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Entdecken wir das Begehren oder entdeckt das Begehren uns? Wie frei sind wir, unser Begehren zu leben? Hat es nur eine Form oder ändert es sich, wird tiefer, zarter, radikaler? In ihrem so persönlichen wie analytischen Text schildert Carolin Emcke das Suchen und die allmähliche Entdeckung des eigenen, etwas anderen Begehrens. Sie erzählt von einem homosexuellen Coming of Age, von einer Jugend in den 1980er Jahren, in der über Sexualität nicht gesprochen wurde. Sie buchstabiert die vielen Dialekte des Begehrens aus, beschreibt die Lust der Erfüllung, aber auch die Tragik, die gesellschaftliche…mehr

Produktbeschreibung
Entdecken wir das Begehren oder entdeckt das Begehren uns? Wie frei sind wir, unser Begehren zu leben? Hat es nur eine Form oder ändert es sich, wird tiefer, zarter, radikaler?
In ihrem so persönlichen wie analytischen Text schildert Carolin Emcke das Suchen und die allmähliche Entdeckung des eigenen, etwas anderen Begehrens. Sie erzählt von einem homosexuellen Coming of Age, von einer Jugend in den 1980er Jahren, in der über Sexualität nicht gesprochen wurde. Sie buchstabiert die vielen Dialekte des Begehrens aus, beschreibt die Lust der Erfüllung, aber auch die Tragik, die gesellschaftliche Ausgrenzung dessen, der sein Begehren nicht artikulieren kann. Eine atemberaubend ehrliche Erzählung, die gleichermaßen intim wie politisch ist.

"Ein eindrückliches Buch über Liebe und Freiheit."
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung
Autorenporträt
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff "kollektiver Identitäten".
Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University.
Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage "Krieg erzählen" am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe "Streitraum" an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen 'Von den Kriegen. Briefean Freunde', 'Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF', 'Wie wir begehren', 'Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit' sowie 'Gegen den Hass'.

"Emckes Texte halten die Frage lebendig, ob es gleichgültig ist, wenn Menschen übertönt werden und verstummen, während andere beredt ihre Macht ausüben."
Elisabeth von Thadden, Die Zeit

"Gut also, dass mit dem Friedenspreis [...] eine Autorin ausgezeichnet wird, die erfolgreich an der moralischen Aufladung der politischen Auseinandersetzung des öffentlichen Geredes arbeitet."
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung

Literaturpreise:

"Das Politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005)
Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises (2006)
Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay für den Beitrag "Stumme Gewalt", erschienen im "ZEITmagazin" vom 06.09.2007 (2008)
Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2010
Deutscher Reporterpreis 2010 für die beste Reportage
Journalistin des Jahres 2010 (ausgezeichnet vom 'medium magazin')
Journalistenpreis für Kinderrechte der Ulrich-Wickert-Stiftung 2012
Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache (2014)
Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2015)
Preis der Lichtenberg Poetik-Dozentur (2015)
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2012

Was sonst noch geschah, als Helmut Kohl Kanzler war

Homosexualität ist kein Schicksal, sondern eine Lust: Carolin Emcke erzählt in "Wie wir begehren" davon, wie sie das entdeckte - und welche Rolle die Musik dabei spielte.

Am ersten Schultag im Gymnasium, in einer der ersten Pausen, die auf einem schlammigen Hof verbracht werden, findet sich Carolin Emcke mit ihrem neuen Mitschüler Daniel plötzlich in einem Kreis anderer Kinder, umzingelt, aufgefordert, sich mit Daniel zu schlagen. Sie sieht ihn an diesem Tag zum ersten Mal. Es gibt keinen Grund für diese Szene, nur eine Stimmung drohender Gewalt, Willkür und Bösartigkeit, ein "wir" der Mehrheit der Kinder, das sagt: "Schlagt euch", und ein "ihr" der anderen, Daniel und Carolin, die unschlüssig voreinanderstehen. Dann ist die Pause zu Ende. Niemand hat sich geprügelt. Aber ein Muster ist sichtbar geworden: das Wechselspiel von Einschluss und Ausschluss, um Hierarchien zu schaffen, wo erst mal nur eine Gruppe von Kindern war.

