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Wie aus Menschen Männer werden.
Wie wird man zum Mann? Hierzu braucht zum Beispiel der türkische Mann fünf einschneidende Erlebnisse: 1. Beschneidung, 2. Militärdienst, 3. Arbeit finden, 4. Heirat und 5. Vater (eines Sohnes) werden. Der Militärdienst ist ein besonders anschauliches Beispiel: eine Prüfung, die nur bestanden ist, wenn der Mann »gebrochen« wurde und seinen Platz in der Autoritätshierarchie eingenommen hat. Über Interviews mit 58 Männern, die ihren Militärdienst, ihre Sozialisation und ihre Empfindungen während dieser Zeit schildern, beschreibt die Soziologin Pinar Selek, wie…mehr

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Produktbeschreibung
Wie aus Menschen Männer werden.

Wie wird man zum Mann? Hierzu braucht zum Beispiel der türkische Mann fünf einschneidende Erlebnisse: 1. Beschneidung, 2. Militärdienst, 3. Arbeit finden, 4. Heirat und 5. Vater (eines Sohnes) werden. Der Militärdienst ist ein besonders anschauliches Beispiel: eine Prüfung, die nur bestanden ist, wenn der Mann »gebrochen« wurde und seinen Platz in der Autoritätshierarchie eingenommen hat.
Über Interviews mit 58 Männern, die ihren Militärdienst, ihre Sozialisation und ihre Empfindungen während dieser Zeit schildern, beschreibt die Soziologin Pinar Selek, wie junge Männer in der Türkei die Zeit ihrer Identitätsfindung erleben. Die Gespräche zeigen einen Querschnitt durch die ganze Gesellschaft der Türkei. Unter den Männern sind unter anderem auch Kurden und Armenier.
»Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt.« beleuchtet nicht nur die Erfahrungen in der Türkei, sondern fordert auf, Mannsein auf universeller Ebene zu hinterfragen. So bildet es die Gesprächsgrundlage für generelle Diskussionen darüber, wie die sexistisch-patriarchalische Kultur die Menschen auch die Männer unterdrückt.
Autorenporträt
Pinar Selek, ein bekanntes Gesicht der feministischen Bewegung in der Türkei, ist Soziologin und bekannt dafür Tabuthemen anzupacken. Bekannt geworden ist Pinar Selek mit Recherchen und Arbeiten zu diskriminierten Gruppen wie Transsexuellen, Straßenkindern und SexarbeiterInnen. 1998 geriet sie unter Terrorverdacht und kämpft seit dieser Zeit gegen die Vorwürfe an, obwohl sie zweimal freigesprochen wurde
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2010

Das sind doch alles ramponierte Wesen
Die Soziologin Pinar Selek hat ein Buch über den türkischen Männlichkeitskult geschrieben und musste deshalb aus dem Land flüchten

In die Küche hat Pinar Selek ein Poster mit einer Stadtansicht von Istanbul gehängt - "Ich habe Heimweh", sagt sie -, daneben kleben kleine Merkzettel mit deutschen Vokabeln an den Schränken: Frühstück - kahvalti, Küche - mutfak, Schere - makas. Die Wände ihres Arbeitsraums bedecken Fotos von Freunden und Verwandten. Pinar Selek stellt vor: Da ist ein Bild ihres Vaters, eines in der Türkei bekannten linken Rechtsanwalts; da ist ihre Schwester, die nur deshalb Rechtswissenschaften studierte, damit sie der damals im Gefängnis sitzenden Pinar juristisch beistehen kann; da ist ein Foto ihres engen Freundes Hrant Dink, des armenisch-türkischen Journalisten, der im Jahr 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen wurde. Der Mord war für Pinar Selek der Anlass für ein Buch, mit dem die Soziologin und Feministin den türkischen Staat an seinem empfindlichsten Punkt verwundete: dem Kult um Männlichkeit und dessen ewige Schule, das Militär. 390 000 Soldaten zählt das türkische Heer. Es ist die fünftgrößte Armee der Welt. Unter dem Titel "Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt - Männliche Identitäten" (Orlanda Buchverlag) liegt das Buch nun auch auf Deutsch vor.

