Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 7,91 €
  • Gebundenes Buch

Eine einzige Sprache wurde im Paradies gesprochen. Mithridates, der letzte Gegner des universalen römischen Imperiums, sprach dagegen zweiundzwanzig Sprachen und verlor den Kampf gegen Rom. "Paradies" und "Mithridates" sind die beiden Pole des europäischen Denkens der Sprache, deren jahrhundertelangen Streit das vorliegende Buch nachzeichnet und für deren höchst unwahrscheinliche Versöhnung es plädiert. Sprache ist in der Geschichte des europäischen Denkens eher als störend empfunden worden, sei es daß sie als Mittel der Verführung (Eva, Babel) vorgeführt wurde, sei es daß man sie als…mehr

Produktbeschreibung
Eine einzige Sprache wurde im Paradies gesprochen. Mithridates, der letzte Gegner des universalen römischen Imperiums, sprach dagegen zweiundzwanzig Sprachen und verlor den Kampf gegen Rom. "Paradies" und "Mithridates" sind die beiden Pole des europäischen Denkens der Sprache, deren jahrhundertelangen Streit das vorliegende Buch nachzeichnet und für deren höchst unwahrscheinliche Versöhnung es plädiert.
Sprache ist in der Geschichte des europäischen Denkens eher als störend empfunden worden, sei es daß sie als Mittel der Verführung (Eva, Babel) vorgeführt wurde, sei es daß man sie als Hindernis der wahren Erkenntnis ausmachte. Daß Sprache außerdem noch in der Mannigfaltigkeit der vielen verschiedenen Sprache auftrat, konnte daher nur als eine zusätzliche Bestrafung des Menschengeschlechts verstanden werden. Im Grunde hat sich an diesem allgemeinen, von den europäischen Gründungsmythen erhobenen Befund bis heute wenig geändert. Sprachlosigkeit oder zumindest Einsprachigkeit- das Paradies - bleibt die Sehnsucht der westlichen Menschheit. Dabei hatte sich im Verlauf der historischen Entwicklung - ausgehend von der rhetorischen und poetischen Freude an sprachlicher Kreativität - durchaus eine Opposition zu dieser zähneknirschenden Sprachkritik herausgebildet: Seit der Renaissance gibt es eine Liebe zu den Sprachen, und insbesondere seit Leibniz entdeckt Europa die Sprachen als einen wunderbaren Reichtum des menschlichen Geistes. Das Projekt der Sprachwissenschaft verdankt sich eigentlich der Erkundung dieser kostbaren Verschiedenheit des Denkens. An seinem Ende vermählt es sich allerdings wieder mit dem alten Sprachhaß der Philosophie. Der exklusive Blick auf die angeborene biologische Sprachfähigkeit und die politisch-ökonomische Vereinheitlichung der Menschheit läßt der Liebe zur Sprache und den sprachlichen Verschiedenheiten immer weniger Raum im Denken und Fühlen der Menschen.
Autorenporträt
Jürgen Trabant, geb. 1942, ist Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er hatte Gastprofessuren an den Universitäten Stanford, Leipzig, Davis und Paris (EHESS) inne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003

Scheidungswaise Goethe
Muntermacher für abtörnende Literaturwissenschaften: Jürgen Trabant rettet die Dichter / Von Wolfgang Frühwald

Mithridates - wohl nur noch wenigen unter uns aus dem Lateinunterricht bekannt - war jener kriegerische König, der den Römern in der Zeit zwischen etwa 132 und 63 vor Christus erheblich zu schaffen machte. Drei mithridatische Kriege mußten die Römer führen, ehe sie den Eroberer in sein Reich am Schwarzen Meer zurückjagen konnten, wo er vor dem Aufstand seines Sohnes in den Selbstmord entfloh. Dieser Mithridates aber war in den gebildeten (das heißt den erinnerungsfähigen) Epochen des alten Europa vor allem deshalb berühmt, weil er alle zweiundzwanzig Sprachen der von ihm beherrschten Völker gesprochen haben soll. Er hat, anders als die sprachimperialistisch verfahrenden Römer, die Soldaten und die Besiegten nicht in seiner, sondern in deren Sprache angesprochen. So ist Mithridates die ideale Allegorie für die Vielfalt der Sprachen, wie es das Paradies für deren Einheit ist.

