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'Einer der wahrhaft verwegensten und spannendsten Autoren unserer Zeit.' -- Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der neue Burnside - einzigartig, verstörend poetisch. Nach "Glister" sieht man die Welt mit anderen Augen.
John Burnside hat gleich mit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman Leser und Kritiker fasziniert. Jetzt kommt "Glister" - ein schockierend ehrliches Buch über Vereinsamung und moralische Verwahrlosung.
Erst verschwindet ein Junge spurlos, dann weitere. Doch niemand scheint beunruhigt. Schon lange kümmern sich die Erwachsenen nicht mehr um ihre Kinder, zu sehr sind sie
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Produktbeschreibung
'Einer der wahrhaft verwegensten und spannendsten Autoren unserer Zeit.' -- Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der neue Burnside - einzigartig, verstörend poetisch. Nach "Glister" sieht man die Welt mit anderen Augen.

John Burnside hat gleich mit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman Leser und Kritiker fasziniert. Jetzt kommt "Glister" - ein schockierend ehrliches Buch über Vereinsamung und moralische Verwahrlosung.

Erst verschwindet ein Junge spurlos, dann weitere. Doch niemand scheint beunruhigt. Schon lange kümmern sich die Erwachsenen nicht mehr um ihre Kinder, zu sehr sind sie mit sich und ihren Sorgen beschäftigt. Einst lebten sie in einer blühenden Stadt - doch dann siegten Egoismus und grenzenlose Gier. Nun ist alles vergiftet und ohne Hoffnung. Ist es da nicht verständlich, dass die Jungen, die noch eine Zukunft sehen, einfach abhauen? Man will diese Version glauben und geht zur Tagesordnung über. Nur der Polizist Morrison hat etwas Schreckliches gesehen - und schweigt. Denn er hat seine Seele längst verkauft. Doch die Kinder der Stadt sind ruhelos. Der 15-jährige Leonard weigert sich, seinen verschwundenen Freund Liam verloren zu geben. Er macht sich auf die Suche nach der Wahrheit.

Burnside gelingt mit "Glister" etwas Unvergleichliches: Indem er eine vor Spannung vibrierende Geschichte erzählt, hält er einer innerlich erkalteten Gesellschaft den Spiegel vor und schenkt ihr gleichzeitig mit Leonard die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dieser Roman ist unwiderstehlich, anrührend, verstörend poetisch - und ganz ohne Beispiel.
Autorenporträt
Burnside, John
John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Sein Prosawerk erscheint auf Deutsch seit vielen Jahren im Knaus Verlag.

Robben, Bernhard
Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009

Das Evangelium nach St. John

Im Stromkreis der Verdammnis: In seinem ungeheuerlichen Roman "Glister" erzählt der schottische Schriftsteller John Burnside von Leben und Tod in den Ruinen der Zivilisation, von Schuld und Erlösung.

Graue Häuser, verseuchte Wälder, kranke, wahnsinnige oder einfach apathische Menschen. Innertown ist ein biblischer Ort, auch wenn Gott ihn offenbar schon lange vergessen hat. Sein geheimes Zentrum liegt außerhalb der Stadtgrenzen. Draußen auf der Landzunge stehen die verlassenen Hallen einer ehemaligen Chemiefabrik.

Über viele Jahre hinweg war die schottische Kleinstadt von der Fabrik abhängig. Als sie eines Tages zumachte, hinterließ sie nicht nur Arbeitslosigkeit und eine riesige Industriebrache. "Urplötzlich traten unerklärliche Häufungen seltener Krebserkrankungen auf. Kinder litten unter grässlichen Gebrechen und entwickelten seltsame Verhaltensstörungen. Außerdem verzeichnete man eine unerklärliche Zunahme an Depressionen, eine wahre Blütezeit dessen also, was in alter Zeit der reinste Irrsinn genannt worden wäre." Nicht nur die Menschen leiden, sondern auch die Natur: Innertown ist gesäumt von Alleen toter Bäume, Fischer berichten von mutierter Meeresfauna, und durch die letzten Wälder kreuchen bizarre Tiere mit übergroßen Köpfen und verrenkten Leibern.