"Im Fernsehen sah ich Hrants Mörder. Er blickte in die Kamera und versuchte seinem Gesicht einen harten Ausdruck zu verleihen. Er hob die Arme und brüllte: ,Sieh dich vor, und sei bloß vernünftig!'", sagt Pinar Selek. Sie kannte den jungen Mann nicht. Und doch war er ihr zutiefst vertraut: seine männliche Gebärde, seine Worte, das drohend verzerrte Gesicht, sein durch Männlichkeit legitimierter Anspruch, sich mit Gewalt über alles und jeden zu stellen. Diese Männer trifft man zu Tausenden in der Türkei. Sie begehen Ehrenmorde, üben Blutrache, sprechen gegenüber ihren Töchtern und Söhnen Kaskaden von Verboten aus. Sie schreiben ihren Freundinnen und Ehefrauen vor, wie sie sich zu benehmen und aufzutreten haben. Sie sind jederzeit bereit, sich zu schlagen und zu streiten. Pinar Selek wollte herausfinden, unter welchen Umständen diese Männer wurden, wie sie sind.

Pinar Selek ist nicht freiwillig nach Deutschland gekommen. Sie kam als Flüchtende, nun ist sie eine "Writers in Exile"-Stipendiatin der deutschen Sektion des Schriftstellerverbandes PEN, sitzt auf dem Balkon der Berliner Wohnung, die man ihr zur Verfügung gestellt hat, und rührt in ihrem schwarzen Tee. Hätte sich eine andere Autorin des Themas türkische Männlichkeit und Militär angenommen, dann hätte die türkische Regierung wahrscheinlich mit Zensur reagiert oder versucht, das betreffende Verlagshaus mit juristischen Strafen in die Knie zu zwingen. Vielleicht hätte man die Verfasserin auch wegen "Distanzierung des Volkes vom Militär" angeklagt. Doch an die Bücher Pinar Seleks, die in der Türkei eine Ikone der Demokratiebewegung ist und deren Frauenorganisation Amargi internationales Ansehen genießt, traut sich die Regierung nicht heran. Zudem ist das Buch, für das sie achtundfünfzig Wehrdienstleistende interviewte, in der Türkei ein durchschlagender Erfolg. Es wird dort in selbstorganisierten Studentenseminaren und bei großen Konferenzen diskutiert und geht gerade in die fünfte Auflage.

Deshalb wählten die türkischen Behörden einen anderen Weg, um Pinar Selek zum Schweigen zu bringen: Ende 2009 hat die neunte Strafkammer des Obersten Kassationsgerichts - jene Kammer, die auch die Verurteilung Hrant Dinks wegen "Verunglimpfung des Türkentums" gebilligt hatte - in Ankara einen alten Fall wieder aufgerollt. Pinar Selek drohen sechsunddreißig Jahren verschärfter Einzelhaft. Als dies bekannt wurde, verließ die Autorin über Nacht das Land. Ihre Schwester, die inzwischen Rechtsanwältin ist, hat ihre Verteidigung übernommen. Sie haben auch Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht.

Worum geht es in dem alten Fall? Die Geschichte begann Ende der neunziger Jahre. Damals befragte Pinar Selek für eine Studie in ganz Europa Mitglieder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK über deren Verhältnis zur Gewalt. Die Arbeit sollte als Buch erscheinen; die Namen ihrer Interviewpartner hatte Pinar Selek anonymisiert. Natürlich interessierte sich die türkische Polizei für das Projekt. Natürlich wollte sie die wahren Identitäten der PKK-Mitglieder wissen. Natürlich gab Pinar Selek sie nicht preis. Die damals Siebenundzwanzigjährige wurde verhaftet und kam in Untersuchungshaft.