Aber nicht "Mithridates und das Paradies" heißt Jürgen Trabants gelehrte und zugleich verständliche Geschichte des Sprachdenkens, sondern "Mithridates im Paradies". Schon der Titel also enthält eine Botschaft, die nicht nur für das Sprachdenken, für Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft, sondern auch für das um seine Identität ringende Europa, sogar für jene Wissenschaften von Bedeutung ist, die ihre (weltweiten) Verständigungsprobleme durch BE (Broken English) oder, wie es hier heißt: durch "Globanglisierung" gelöst zu haben meinen. Den Reichtum der Vielheit in der Einheit zu bewahren, lautet diese Botschaft, Mithridates mit Adam (oder mit Rom) zu versöhnen und nicht nochmals (wie die Ideologen des konsequenten Rationalismus) in die "paradiesische Sprach-Hölle der einzigen, eindeutigen, willkürlichen, effizienten, rationalen Zeichen-Sprache" zurückzufallen.

Derzeit nämlich scheint nur eines der beiden Leibniz-Projekte, das der Suche nach der Universal-Sprache - nicht das Projekt der Verschiedenheit der Sprachen -, für die Wissenschaft überhaupt noch von Interesse. Wieder einmal erleben wir den zumindest seit Dante bekannten "Austritt aus der Geschichte", jetzt freilich "nicht durch die dichterische Sublimierung der Sprache zu einer neuen Grammatica, sondern durch den Eintritt in die Ewige Biologie". In der Tat, was Nichtbiologen der Biologie heute an Lösungs-, sogar an Erlösungskraft zuschreiben, geht, um es drastisch auszudrücken, auf keine Kuhhaut. Die Lösung des alten Problems einer Ursprache - nach Steven Pinkers Motto "differences between individuals are so boring" - ist nur eine dieser Spekulationen. Insgesamt ist unser Problem wohl, daß der Sprache oder besser: den Sprachen mehr und mehr ein wesentlicher Beitrag zur Existenzdeutung des Menschen nicht mehr zugetraut wird. "There can be no doubt", meinte Theodore Savory schon 1967, "that science is in many ways the natural enemy of languages."

Der Rückzug der Sprachen aus der Existenzdeutung des Menschen wirkt sich dabei in einem unumschränkt herrschenden Glauben an die weltaufschließende Bedeutung des Experiments aus, in der deutlichen Theoriemüdigkeit der Naturwissenschaften, in der Vision einer neuen "menschlichen" Spezies, jenseits von Wünschen und Begehren, wie sie etwa in Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" für das Jahr 2029 angekündigt ist. Insofern kommt Trabants Buch zur rechten Zeit. Es ist ein aufregender, historischer Beitrag zu einer höchst aktuellen Problematik: der Frage nach dem Verlust der Sprachen als Anzeichen dafür, daß wir uns der Vorstellung eines "sicheren Wissens" nähern, der Vorstellung eines "von der Wissenschaft geregelten irdischen Paradieses, das die totalitäre Hölle wäre".

Jürgen Trabant hat keine Geschichte der Sprachphilosophie geschrieben, keine der Sprachunterschiede, keine der Sprachwissenschaft, sondern eine Geschichte des Sprachdenkens. Als roter Faden zieht sich der Antagonismus von Philosophie und Sprachwissenschaft durch diese Geschichte, von der Sehnsucht nach dem reinen, sprachlosen Denken im Unterschied zur historischen Beschreibung des Menschen, der nur in der Vielfalt seiner Kulturen und damit seiner Sprachen zu erfassen ist. Auch die Geschichte der modernen Sprachwissenschaft von Herder bis Chomsky und zu den Entwicklungen einer "universalistischen und biologischen" Linguistik ist nur ein Kapitel in der Geschichte des Sprachdenkens von den biblischen Ursprungserzählungen bis zur Gegenwart; nicht gerade das erfreulichste Kapitel.

Denn es berichtet vom vielleicht entwicklungsnotwendigen, aber "traurigen Ende der uralten Ehe von Sprach- und Textwissenschaft", die als Scheidungswaisen nichts Geringeres zurücklassen als die Sprachen und die Texte selbst. Den "okkulten Gegenständen aktueller Sprachwissenschaft", also den Lambda-Operatoren, Theta-Rollen und X-bar-Theorien, entsprechen die aktuellen Entwicklungen in sich auflösenden Literaturwissenschaften, allen voran in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, denen es eben nicht mehr um "Vergil, Horaz, Boccaccio, Petrarca" geht, sondern um "solche aufregenden Sachen wie Dekonstruktion, Systemtheorie, New Historicism, Butlerism". Diese Methodendiskussion nun ist für einen "Sprach"-Wissenschaftler mindestens so okkult, "wie der erwähnte Lambda-Operator" für "Literatur"-Wissenschaftler.