Als die Menschen endlich begriffen, was vor sich ging, war es in vielen Fällen schon zu spät. Nur wenige haben die Kraft, wegzugehen: "Die Fabrik war ihr Leben, ihre beste Hoffnung gewesen." So lange haben sie sich eingeredet, dass die Anlage dem Ort, dem sie einst Arbeit und bescheidenen Wohlstand beschert hat, nicht mit vollem Wissen Schaden zufügen würde, dass sie alle Beweise des Gegenteils wie die Strafe einer höheren Macht erdulden: "Es war ein Glaubensakt, vollkommen pervers, doch deshalb, hofften sie, umso mächtiger."

Als erst einer, dann immer mehr Jungen der Stadt spurlos verschwinden, heißt es, sie seien wohl auf und davon, irgendwohin, wo es besser ist als in Innertown. Sie könnten also überallhin gegangen sein. Doch nicht jeder glaubt an diese harmlose Erklärung für die unheimlichen Abwesenheiten.

"Glister" heißt im Englischen so viel wie glitzern, funkeln, gleißen. Das tut dieser Roman - aus einer allumfassenden Finsternis heraus. Der Autor, der uns sehenden Auges in diese Düsternis lockt, heißt John Burnside und wurde 1955 im schottischen Dunfermline geboren. In Großbritannien ein gefeierter Dichter und für seine luzide Sprache so bewunderter wie wegen seiner krassen Themen gefürchteter Romancier, ist Burnside bei uns noch nahezu unbekannt. "Glister" ist nach der im vergangenen Jahr erschienenen "Spur des Teufels" erst sein zweiter Roman in deutscher Übersetzung. Tatsächlich aber ist "Glister" bereits John Burnsides siebter Roman. Sein ungeheuerliches Werk wird flankiert von bislang dreizehn Gedichtsammlungen und den markerschütternden Kindheitserinnerungen "A Lie About My Father", die 2001 in Großbritannien ein Bestseller waren und neben denen sich der Ire Frank McCourt mit "Die Asche meiner Mutter" wie ein Fliegengewicht ausnimmt.

Nach Wanderjahren in England und den Vereinigten Staaten und beruflichen Zwischenstationen als Landschaftsgärtner, Computerprogrammierer und Lehrer lebt John Burnside seit Mitte der neunziger Jahre wieder in County Fife, seiner Heimat. Als Lyriker hatte er sich da bereits einen Namen gemacht, doch erst mit der Rückkehr zu den Wurzeln begann er, Prosa zu schreiben.

Seit 1997 sein Prosadebüt "The Dumb House" erschien, die Geschichte eines Psychopathen, der auf der Suche nach dem Sitz der Seele seine Kinder grauenerregenden Experimenten unterzieht, mischt sich in die Bewunderung für Burnsides sprachliche Meisterschaft oft ein Unbehagen über seine Themen. Denn wo seine Gedichte philosophisch grundierte Epiphanien vom Aufgehen in der Natur sind, in denen Engel ebenso auftauchen können wie Geister der Vergangenheit, beschwören seine Romane die Extreme herauf. Da geht es dann nicht allein um Tod, sondern um Morde und Serienkiller, nicht allein um Besessenheit, sondern gleich um Psychopathen, nicht bloß um Abhängigkeit, sondern um schwersten Alkoholismus, mit dem sich überdies die bei männlichen Alkoholikern so häufig auftretende Verbindung von Gewalt und Sentimentalität illustrieren lässt.

Das darf man nicht missverstehen: Dieser Autor schwelgt keine Sekunde lang in Monstrositäten, im Gegenteil. John Burnside ist kein Zyniker. Vielmehr verfügt er über eine feinstmaschige, zutiefst moralische Aufmerksamkeit. Darum handeln seine Bücher neben dem Unerträglichen in der Welt immer auch von den hochempfindlichen Bindungen: der zur Natur, zur Heimat, jenen zwischen Männern und Frauen, Vätern und Söhnen. Die Komplexitäten mittlerer Zustände interessieren John Burnside nicht, der übrigens ein überaus freundlicher, bescheidener und höflicher Mensch ist. Sein Thema ist Schuld - und Vergebung. Kein Schriftsteller der Gegenwart sucht so intensiv und umfassend danach wie er.