Pinar Selek springt auf und zeigt, wie man sie an die Mauer fesselte: die Arme nach hinten über den Rücken gestreckt, so dass der Rücken nach vorne fällt und irgendwann die Schultern auskugeln. "Das Schlimmste waren die Elektroschocks. Man gab sie mir auf die Kopfhaut", sagt sie. Ihre Zelle war ein Raum, den sie mit siebzig Frauen teilte. Nach einer Woche erfuhr sie aus dem Fernsehen, womit die Polizei ihre Festnahme begründete. Sie habe im Auftrag der PKK eine Bombe auf dem ägyptischen Basar in Istanbul gezündet, hieß es in den landesweiten Abendnachrichten.

Tatsächlich war es dort am 9. Juli 1998 zu einer Explosion gekommen, bei der sieben Menschen getötet worden waren. Nach zweieinhalb Jahren kam das Gericht jedoch zu dem Schluss, dass keine Bombe, sondern eine defekte Gasflasche die Katastrophe ausgelöst hatte. Pinar Selek kam frei. Hunderte von Menschen, Politiker und Intellektuelle aller Couleur, Transsexuelle, Prostituierte und Straßenkinder, denen sie zuvor ihr Engagement gewidmet hatte, nahmen sie vor dem Gefängnistor in Empfang. Im Jahr 2006 endete das Verfahren mit einem Freispruch. Noch Jahre später aber wurde sie am Telefon von anonymen Anrufern bedroht. "Es waren eigentlich immer Männer", sagt Pinar Selek.

Vier Etappen, legt die Soziologin in ihrem Buch dar, müssen Männer in der Türkei überwinden, um zum Mann zu werden: Beschneidung, Wehrdienst, Beruf und schließlich die Eheschließung als Endstation. Der Militärdienst ist dabei eine Erfahrung von Maßregelung, Erduldung und Gewalt. Das erlebte Hin und Her zwischen Machtverheißung und Machtlosigkeit verwandele die Rekruten in schizophrene Wesen, die zwar zerbrechlich sind, "aber diese Zerbrechlichkeit mit verschiedenen Mauern, Masken und Machtdemonstrationen zu verheimlichen" suchen. "Man ergibt sich" - so wird der Eintritt in die Armee im Türkischen wörtlich genannt. Glaubt man Selek, dann erholen sich die Männer auch nach Ende des Wehrdienstes nicht mehr von dieser Erfahrung. Der türkische Mann verlasse die Kaserne als "ramponiertes Wesen", das das Erlebte in die Gesellschaft trägt. Mit dem von ihm beanspruchten Recht, als Familienvater seine Kinder zu schlagen und zu lieben, wird letztlich nur imitiert, was der Übervater Staat ihm vorgelebt hat.

Pinar Selek seziert, was um sie herum geschieht, besonders das Verhältnis der Geschlechter. Wie nimmt sie die Türken in Deutschland wahr? Die Soziologin überlegt einen Moment: "Viele Türken, die hier leben, zelebrieren ein Geschlechterverhältnis, das in der Türkei in den fünfziger Jahren herrschte. Ganz so, als habe man sie vor ihrer Abreise in eine Kühltruhe gesteckt, in der trotz des anderen Raumklimas ein bestimmter Wertekanon unbeschadet überstehen konnte." Eine Antwort darauf, ob hier zu beobachtende patriarchale Muster ebenfalls auf die unter Umständen vor Generationen erfahrene Sozialisation während des türkischen Wehrdiensts zurückzuführen sind, ob Deutschtürken diese Muster aus türkischen Kasernen mit nach Deutschland bringen, auch wenn viele von ihnen nur einen verkürzten Wehrdienst leisten, möchte Pinar Selek nicht geben. Dazu brauche es eine richtige Studie. Aber vorstellbar, sagt sie, sei das schon.

KAREN KRÜGER

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