Im übrigen: die Anführungszeichen stehen bei Trabant. Sie bezeichnen eine nahezu selbstmörderische Entfremdung nicht nur zweier - über Sprache, Schrift und Text - einst kritisch vereinter Wissenschaften. Sie bezeichnen vielmehr auch die Entfremdung dieser Wissenschaften von ihren tradierten Gegenständen und damit von ihrer Öffentlichkeit. Auf der Strecke geblieben sind dabei "die Modernisierungsverlierer und Scheidungswaisen: Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch . . . und die Sprachen anderer wilder Völkerstämme der Vergangenheit. Auf der Strecke geblieben sind also Sophokles, Ovid, Goethe, Baudelaire, Cervantes, Dante, Dostojewski und wie sie alle heißen."

Hübsch polemisch und leider wahr! Nicht zufällig wurde dieses Buch vom Historischen Kolleg in München gefördert. Hier liest ein engagierter und belesener (Sprach-)Historiker den (einstigen) Philologien die Leviten und sagt ihnen, weshalb sie Ansehen und Einfluß innerhalb und außerhalb der Universität verloren haben; wie ihre angebliche Internationalität eher dem Einverständnis esoterischer Zirkel als einem wissenschaftlichen Austausch gleicht. Die Philosophie mit ihrem jahrhundertealten Hang, das reine Denken zu finden, also den Menschen in die Sprachlosigkeit zu entführen, nimmt Trabant gleich mit. Doch belegt er seine Polemik - und Polemik macht munter - mit den Großen des Sprachdenkens, mit Platon und Aristoteles, mit Locke, Leibniz, Vico und Wilhelm von Humboldt, mit Wittgenstein und Nietzsche, und weiß sie alle einzuordnen in eine ihm durchaus bewußte verkürzte, aber gerade deshalb so spannende Thesen- und Themenengeschichte des menschlichen Denkens, das sich doch einmal durch Sprache und in Sprache selbst definiert hat.

Wie Trabant den Bogen von Leibniz und Condillac zur Französischen Revolution und Orwell schlägt, verrät fundiertes Wissen und darstellerisches Genie. "Wir aber", heißt es am Ende des Kapitels über das Reich des Menschen und die Sprache, "die modernen Wissens-, Geschäfts- und Spaßeliten machen es natürlich besser (als die Revolutionäre am Ende des achtzehnten Jahrhunderts). Das Licht der Wahrheit und der Effizienz wird in der Sprache des Neuen Paradieses (das heißt des Königreiches des Menschen, das auf Wissenschaften gegründet ist) strahlen, daß uns Sehen - und Hören - vergeht." Jürgen Trabants "Kleine Geschichte des Sprachdenkens" ist ein auf elegante Weise widerständiges Buch. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser.