Sein Kompass ist seine Moral, sein Weg die Sprache. Sie ist das größte Wunder dieses wundersamen Autors - und dank Bernhard Robbens Feingespür ist dies auch in der Übersetzung noch spürbar. John Burnside schreibt mit der natürlichen Autorität desjenigen, dem nicht nur ein scharfer Intellekt, sondern auch Klarheit zu Gebote steht. Aber er hütet sich, das Urteil vorwegzunehmen. Das wäre eine Anmaßung, die dem Menschen nicht zusteht. Er beschreibt, doch er wertet nicht. Dinge geschehen - es ist an jedem Einzelnen, sich seinen Reim darauf zu machen. Leonard, der knapp fünfzehnjährige Ich-Erzähler von "Glister", drückt es einmal so aus: "Ich glaube, dass die Geschichte und nicht der Erzähler unzuverlässig ist - außerdem glaube ich nicht, dass es überhaupt so etwas wie den einen Autor gibt. Es gibt nur eine Geschichte, die immer weitergeht. Ich glaube, jeder, der mag, kann das Erzählen übernehmen, doch hat das nicht den geringsten Einfluss auf den Verlauf der Geschichte."

Leonard ist intelligent, und er ist misstrauisch. Er glaubt an keinen der Gründe, die im allgemeinen Rätselraten um die verlorenen Jungen von Innertown genannt werden. Der erste Junge, Mark Wilkinson, ist an Halloween verschwunden, dem Tag, an dem die Geister der Toten mit den Lebenden Kontakt aufnehmen, wenn man sie lässt - ein für das Verständnis von John Burnsides Büchern überaus bedeutsamer Tag. Marks Freunde erzählen, es sei eine Mutprobe gewesen. Sie hatten den Teufel heraufbeschwören und ihm einmal in die Augen sehen wollen. Deswegen sei Mark in den vergifteten Wald gegangen - und nicht wiedergekommen. Morrison, der einzige Polizist des Ortes, geht der Sache nach - und wird fortan seines Lebens nicht mehr froh. Über das, was er im vergifteten Wald findet, kann er mit niemandem sprechen.

Weitere Jungen verschwinden, eines Tages auch Liam, Leonards bester Freund. Leonard ist sich sicher, dass Liam nicht weggelaufen ist, denn eigentlich wollten sie zusammen abhauen. "Er war gänzlich aus dieser Welt verschwunden. Verloren gegangen. Das wusste ich, weil ich es spüren konnte." Das Einzige, was ihn jetzt noch in Innertown hält, ist sein Vater, der an gebrochenem Herzen und Schlimmerem leidet, seit die Mutter die Familie vor einigen Jahren verlassen hat.

Wenn Leonard nicht in der Bibliothek sitzt und liest, was die Regale hergeben, am liebsten Dickens, Conrad und Proust - mit Trollope kann er nicht viel anfangen und findet, irgendjemand hätte Hemingway mal ein Wörterbuch kaufen sollen -, schläft er mit Elspeth. Sex ist für beide ein Zeitvertreib, keine Übung in zwischenmenschlicher Nähe, sondern das Lebendigste, was man an einem toten Ort wie Innertown machen kann. Am liebsten aber verbringt Leonard seine Zeit allein auf dem Gelände der Chemiefabrik. Er liebt das Gefühl, "Teil der Stille zu sein, außerhalb der Zeit, und - was noch schwerer in Worte zu fassen und jemandem anderen unmöglich zu vermitteln ist -, ein Gefühl der Ehrfurcht für diesen Ort", der "alles an Kirche ist, was wir haben".

