unemanzipiert lebende Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Oder meint es die Autorin gar nicht so? Schefczyk ist sich nicht sicher, Jaeggis Kritik an der Zurückhaltung des politischen Liberalismus in Fragen der Gestaltbarkeit von Lebensformen macht ihn allerdings skeptisch.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.01.2014

Entwerfen statt Geworfensein
Die Frage nach dem individuellen guten Leben ist kein Thema der traditionellen Philosophie. Die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi
widerspricht: Kritik an der eigenen Lebensführung ist überhaupt erst die Voraussetzung aller Autonomie
VON EVA WEBER-GUSKAR
Ob jemand in der Stadt lebt oder auf dem Land. Ob gleichgeschlechtliche Paare mittels moderner Fortpflanzungstechnik eigene Kinder haben oder darauf verzichten. Ob Fleisch gegessen wird oder prinzipiell nur nicht-tierische Produkte. Das sind verschiedene Lebensformen oder zumindest Aspekte verschiedener Lebensformen. Welche solche Lebensform jemand wählt, das scheint eine persönliche Entscheidung zu sein, über die, ähnlich wie über Geschmack, nicht allgemein zu streiten ist. Rahel Jaeggi, Professorin für Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt Universität zu Berlin, sieht das anders. In ihrer jetzt erschienenen Habilitationsschrift erklärt Jaeggi, inwiefern eine gesellschaftliche „Kritik von Lebensformen“ nicht nur möglich, sondern sogar nötig sei.
  Damit mag sie nicht nur manchen in seinen gut gehegten Intuitionen irritieren. Vielmehr wendet sie sich auch gegen die dominante Sicht des zeitgenössischen politischen Liberalismus in der Philosophie. Sowohl John Rawls als auch Jürgen Habermas zufolge hat sich der Staat „ethisch neutral“ zu verhalten gegenüber der Vielfalt von Lebensformen in unserer modernen Gesellschaft. Während Rawls pragmatisch argumentiert, nur so ließen sich Konflikte des staatlich zu regelnden Zusammenlebens lösen und gleichzeitig den Ansprüchen moderner Individuen auf Selbstbestimmung gerecht werden, geht Habermas noch weiter. Er erklärt, in kantischer Tradition, die persönlichen Fragen des guten Lebens seien grundsätzlich nicht rational zu beantworten, und deshalb müssten sie aus politisch-rechtlichen Diskursen herausgehalten werden. Bestimmbar sei nur das moralisch Richtige – Gerechtigkeit; nicht das ethisch Gute – Familienmodelle, Erziehungsstile oder Ernährungsfragen.
  Jaeggi hält die klare Trennung zwischen Moral und Ethik für eine Illusion. „Sollen wir also das weiße Band, das der Pastor in Michael Hanekes gleichnamigem Film seinen Kindern in die Haare flechten ließ, um sie (. . . ) an ,Reinheit und Unschuld‘ zu erinnern – Werte, gegen die die Kinder sich schon durch einfaches Zuspätkommen zum Abendbrot sträflich vergangen haben sollen – als lediglich ,befremdliche Erziehungspraxis‘ tolerieren, während wir die Züchtigungsszenen offen kritisieren oder sogar rechtlich ahnden dürfen?“ Und interkulturell: Bis wann ist eine arrangierte Ehe „ein eingelebtes Ethos und ab wann wird es zur moralisch fragwürdigen Zwangsheirat“? Die Grenze zwischen Ethik und Moral sei fließend, und vor allem habe sie selbst ethischen Charakter. Deshalb ist Jaeggi skeptisch gegenüber der Haltung (vermeintlicher) ethischer Enthaltsamkeit. Damit aber muss sie erklären, wie denn im Bereich des Ethischen Kritik geübt werden könne.
  Dieser Aufgabe widmet sich Jaeggi in dem Buch mit großer Sorgfalt. Wie mit ihren bisherigen Veröffentlichungen, darunter die Dissertation über „Entfremdung“, stellt sich die Schülerin des Frankfurter Philosophen Axel Honneth dabei weiter in die Tradition der Kritischen Theorie. Sie führt aus, was in nuce bereits in ihrem Aufsatz „Was ist Ideologiekritik?“ von 2009 steht.
  Zunächst entwirft sie eine Theorie der „Lebensform“. Sie versteht darunter je ein Ensemble von sozialen Praktiken. Diese „umfassen Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativen Charakter, die die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert noch institutionell verbindlich verfasst sind“. Zur Lebensform der Stadt gehört etwa U-Bahnfahren, Apartment bewohnen, Nahrungsmittel nicht selbst anbauen, Reize ausblenden können. Als Lebensform gilt die bürgerliche Familie genauso wie das Unterfränkische oder die Lebensweise der Azteken, aber auch die Arbeitsgesellschaft und der Kapitalismus.
  Ein Clou von Jaeggis Ansatz besteht darin, dass sie Lebensformen dann als Problemlösungsstrategien erläutert. Das bereitet nämlich den Boden für Kriterien der Kritik. Von außen sind Lebensformen nicht kritisierbar, da sie ja gerade keinen universalen Anspruch haben, wie es für die Moral im engen Sinn gilt. Wenn man Lebensformen als Strategien zur Problemlösung begreift, lässt sich ein Ziel ausmachen, das sie besser oder schlechter oder gar nicht erreichen. Krisen sind dann Zeichen des Scheiterns von Lebensformen. Damit hat man ein internes Kriterium zur Beurteilung an der Hand.