Jürgen Trabant: "Mithridates im Paradies". Kleine Geschichte des Sprachdenkens. C. H. Beck Verlag, München 2003. 348 S., geb., 26,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Unsinn redet deutsch
Jürgen Trabant besingt die wunderbare Vielfalt der Sprachen
Im Paradies, das weiß auch, wer noch nicht da war, gibt es keinen Streit, kein Wortgefecht, keine Diskussion. Es gibt nur das Gute. Darüber braucht kein Wort verloren zu werden. Man versteht sich auch so. Paradiesische Zustände, das heißt also Sprachlosigkeit, oder besser sollten wir vielleicht sagen: Befreiung von der Sprache.
Mithridates, von dem in dem hier vorzustellenden Buch die Rede ist, litt keineswegs unter Sprachlosigkeit, und nach allem, was bekannt ist, hat sein Weg ihn auch nichts ins Paradies geführt. Dieser König vom Schwarzen Meer war kein Heiliger, obschon er als Schutzheiliger der Vielsprachigkeit in Anspruch genommen wird. 22 Sprachen soll er fließend beherrscht haben, oder waren es 25? Wie dem auch sei, er war der letzte ernsthafte Widersacher des römischen Reiches und des gleichmacherischen Vormarschs der lateinischen Einsprachigkeit. So kann man ihn jedenfalls darstellen.
Für Jürgen Trabant entfaltet sich das europäische Denken über die Sprache zwischen diesen beiden Polen, des ohne Sprache sich verständigenden Lebens im Paradies auf der einen Seite und dem trotzigen Beharren auf der Vielsprachigkeit hienieden auf der anderen. Sein Buch ist eine selektive Geschichte diesesDenkens in der Moderne, die er mit Dante beginnen lässt, nicht ohne allerdings auf die Antike zurückzugreifen, insbesondere auf Plato und in die Bibel. Plato schreibt er die kognitive Funktion der Sprache zu, der Bibel die kommunikative. Mit ihr fing alles Übel an.
Evas Schwatzhaftigkeit machte das Leben zwar interessanter, führte aber auch zur Ausweisung. In Babel kam es dann noch schlimmer: Die Menschheit wurde mit Mehrsprachigkeit gestraft. Diese Überzeugung, dass die vielen Sprachen keine Gnade sondern ein Fluch seien, verfestigte sich im europäischen Denken zu etwas, was Trabant „Sprachhass” nennt. Dieser ist so gar nicht seine Sache,was bei einem Sprachwissenschaftler nicht Wunder nimmt.
Der Autor nennt sein Buch ein Pamphlet, und zu Recht. Denn es ist alles andere als eine nüchterne Rekapitulation der europäischen Sprachphilosophie. Gelehrt, oft originell zeichnet er die wichtigsten Ideen über die Sprache nach, erklärt, wie sie zwischen dem Ideal der Universalsprache und der Aufdeckung ihrer Gesetze einerseits und der Vorstellung unüberwindlicher Grenzen der Einzelsprachen andererseits schwankten, ohne den Ausgleich, nämlich den Mithridates im Paradies zu finden.
Trabant ist Partei und schlägt sich rückhaltlos auf die Seite des polyglotten Königs. Seine Darstellung ist tendenziös, was nicht unbedingt abwertend gemeint ist, obwohl es, wenn wir uns dem zeitgenössischen Sprachdenken nähern, etwas penetrant wird. Denn Trabant veranstaltet wiederholt Schaukämpfe, die nur seine eigenen sind und dazu dienen, Standpunkte pointiert herauszuarbeiten. Zum Beispiel wenn er den Logiker Gottlob Frege oder auch Ludwig Wittgenstein gegen den Sprachforscher Wilhelm von Humboldt antreten lässt.
Humboldt ist für Trabant das Maß aller Dinge, denn sein Werk ist durchdrungen von der Liebe zu den Sprachen in ihrer ganzen Vielfalt, während Wittgenstein wie etwa John Locke und andere Philosophen, in deren Tradition er steht, primär an Sprachkritik interessiert waren. Sprache spiele zwar eine zentrale Rolle in seiner Philosophie, lernen wir, aber mehr als ein zu überwindendes Ärgernis, das dem Denken im Weg steht, während Humboldt die Mannigfaltigkeit der menschlichen Sprachen zelebriert.
Macht reden denken?
Immer wieder spricht Trabant von „der wunderbaren Vielfalt des menschlichen Geistes in seinen Sprachen”. Diese Formulierung enthält sein Glaubensbekenntnis. Auch hier bezieht er in einer wichtigen sprachphilosophischen und inzwischen auch sprachpsychologischen Frage Stellung, nämlich der nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken. Ist die Sprache nur Ausdruck des vor ihr gedachten Gedankens oder ist sie an seiner Ausformung beteiligt? Anders als die Psycholinguisten, die dieser Frage experimentell auf den Grund zu kommen trachten, kennt Trabant die Antwort: „Es besteht kein Zweifel daran, dass die Sprachen das Denken vorstrukturieren.” Etwas beunruhigend an dieser Feststellung ist nur, dass er selbst von den Beispielen, die er zu ihrer Untermauerung anführt (darunter französische Lautgedichte und tiefe Sätze von Heidegger) sagt, sie nähmen sich wie Unsinn aus.