Mit dieser Szene beginnt Carolin Emckes autobiographisches Buch "Wie wir begehren". Es erzählt von einer Kindheit in den siebziger Jahren, in der es noch einen Wald gab, in dem Höhlen gebaut und Spaziergänger aus Pusterohren beschossen wurden, aber kaum "Zonen der Angst"; von einer Jugend in den Achtzigern, in der ein Musiklehrer eine tragende Rolle spielte und in der im Fach Sexualkunde von den reproduktiven Möglichkeiten des Körpers (und wie sie auszuschalten seien) die Rede war, aber nicht von Lust und was sie mit der Sexualität zu tun hat. Auch auf Daniel kommt die Autorin immer wieder zurück. Er hat sich, kaum achtzehn, das Leben genommen. Warum, darum kreisen ihre Gedanken, ohne dass sie gesicherte Erkenntnisse hätte. Er stand am Rand, machte ihn das verzweifelt? Stand er dort, weil er sich absonderte oder weil er ausgeschlossen wurde? Und stand er dort, weil er mit seiner Lust nicht klarkam? War Daniel schwul und wusste nicht, wie er das leben sollte?

Das sind Carolin Emckes Fragen angesichts des Todes dieses Jungen, mit dem sie nicht befreundet war, über den sie aber als ein mögliches Opfer jenes Schweigens, das damals über allem Sexuellen lag, phantasiert. Er ist das Opfer, das sie selbst nicht wurde, ein junger Mann, der sein Begehren vielleicht nicht erkannte, der nicht wusste, wer er war oder werden könnte. Möglicherweise ist es so gewesen. "Später hieß es", schreibt sie, "er sei mit einem anderen Mann gesehen worden. Später. Als es zu spät war."

Möglicherweise war es aber auch ganz anders. Und vor allem darum geht es in diesem Buch: Möglichkeiten offenzuhalten, Festschreibungen zu umgehen, darüber zu erzählen, wie Identität sich bildet, und sie gleichzeitig als etwas Prekäres sichtbar zu machen, wandlungsfähig und im Fluss. Es geht darum, schreibend Achtung vor Andersartigkeit zu evozieren, vor anderen Körpern, anderen Gedanken, Überzeugungen, Religionen auch. Es geht um Orte wie den Schwulenclub "Front", an dem jeder "ein Ausländer" sein durfte "und gleichzeitig das ewige Exil zu Ende ging" - das Exil der Homosexuellen.

Carolin Emcke, die ihr homosexuelles Begehren so tastend entdeckte, wie sie hier schreibt, ist eine furchtlose Autorin. Das hat sie nicht nur in ihren Büchern gezeigt, die sie als Kriegsreporterin bekannt machten, sondern das beweist sie gerade hier, in ihrem bisher persönlichsten, in dem sie auch vom Glück erzählt, das die Entdeckung ihrer Art der Lust für sie bedeutet. "Ich bin auch homosexuell", schreibt sie, "weil es mich glücklich macht, weil ich mich in Frauen hineinlieben möchte, weil sich meine Lust und mein Leben richtig anfühlen." Das schreibt sie gegen all die, die meinen, Homosexualität sei ein Schicksal, das zu ertragen sei.

"Wie wir begehren" ist ein Sachbuch, deshalb lesen wir auch von der "Bravo" aus den Achtzigern und der Repräsentation von Sexualität in dieser Jugendzeitschrift, von Schwulenparagraphen, Rechtsfragen, Denunziationskampagnen, Homophobie und sexueller Gewalt, etwa in der Odenwaldschule. Das gehört hierher. Aber am schönsten sind die Passagen (die auch den größten Raum einnehmen), in denen die Autorin gleichsam die Erzählung zu Judith Butlers Theorien liefert, die wir seit langem kennen. Wenn Judith Butler einst feststellte, das Geschlecht sei keine ontologische Tatsache, sondern Ergebnis kultureller Praxis, so erzählt Carolin Emcke uns nun, wie diese kulturelle Praxis in ihrem Leben aussah: bei uns, in der damaligen Bundesrepublik, in einer Stadt, die keine Metropole war, vor ein paar Jahrzehnten.

Sie nimmt Umwege, immer wieder in den Wald, zu Kinderspielen, ersten Berührungen oder in die Musik, um davon zu erzählen, wie Grenzen konstruiert werden, die soziale Markierungen setzen und doch als natürliche wahrgenommen werden - zwischen den Geschlechtern, den Konfessionen und im Kleinen, wo eifrig weiter sortiert wird, zwischen alt- und neusprachlichem Zweig in der Schule, zwischen Stimmlagen im Musikunterricht. Dass Homosexualität für die Autorin in dieser Ordnung gar nicht vorkam, lag vor allem daran, dass die Phantasie an Grenzen stieß, die auch noch Grenzen der Lust waren.