Immer mehr wird die Industrieruine vom Schauplatz zum eigentlichen Protagonisten des Romans. Seinen Titel verdankt dieser einem dort installierten, bedrohlichen Apparat der Marke G. Lister, der am Ende eine entscheidende Rolle als Portal in eine andere Welt spielen wird. Auf dem Fabrikgelände, wohin sich kaum jemand verirrt, trifft Leonard auf eine Gang von Jugendlichen, die sich ihre Zeit mit der Jagd auf Schwächere, seien es deformierte tierische Kreaturen oder auch einmal ein Mensch, vertreiben. Als Leonard sich ihnen anschließt, hat der Leser allen Grund, um den gewitzten, neugierigen Jungen zu fürchten, dessen Art, etwas zu erzählen, weit mehr über ihn verrät als das, was er erzählt. Umgeben von Tod und Fäulnis, ist Leonard Wilson entschlossen zu leben.

Die zwei Teile des Romans, überschrieben "Das Buch Hiob" und "Die Feuerpredigt", geben zentrale Hinweise für das Verständnis dieses von religiösen Motiven getragenen Romans, der nichts weniger verhandelt als die Menschheitsfrage nach dem Sinn des Leidens. "Die Feuerpredigt" ist eine grandiose, in Prosa gefasste Antwort des Lyrikers Burnside auf den dritten Teil ("Die Brandparole") von T. S. Eliots Langgedicht "The Waste Land", in dem die Predigt Buddhas über die Chance, das Leid zu transzendieren und einen höheren, reinen Zustand zu erreichen, verhandelt wird.

Die Figuren in "Glister" hadern nicht mit Gott, ja sie hadern nicht einmal mit jenen, die ihnen die Chemiefabrik vor die Nase gesetzt haben. Wie Hiob die Prüfungen Gottes nehmen sie das Leid an, ohne einen Sinn darin zu suchen oder auf Gerechtigkeit zu hoffen. Einzig Leonard, und mit ihm der Leser, hofft auf Erlösung, auf einen Akt der Gnade für Innertown und seine Bewohner. Denn Schuld hat hier jeder auf sich geladen, durch "die Sünde der Unterlassung, die Sünde, unseren Blick abzuwenden und nicht zu sehen, was direkt vor unserer Nase geschieht. Die Sünde, nicht wissen zu wollen; die Sünde, alles zu wissen und nichts dagegen zu tun. Die Sünde, etwas auf Papier zu wissen, es aber nicht ins Herz vorlassen zu wollen."

John Burnside weiß, dass es nicht in seiner Macht liegt, Gnade zu gewähren. Der Barmherzige kann die Leiden nicht verhindern, aber er kann versuchen, sie zu stillen. Weil Burnside ein Autor voller Sorge ist, um die Seelen der Lebenden wie der Toten, die Umwelt und die Zukunft, zeigt er auf die Wunden, deren Sinn wir zwar nicht verstehen, doch deren Schmerz wir fühlen. Er schafft Figuren, die das Leiden auf sich nehmen, für uns Opfer bringen und um Vergebung suchen. Denn alles Erzählen dient dazu, denen zu vergeben, die in den Geschichten vorkommen - "auch mir selbst".

Das ist das Evangelium nach John Burnside. Es spricht nicht von Erlösung, sondern von Gnade und Vergebung. Und es verheißt die Möglichkeit des Übergangs in einen anderen Zustand, der Verwandlung durch die Literatur. Denn "alles wird, und dieses Werden ist die einzige Geschichte, die nie zu Ende geht". Sie führt an einen Ort mit vielen Namen. "Himmel, Hölle, Tir Na Nog oder Traumzeit. Dabei wissen alle, es ist weder dieses noch jenes, sondern nur der Ort, an dem die Geschichten beginnen und enden." Eingebettet in diesen ewigen Kreislauf, kann der Leser nichts Besseres tun, als am Ende sofort von neuem mit der Lektüre dieses ungeheuerlichen und tiefgründigen Romans zu beginnen.