Auf diesen Unsinn möchte Trabant nicht verzichten, denn „man kann es in keiner anderen Sprache so sagen”. Grund genug, die Vielfalt der Sprachen zu preisen. Leider deutet nur alles darauf hin, dass Sinn und Unsinn sich künftig in minder großer Vielfalt präsentieren werden, was ihn sehr verdrießt. Wir können daraus schließen: Erstens, dass er erwartet, die sprachliche Vereinheitlichung der Welt noch zu erleben, hinsichtlich seiner Lebenserwartung also sehr optimistisch ist. Zweitens, dass er sich in der sich globalisierenden Welt gar nicht wohl fühlt. Schuld daran ist sowohl die (schlimmer als einst in Rom) anscheinend ungebremst expandierende Weltsprache als auch die nicht zufällig damit koinzidierende beherrschende Rolle der mit dem Namen Noam Chomsky verbundenen, auf Universalien zielenden Grammatikforschung. Beides ist ihm zuwider.
Hier spricht wiederum nicht der neutrale Chronist. Auf und zwischen den Zeilen artikuliert sich vielmehr ein zähneknirschender deutscher romantischer Romanist, der den guten alten Zeiten, als das „deutsche Modell” in der Sprachwissenschaft eine Stellung einnahm wie heute die Chomsky-Schule, nur in halber Selbstironie und dabei in vollem Ernst mehr als eine Träne nachweint. Weder die deutsche Wissenschaft noch die Romanistik sind mehr, was sie einmal waren, und, was die Sache nicht besser macht: die Mehrsprachigkeit wird allen gegenteiligen Lippenbekenntnissen zum Trotz nach wie vor mindestens so sehr als Belastung wie als Bereicherung empfunden.
Wie sehr unseren Autor der Bedeutungsverlust des Deutschen und der deutschen Wissenschaft in der Seele kränkt, wird deutlich, wenn er den Aufstieg des Englischen zur universalen Sprache der Wissenschaft mit der Rückkehr zur Exklusivität des mittelalterlichen Latein gleichsetzt und pathetisch ausruft: „Da kann man schon einmal ganz entspannt sein: no Greek, no Latin, no French, no (Nazi-) German.”
Trabant vermischt hier einiges miteinander. Die recht unmotivierte, lediglich von seiner Wut zeugende Parenthese in dem Satz insinuiert, dass die Nazivergangenheit ein Vorwand sei, das Deutsche zu ignorieren, oder dass allein die Nazis Schuld am Niedergang des Deutschen als Wissenschaftssprache waren. Das trifft keineswegs zu, denn dieser Prozess hatte lange vor ihrer Machtübernahme eingesetzt. Hinzu kommt, dass die mittelalterliche Latinität mit der heutigen Anglizität deshalb nicht zu vergleichen ist, weil letztere viel breitere Schichten erfasst und dadurch zum ersten Mal in der Weltgeschichte so etwas wie eine demokratische Weltsprache entstehen lässt. Eine Bedrohung der zukünftigen geistigen Entwicklung des Abendlands kann darin nur erkennen, wer wie Trabants Held Humboldt davon überzeugt ist, dass „die Verschiedenheit der Sprachen eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst ist”. Das aber ist mehr eine Sache des Glaubens als der Wissenschaft.
Insofern hat diese kleine Geschichte des Sprachdenkens tatsächlich viel von einem Pamphlet, einem lehrreichen und dank seiner dezidierten Vorlieben und Meinungen auch unterhaltsamen Pamphlet. Trabant scheut vor gewagten Formulierungen nicht zurück, etwa wenn er von „Wittgensteins Sprengung des Wahrsprech-Gefängnisses, in dem sich die Philosophie befand”, spricht. Solchen Wortorgien gibt er sich gern hin. Kein Zweifel, dass er Leser finden wird, die wie er stolz darauf sind, dass man das ohne eine gewisse Mühe in keiner anderen Sprache so sagen kann.
FLORIAN COULMAS
JÜRGEN TRABANT: Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. C. H.Beck, München 2003. 348 Seiten, 26,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Als "ein auf elegante Weise widerständiges Buch" würdigt Rezensent Wolfgang Frühwald die "Kleine Geschichte des Sprachdenkens", die Jürgen Trabant vorgelegt hat. Frühwald erblickt darin vor allem ein Plädoyer für die Bewahrung des Reichtums der Vielheit der Sprachen und gegen einen Rückfall in die "paradiesische Sprach-Hölle der einzigen, eindeutigen, willkürlichen, effizienten, rationalen Zeichen-Sprache" (Trabant). Die Geschichte der modernen Sprachwissenschaft von Herder bis Chomsky und der Entwicklung einer "universalistischen und biologischen Linguistik" sei nur ein Kapitel in Trabants Geschichte des Sprachdenkens von den biblischen Ursprüngen bis zur Gegenwart. Für Frühwald "nicht gerade das erfreulichste Kapitel", schließlich berichte Trabant hier vom "traurigen Ende der uralten Ehe von Sprach- und Textwissenschaft" (Trabant), deren Folge nicht nur die Entfremdung zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, sondern auch die Entfremdung dieser Wissenschaften von ihren Gegenständen sei. Insgesamt zeichnet sich Trabants Buch nach Ansicht Frühwalds durch "fundiertes Wissen" und "darstellerisches Genie" aus. Ein Buch, dem der Rezensent "viele aufmerksame Leser" wünscht.

© Perlentaucher Medien GmbH"