Carolin Emcke rettet die Liebe vor all jenen, die es für besonders liberal halten (wie offenbar einige ihrer Lehrer), von Sexualität zu reden, ohne von Gefühlen zu sprechen. Damit erst gibt sie der Lust und ihrem Begehren, das sie als "Fluss ohne Ufer" beschreibt, einen Raum. Weil sie neben der Lust auch die Musik liebt - und einen Lehrer hatte, der besser war, als alle Phantasie es sich träumen könnte -, hat sie ein Gespür für subkutane Dissonanzen. So bewegt sie sich schreibend auf der Suche nach einem Ich, das ganz eigen und für Veränderungen offenbleiben will, wie durch ein Musikstück auf der Suche nach Soloinstrumenten, Motiven, Klangnuancen. Ihr Buch ist ein radikales Bekenntnis zur eigenen Homosexualität. Eine Solidaritätsadresse an alle, die lieben wie sie. Und eine Absage an kollektive Identitäten, die sich über Ausgrenzung stabilisieren.

VERENA LUEKEN

Carolin Emcke: "Wie wir begehren".

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 256 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Andrea Roedig ist sich sehr uneins: Einerseits ist Emckes "erotische Autobiografie" über das Erwachen und Formen der eigenen, homosexuellen Lust über weite Strecken "exzellent und dicht" geschrieben und nicht zuletzt eine "wilde und schöne Liebeserklärung an die lesbische Lust", auch wenn sie manche der jugendlichen Erweckungserlebnisse für den Geschmack der Rezensentin oft eine Spur zu sehr mit nerviger Selbstbefragerei vollgestellt findet. Andererseits stört sich Roedig aber sehr an der Art und Weise, wie Emcke die Person Daniel benutzt, einen Mitschüler aus Jugendtagen, der sich umgebracht hat, womöglich weil er schwul war. Wofür Daniel alles herhalten muss, findet die Rezensentin doch etwas sehr unbekümmert, schließlich habe die Autorin den Jungen kaum gekannt. Ob sie das Buch deshalb "ärgerlich" findet, will Roedig daher abschließend nicht entscheiden, ziemlicher sicher ist sie aber, dass man auch im Namen der Aufklärung gut überlegen solle, was man "vom Schmerz und vom Zauber des Verschwiegenen" preisgeben solle.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2012