  Um das zu veranschaulichen, greift Jaeggi das erste Mal ausführlich auf Hegel zurück. Hegel beschreibe in seiner „Phänomenologie des Geistes“ die Entwicklung des Begriffs der bürgerlichen Familie so, dass sich darauf die Problemlösungsidee gut anwenden lasse: Die Lebensform einer solchen Familie löse erstens die Aufgabenstellung, das biologische Geschlechterverhältnis zu kultivieren. Zweitens balanciere die Familie Abhängigkeit und Unabhängigkeit aus, die Pole, zwischen denen sich Subjekte konstituieren. Hegel zeichne dabei ein modernes Familienideal, das sich vom älteren patriarchalischen absetzt, also auch von den Alternativen einer romantischen Vorstellung einerseits, einer rein vertragsrechtlichen andererseits.
  Im Anschluss an Hegel buchstabiert Jaeggi entsprechend das Verfahren „immanenter Kritik“ aus, das sich von externer und interner Kritik unterscheidet. Immanente Kritik zeichnet erstens aus, dass dabei Beurteilungskriterien oft erst in einer anspruchsvollen Analyse aufgedeckt werden. Man müsse verstehen, für welche Probleme eine Lebensform eine Lösung sein sollte und worin genau die Krise besteht, in die sie geraten ist – hierfür brauche es Theorie. Das bedeutet auch ein Plädoyer für die Einmischung der Philosophie in gesellschaftlichen Diskussionen. Darüber hinaus zeichne immanente Kritik aus, dass sie nicht zu einer Rekonstruktion führe, also zur Wiederanpassung von realen Gestalten an bisher gültige Normen, sondern meistens zu einer Transformation: Familie ist nicht mehr da, wo es Vater, Mutter, Kind und gemeinsames Abendessen gibt, sondern da, „wo es Kinder gibt“ – wie es seit einigen Jahren in einem politischen Slogan heißt. Egal, ob mit einem alleinerziehenden Vater oder zwei Müttern, von denen nur eine biologisch verwandt ist.
  Schließlich erklärt Jaeggi mit und über Hegel hinaus, zwischen John Dewey und Alasdair McIntyre, die Transformationen der historischen Lebensformen als einen pragmatisch-dialektischen Lernprozess. Damit schlägt sie einen Kompromiss vor zwischen der Idee eines völlig beliebigen Prozesses einerseits und einem zielgerichteten bestimmten andererseits. Es ist nicht die Entwicklung des einen Weltgeistes wie bei Hegel. Es ist keine lineare, gar teleologische Linie. Es gibt nicht die eine beste Antwort, auf das je gestellte Problem. Jede Lebensform ist ein Versuch. Aber es ist doch die Kraft der Vernunft, die Fortschritt bewirkt.
  Die eingangs erwähnte ethische Enthaltsamkeit nun behindere diesen Lernprozess. Damit widerspräche sie auch dem eigenen Anspruch, Selbstbestimmung zu ermöglichen. Denn in Lebensformen werde man hineingeboren oder je nach Kultur hineingesetzt. Wenn einem die Möglichkeit einer Kritik daran vorenthalten werde, bliebe man in ihnen als vermeintlich natürlichen Gestalten gefangen.
  Es ist ein optimistisches Bild, das Jaeggi da in einem großen Wurf von der Menschheit, ihrer widersprüchlichen Vielfalt und den gesellschaftlichen Krisen zeichnet. Dabei schreibt sie immer fein nuanciert, nie vorschnell verurteilend oder vereinseitigend, immer abwägend; immer wieder geht es im Buch um Überlappungen, Gemengelagen und Ambivalenzen. Damit versucht Jaeggi, den großen Komplexitäten gerecht zu werden.
  Ihre anfangs erfahrungsgesättigten und praxisnahen Überlegungen bewegen sich zum Schluss hin allerdings zunehmend in theoretischen Höhen und brechen dort fast ein wenig unvermittelt ab. Die verschiedenen Ansätze, zu erklären, was genau ein Problem ist und die Hegel’sche Rede, dass eine Lebensform „ihrem Begriff entsprechen“ müsse, bleiben trotz aller gewissenhaften Umschreibung abstrakter, als man es sich für dieses Thema wünschen könnte. Zu gern würde man das Kritikverfahren einmal ausführlicher durchgespielt sehen.
  Doch vielleicht kommt das ja in zukünftigen Arbeiten. Seit ihrem Antritt 2009 an der Universität, an der auch Hegel gelehrt hat und in der das berühmte Karl-MarxZitat vom Verändern der Welt am großen Treppenaufgang prangt, hat sich Jaeggi bereits einen festen Platz in der deutschen Philosophie erarbeitet. Das Buch bestärkt den Eindruck, dass sich hier eine wichtige philosophische Stimme ausgebildet hat, die sich die Gesellschaft und ihre Fragen zum Thema macht und von der man noch hören wird – auch über die Academia hinaus.
Der klassische Liberalismus
empfahl ethische Enthaltsamkeit
beim Thema Lebensführung
Nur wer seine unfreiwilligen
Lebensformen reflektiert, kann
sich von ihnen befreien
      
  
  
  
  
  
Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
451 Seiten, 20,60 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Sie kann die Feigheit, die sich in der ... Gesellschaft und deren nachträglicher Vermittlung ausdrückt, überwinden zugunsten eines echten Interesses, Lebensformen 'vernünftig' zu verändern.« Thomas Meyer DIE ZEIT 20140313