John Burnside: "Glister". Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Knaus Verlag, München 2009. 285 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2010

Mächtiges Gleißen
John Burnside erzählt vom Glister. Aber was nur ist das?
„Glister”, sagt das Wörterbuch, ist archaisches Englisch für „funkeln, glänzen, gleißen, glitzern”. Was ist aber ein „Glister”, und was hat er seinerseits mit der aufgegebenen Chemiefabrik und dem übrigen Elend von Innertown zu tun? Und wie hängt der Glister mit einem gewissen G. Lister zusammen, dessen Firma vor vielen Jahren einmal gute Geschäfte am traurigen Chemiestandort machte? „Glister”, der düster glühende Roman des Schotten John Burnside, gibt Rätsel in Fülle auf, und nicht allen winkt eine Auflösung.
Der Glister jedenfalls, ein Apparat wie aus Kafkas „Strafkolonie”, ein „Hochofen” vielleicht oder eine „Gaskammer”, steht ganz am Ende des Romans im Innern der stillgelegten, aber immer noch böse strahlenden Chemiefabrik im verseuchten Ödland vor Innertown und gleißt. „In spätestens vierundzwanzig Stunden würde dieser Apparat bereit sein (. . .) – und wir, oder ich (. . .) irgendjemand jedenfalls wird durch die rostige alte Tür gehen und – etwas – betreten. Eine andere Welt, eine andere Zeit.”
Meisterschaft im Bizarren
Der das erzählt, der fünfzehnjährige Leonard, hat sich im Prolog des Romans aus dem Jenseits gemeldet – in dem man von der Welt nur noch die Möwen der schottischen Nordseeküste vernimmt und sonst nichts mehr. Es gab ein Leben, erinnert er sich dunkel, „bevor ich durch den Glister ging”. Er habe das Leben für die eine und den Tod für eine andere Sache gehalten, aber nur, „weil ich noch nichts über den Glister wusste”. Was immer der „Glister” ist und als welch „heiliger Ort” er einigen Romanfiguren, jedenfalls unter Zuhilfenahme von halluzinogenem Tee, erscheinen mag: Der Glister nimmt, anders als Kafkas Instrumente, nicht wirklich Gestalt an, er bleibt eine Schimäre – und mit ihm womöglich der ganze Roman.
Diesseits des Glisters lässt sich Folgendes konstatieren: in Innertown an der schottischen Nordsee hat die von skrupellosen Geschäftemachern aus Outertown betriebene Chemieindustrie die Seelen und Körper der Einheimischen bis ins Innerste versehrt. Außerdem sind nacheinander fünf halbwüchsige Jungen aus dem Ort verschwunden und nie wieder gesehen worden, außer von Morrison. Dieser, nur scheinbar der Ortspolizist, tatsächlich aber ein Handlanger des führenden Outertown-Geschäftemachers, hat den ersten der Jungen erhängt und furchtbar zugerichtet im vergifteten Wald nahe der alten Chemiefabrik gefunden, den Fund aber nie gemeldet oder gar polizeilich bearbeitet. Seither leistet Morrison stille Reue, indem er irgendwo im Ödland einen Gedenkgarten für die Verschollenen pflegt.
John Burnside ist ein Könner in der Schilderung all des Unfasslichen, Grauenhaften und Bizarren, das sich in und um Innertown zuträgt. Trotzdem ist nie klar, auf welches seiner starken Bilder der Roman seine Handlung gründen will. Erzählt „Glister” von ökologischen und gesundheitlichen Problemen in bestimmten, industriell devastierten Landstrichen Schottlands? Übt er Kritik an windigen Projektentwicklern, die auf verseuchten Industriebrachen sogenanntes Neuland erschließen wollen? Natürlich nicht. Die Realität, nennen wir sie „Outertown”, spielt in die wahre Handlung, nennen wir sie „Innertown”, nur sporadisch und fast lächerlich beiläufig hinein. Der böse Kapitalist, der doch der Drahtzieher des in Innertown bis ins Groteske akkumulierten Bösen sein soll, wird nach einem Kurzauftritt gleich wieder aus dem Roman verabschiedet. Alles Grauen, alles Unheimliche kommt nur zum Schein (oder vielleicht nur zur Ablenkung?) aus Outertown. Tatsächlich – man fühlt sich an David Lynchs Filmtitel „Inland Empire” erinnert – wohnt es im Inneren der armen Seelen von Innertown. Vielleicht ist ja der „Glister” die Apparatur im innersten Bezirk des verbotenen Geländes, ein Wort dafür.