Und alle
Lust will
Freiheit
„Das Eigene beginnt mit einem Nein“: Carolin Emcke
erzählt vom Heranwachsen in den siebziger,
achtziger Jahren, vom Entdecken des Begehrens,
von Sprachlosigkeit, Normierung und Ausgrenzung.
Ein kluges Buch für liberale Köpfe Von Jens Bisky
Wer seine Hochzeit ernst nimmt, zur Feier Freunde um sich haben will und weiß, dass ihm der Tag nur gelingt, wenn auch diese sich wohlfühlen, der wird wenig dem Zufall überlassen, schon gar nicht die Tischordnung. Da muss zusammensitzen, was sich gemeinsam zu amüsieren verspricht, Überraschungen sollten möglich sein, Verblüffendes aber, jede Überforderung der Gäste ausgeschlossen. So muss auch das Paar gedacht haben, das die Journalistin Carolin Emcke zu seiner Hochzeit lud. Sie hatten, als sie die Sitzordnung arrangierten, offenbar ein klares Bild der Freundin vor Augen, von der längst bekannt war, dass sie Frauen liebt, auch wenn sie diesmal mit ihrer besten, mit einer heterosexuellen Freundin kam. Zunächst schien alles, wie Benimm-Ratgeber es empfehlen. Überall saßen Männer neben Frauen, nur Frau Emcke hatte keinen neben sich, dafür kamen an ihren Tisch ein „schwules Paar, eine bisexuelle Frau, und eine Unentschlossene“, nebst einer heterosexuellen Verwandten, die sich womöglich andernorts schlecht unterbringen liess. Es gab keinen Zweifel, man saß gemeinsam am „Schwulen-Tisch“. Jeder, der von der Mittellinie des Begehrens abwich, war an diesem Tisch platziert worden.
Klar, dass nach Gesprächsstoff nicht lange gesucht werden musste. Was verband denn die an den anderen Tischen? Wo saßen jene, die gern fesselten oder zu Huren gingen oder es heftiger trieben? War denen an Tisch zwei nicht die Vorliebe für Rollenspiele anzusehen? Die Szene taugt für eine gute Komödie. Und Carolin Emcke ist eine viel zu intelligente Autorin, um sich das ganz entgehen zu lassen. Aber sie witzelt nicht über ihre Fassungslosigkeit angesichts der gut gemeinten, von höchst toleranten Freunden aufgestellten Tischordnung hinweg. Hätte man die Hautfarbe zum Kriterium gewählt, wäre jedem, glaubt sie, die Unmöglichkeit dieser Art zu sortieren aufgefallen. Sie fühlte sich einem Blick ausgesetzt, der sie verdinglichte zu einer Person, deren Wesen sexuell bestimmt war. Das kann einem die Luft abschnüren. Zumal, wenn man an sich dutzende andere Eigenschaften ebenso bemerkenswert findet wie Vorlieben, Praktiken, Wege des Verlangens.
Es sind Beobachtungen wie diese, die Carolin Emckes Buch „Wie wir begehren“ zu einem unterhaltsamen Streifzug durch die aufgeklärte Gesellschaft der Gegenwart werden lassen. Zu einem eindrücklichen Buch über Liebe und Freiheit wird es dadurch, dass die Autorin die Grenzen der „normierten Akzeptanz“ überschreitet – sowohl räumlich als auch in der Zeit. Zu der Hochzeitsszene und dem Ärger über die vermaledeite Tischordnung gehört die Begegnung mit Ibrahim, einem Studenten, der Emcke als Übersetzer durch den Gaza-Streifen begleitete. Als er in Jeans, einem weißen Daunen-Anorak und einer großen, irgendwie an George Michael erinnernden Sonnenbrille auf sie zukam, war die deutsche Journalistin fassungslos. Ihn sehen und wissen, dass er schwul sein müsse, war eins. Es war zunächst unmöglich, ihn danach zu fragen. Homosexualität ist in Gaza nicht vorgesehen, wird als Sünde betrachtet. Der Sünder hat, wenn er erwischt, wenn er erkannt wird, mit Demütigung, Misshandlung und Tod zu rechnen. Vielleicht zitierte Ibrahim nur Codes, von denen er nicht wusste, was sie im Westen bedeuteten? Aber dem widersprachen seine sanften Gesten. Oder schien das nur den bald wieder abreisenden Westlern so? Konnte es sein, dass die Verfolger das Provokante an Ibrahims Erscheinung nicht wahrnahmen, dass das Tabu zum Opfer seiner selbst geworden war: „Wurde Homosexualität derart unterdrückt, dass die Hamas es nicht einmal erkannte, wenn ein Schwuler vor ihnen stand? Wenn über Homosexualität nicht gesprochen werden darf, dann darf auch nicht gesprochen werden über das, was Homosexualität ausmacht.“ Ibrahim wird sich später gegenüber der Autorin outen, zum ersten Mal in seinem Leben, und dann glücklich in den Westen entkommen, gerettet aus den Fängen der Hamas, die ihm „Kollaboration mit dem israelischen Feind“ vorwarf. Heute kann er schwul sein, wie er will; nur dass er Araber ist, macht ihn zum Fremden.