Manches in „Glister” wirkt indes statt unheimlich nur haarsträubend disparat. So lässt Burnside den größeren Teil des Romans von Leonard erzählen, dem Fünfzehnjährigen, der am Ende von der Transzendenzmaschine „Glister” ins Jenseits befördert wird. Leonard ist in Innertown offenbar der Einzige, der sich mit dem Verschwinden der Jungen nicht zufriedengeben will. Damit aber der Kontrast zwischen ihm, dem einzigen richtigen Menschen, und all den Scheintoten von Innertown auch deutlich genug wird, hat Burnside den armen Knaben zum Übermenschen stilisiert. Nicht nur hat er ihm ein für einen Fünfzehnjährigen wahrhaft sensationelles Sexualleben zugedacht (die Innertown-Mädchen stehen geradezu Schlange, um ihm ausgefallene Liebesdienste anzubieten), er präsentiert ihn auch als den größten fünfzehnjährigen Bücher- und Film-Nerd aller Zeiten, der auf beinahe jeder Seite ein geeignetes Zitat fallen lässt, obendrein als einen Naturphilosophen sui generis, der im Walde die Anmutung des All-Einen vernimmt, schließlich als versierten Totschläger, der sich mit einer Bande weniger hoch- stehender Altersgenossen an der „Bestrafung” eines von ihnen für tatverdächtig erklärten Päderasten beteiligt.
Burnsides Roman ist wirklich guter Gruselstoff, aber wir fühlen uns außerstande, die moralischen Phantasien auszuleben, die uns der Klappentext empfiehlt („mit jeder Seite glauben wir mehr an diesen Jungen, sorgen uns um ihn, folgen seinem Blick auf die Welt”). Nur ein Leonard kann uns jetzt retten, scheint uns demnach der Roman zuzurufen, nur ein frühreifes, oberschlaues Kind kann diese in kapitalistischem und ökologischem Frevel böse erstarrte Welt erweichen . . . Ach was. Wir glauben John Burnside kein Wort, aber immerhin: er hat uns mit seinem schottischen Schauermärchen ganz schön erschreckt.
CHRISTOPH BARTMANN
JOHN BURNSIDE: Glister. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Albrecht Knaus Verlag, München 2009. 288 Seiten, 19, 95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Kaum am Ende angekommen, möchte Rezensentin Felicitas von Lovenberg das Buch gleich noch einmal lesen. Derart stark spürt sie das Evangelium dieses Autors, Verwandlung, Gnade durch den Text. Die Geschichte erscheint Lovenberg von ganz und gar einzigartiger Tiefe und auch Finsternis. Leuchtend aber sei in diesem zweiten auf Deutsch erhältlichen Buch des sehr produktiven Autors John Burnside die laut Lovenberg mit viel Gespür übersetzte Sprache. Es scheint, als trüge sie funkelnd den Leser ans Licht. "Ungeheuerlich" ist ein Wort, das die Rezensentin dafür mehr als einmal gebraucht. Auch, weil es um Gewalt geht, um Mord und Psychopathologie in einer schottischen Kleinstadt mit einem Chemiewerk und einem Giftwald als dunkle Zentren. Dass Burnside sich seinem Stoff ohne Zynismus, dafür mit um so größerer moralischer Aufmerksamkeit zuwendet, ist für Lovenberg jedoch die eigentliche Nachricht. Und dass diese "von religiösen Motiven getragene" Prosa sich als Antwort lesen lässt auf den dritten Teil von T. S. Eliots "The Waste Land". So viel Sorge um die verdammten Seelen war nie, meint die Rezensentin, die diesen Roman im Aufmacher der Buchmessenbeilage bespricht.

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»Burnside ist mit 'Glister' ein ungewöhnliches Buch gelungen. Ein verstörend guter Roman.« Lesart