Carolin Emcke wurde 1967 geboren. 1967 wurden in der Bundesrepublik 2261 Männer nach dem Paragraf 175 des Strafgesetzbuches verurteilt. Sie genoss eine behütete Kindheit. Wie in ihrem klugen Buch „Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF“ (2008) verbindet sie auch diesmal persönliche Erfahrungen, am Gymnasium, unter Freunden, als Korrespondentin aus Krisengebieten, mit allgemeinen Fragen. Ohne dem Leser zu dicht auf die Pelle zu rücken, findet sie am Privaten die Momente von öffentlichem Interesse. Die Erzählung, wie sie ihr Verlangen entdeckte, wird durch zeitgeschichtliche Informationen, Erlebnisse in anderen Weltgegenden und Reflexionen immer wieder unterbrochen. Dadurch verliert ihre Lebenserzählung Geradlinigkeit, Eindeutigkeit. Heutiges Glück, spätere Einsichten relativieren das Gewesene keineswegs. Es behält sein Eigenrecht, die Gegenwart erlöst die Vergangenheit nicht.
Neben ihrem Tasten, Stolpern, entschlossenen Voranschreiten steht die Geschichte von Daniel, der mit ihr zur Schule ging, ohne erkennbaren Grund ins Abseits gedrängt wurde, als Blitzableiter pubertärer Selbstbestätigungsrituale der Mehrheit fungieren musste, jede Selbstverständlichkeit in seinen Bewegungen, im sozialen Dasein verlor, sich zu keiner Gruppe mehr beiläufig gesellen konnte und sich, noch nicht einmal richtig erwachsen, das Leben nahm. „Das Eigene beginnt mit einem Nein“, schreibt Carolin Emcke. Für Daniel wurde es ein Nein zum Leben überhaupt. Warum? Der Leser erfährt es nicht, er kann vermuten, dass es nicht wenig mit Sprachlosigkeit zu tun hatte, mit dem Fehlen der richtigen Worte, um sich anderen wie sich selbst verständlich zu machen.
„I am the Love that dare not speak its name“, hieß es 1896 bei Oscar Wilde. Neben den tradierten Metaphern für offenbare Geheimnisse steht heute längst ein Überangebot an klinischen, vulgären und politisch aufgeladenen Bezeichnungen zur Verfügung. Carolin Emcke fühlt sich mit keiner ganz wohl. Wenn sie denn gefragt wird, wie es um ihr Begehren stehe, antwortet sie leicht verschoben, sie sei schwul, als sei dies nicht Männern vorbehalten. Ihr Buch gewinnt seine Kraft aus dem Versuch, eine andere Sprache für das Begehren zu finden: eine, die vom Individuum ausgeht, die niemanden ins Gefängnis irgendeiner „Identität“ sperrt, dafür Zärtlichkeit, Hingabe und Leidenschaft auszudrücken vermag.
Deswegen nehmen Erinnerungen an den Musikunterricht – sie hat offenkundig einen großartigen Musiklehrer gehabt – einen so großen Raum ein. Musik wird hier noch einmal zum Vorbild für eine Sprache, die deutlich, aber nicht festlegend, genau, aber nicht ausgrenzend ist, deren Reiz sich Variationen, Nuancen, Spielarten, Modulationen verdankt.
Dagegen stehen die pubertären Spiele der Selbstfindung durch Gruppenbildung, Ausgrenzung. Wie eng Begehren und Lust an der Macht, am Verfügen über andere zusammenhängen, wie stark das Sexuelle auch von Hierarchien bestimmt wird, veranschaulicht Emcke in kleinen Geschichten: Da gibt es die gemeinsame Fahrt auf den Straßenstrich oder die Demütigung eines „Opfers“ bei Sport und Spiel. In der öffentlichen Rede scheint Sex nicht mehr Sünde, aber doch immer wieder sehr gefährlich: Krankheiten und Missbrauch drohen oder Sucht.
Daneben behauptet sich zäh ein therapeutischer Diskurs, der hauptsächlich zum Egoismumus erzieht und damit die grenzüberschreitende Kraft der Lüste zum Zwecke der Selbstoptimierung domestiziert. Zur Durchsetzung von Bürgerrechten wurde das Begehren obendrein naturalisiert: die Gene sind schuld, man kann nicht anders. Da erscheint das eigene Begehren als verhängtes Schicksal. Emcke gelingt dagegen eine Wiedereroberung. Ihre Lust steht nicht unter dem Zwang der Rechtfertigung, sie will ausgesprochen und kultiviert werden.
Es gibt in diesem Buch eine klare politische Botschaft: Wenn die Menschen gleich sind und ihre Würde unantastbar ist, „warum müssen wir über Jahrzehnte klären, wer alles als Mensch zählt?“ Doch wohl auch nichtweiße, nichtheterosexuelle, nichtchristliche, nichtmännliche. Zum Glück wird diese Botschaft hier nicht in Leitartikelform gepresst, sondern in immer neuen Variationen durchdacht. Das Ziel wäre nicht die „homogene Heterogenität“ etwa Berlins, sondern ein Konzert, in dem jeder seine Instrumente virtuos zu spielen gelernt hat. 
So aufgeklärt die Gesellschaft
auch ist, mit der Tischordnung
tut sie sich bis heute schwer
Wenn alle Menschen gleich
sind, dann auch nichtweiße
oder nichtheterosexuelle
Carolin Emcke
Wie wir begehren
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 254 Seiten, 19,99 Euro.
Geboren 1967: Die Reporterin und Essayistin Carolin Emcke. Foto: Andreas Labes
„Die Welt teilte sich. Sie spaltete sich auf in Geschlechter, schon bevor die Körper sich dessen bewusst wurden, bevor sie eigentlich recht als Geschlechter entdeckt waren. . . . Es gab getrennte Umkleidekabinen beim Sport.“
Foto: Lothar Schmid / bobsairport.com
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Dieser Essay ist ein wunderbarer und aufrichtiger Text, der es wagt, sich auf die Spurensuche des eigenen Lebens zu begeben Lerke von Saalfeld Südwestrundfunk, SWR 2 (Buchforum) 20120513