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Eng an den historischen Fakten entlang erleben wir die politischen Geschehnisse im England um 1530 aus der Perspektive Thomas Cromwells. Als Sohn eines Hufschmieds und Schlägers gelang ihm das beinahe Unmögliche: Thomas Cromwell arbeitete sich zu einem der mächtigsten Berater von König Henry VIII. empor. Die historischen Figuren schildert Hilary Mantel in knappen Szenen und schnellen, komplexen Dialogen. Da fällt es oft schwer, mitzukommen. Denn Sprecher Frank Stöckle grenzt die Figuren nicht immer klar voneinander ab. Das Figurenregister im Booklet macht es etwas einfacher, sich im Gewirr der über 70 auftretenden Personen zurechtzufinden. Um alles mitzubekommen, legt man das Bügeleisen also besser zur Seite oder steuert mit dem Auto den nächsten Rastplatz an.
© BÜCHERmagazin, Ann-Kathrin Maar (akm)
In diesem Bücherherbst ist das Rennen noch offen. Elf Romane, auf die man sich schon jetzt freuen kann - und ein Tagebuch.
Wir leben im Zeitalter der Selbstversuche: Geht es auch mal ohne Handy, Internet, Auto, Kaffee, Alkohol, High Heels? Während die große Urlaubsfrage für viele zu sein scheint: Laptop einpacken - oder mutiger Entzug vom Netz?, kommt niemand ernstlich auf die Idee, ohne Bücher in die Ferien zu fahren. Im Gegensatz zu fast allem anderen Zeitvertreib gibt es beim Lesen von Literatur kein Zuviel. Nur: was?
Eines schönen Herbstmorgens, als sie auf der Suche nach einem Buch in ihren gut gefüllten Regalen über Dutzende von Bänden stolperte, die sie schon lange nicht mehr abgestaubt, geschweige denn gelesen hatte oder die sie, wie ihr da bewusst wurde, eigentlich gern ein zweites Mal lesen würde, beschloss die englische Schriftstellerin Susan Hill, ein Jahr lang keine neuen Bücher mehr zu kaufen, sondern ausschließlich die zu lesen, die sie schon besaß. Ihr sehr persönlicher, ausschweifender Erfahrungsbericht vom Wiederlesen alter Lieblinge und Neuentdecken mancher Klassiker, "Howards End is on the Landing" (Profile Books, 2009), mag Buchhändlern, Verlegern und Agenten als Häresie erscheinen, macht aber Lust, ihrem Beispiel zu folgen - wenngleich er die Wirkung einer Einkaufsliste hat: Das möchte ich auch alles lesen.
Aber der neue Herbst steht vor der Tür. Der letzte war eine an überragenden Werken - man nehme nur Herta Müller, David Foster Wallace, Roberto Bolaño - außergewöhnlich reiche Saison (F.A.Z. vom 17. Juli 2009). Was solche Instant-Klassiker-Dichte angeht, kann der neue Bücherherbst zwar nicht mithalten. Wenn aber die Titel fehlen, an denen man nicht vorbeikommt, lassen sich umso mehr Entdeckungen machen. Zum Beispiel dürfen wir uns schon einmal auf zwölf aparte neue Erscheinungen freuen.
Auf die Gipfel deutscher Erzählkunst spaziert Martin Mosebach mit unnachahmlicher Eleganz und Leichtigkeit. In seinem Roman "Was davor geschah" (Hanser, 16. August) erzählt er davon, dass mitunter zwei Paare auseinandergehen müssen, damit ein drittes entstehen kann, während ein weiteres über der rückblickenden gemeinsamen Betrachtung dieser Commedia dell'Arte zusammenfindet. Eigentlich aber handelt auch dieser Roman des Frankfurter Autors von den Versuchen der Menschen, mit Hilfe der Form ihre Natur zu überwinden - und der Erkenntnis, dass ihnen dies selbst bei größten Zivilisierungsanstrengungen nie dauerhaft gelingen wird. Nur durch die Kunst, so begreifen wir beim Lesen dieses meisterlich komponierten Werks, lassen sich in diesem ewigen Kampf Etappensiege erzielen.
Für viel Gesprächsstoff wird Fritz J. Raddatz sorgen, der in seinen "Tagebüchern 1982 - 2001" (Rowohlt, 17. September) großartige Innenansichten der Jahre, die wir kennen, liefert. Wenn nicht gerade selbst im Zentrum des Geschehens, dann doch nie weit davon entfernt, gehört Raddatz nicht zu jenen Tagebuchschreibern, die sich als Chronisten verstehen. Er ist ein Mann der Hauptsachen, der Hauptpersonen und der Hauptgerüchte. Alle, wirklich alle, die im literarischen Leben dieser Zeit etwas zu melden hatten, kommen vor - und noch viele andere. Sei es die jahrzehntelang enge, letztlich aber doch enttäuschende Freundschaft mit Günter Grass oder der unglaublich eitle Hans Mayer, Marion Gräfin Dönhoff, Helmut Schmidt oder andere seiner Kollegen von der "Zeit" - für die literarische Republik dürften die Tagebücher von Raddatz das werden, was Dietls "Kir Royal" in den achtziger Jahren für München war: Kult- und Hassobjekt zugleich.
Wann immer es ihm zu doll wird, zieht Raddatz sich nach Sylt zurück. Dort verbringt auch Verlagsvertreter und Teilzeitvater Peter eine Ferienwoche mit seiner heranwachsenden Tochter. Thomas Hettche stellt sich in "Die Liebe der Väter" (Kiepenheuer & Witsch, 19. August) der ungeheuren Frage, wie viel Vater man sein kann, wenn man sein Kind nur selten sieht. Dass die Antwort darauf immer wieder neu gesucht und gefunden werden muss, macht die Integrität dieses Romans aus, der sich nebenbei auch als Nachruf auf unsere Buchkultur lesen lässt.
Der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach setzt seine im vergangenen Herbst mit "Verbrechen" fulminant begonnene literarische Karriere mit "Schuld" nahtlos fort (Piper, 2. August). Seine knappen, auf den Punkt erzählten Stories beziehen ihre Wucht aus der Berufserfahrung des Autors, ihre Intensität hingegen aus seinem schnörkellosen Stil - und der Erkenntnis, dass das Gesetz niemandem die moralische Verantwortung abnimmt, bisweilen am wenigsten dem, der es vertritt.
Gleich mehrere der stärksten Romane dieses Herbstes kommen aus Großbritannien. Hilary Mantels "Wölfe" (Dumont, 23. August), die Geschichte vom Aufstieg Thomas Cromwells zum Berater des politisch verblutenden Heinrichs VIII. und infolgedessen zur prägenden Gestalt im England des sechzehnten Jahrhunderts, wurde dort im vergangenen Jahr verdient mit dem Booker-Preis ausgezeichnet und sollte die Autorin nun endlich auch bei uns bekannt machen. Indem sie die Machtkämpfe zwischen Cromwell, Thomas More und Kardinal Wolsey nicht nur mit souveräner Kennerschaft, sondern auch mit subjektiver Charakterdeutung nachzeichnet, verwandelt Mantel den historischen Stoff in ein großes Stück Gegenwartsliteratur. Ihr Cromwell, Sohn eines Schmieds aus Putney, der den Krieg in Frankreich, das Geldgeschäft in Florenz und den Handel in Antwerpen kennengelernt hat, hält insgeheim zu den Protestanten. Wer glaubt, aus der sicheren Distanz von fünf Jahrhunderten gegenüber den Handelnden im Vorteil zu sein, wird eines Besseren belehrt.
Der fünfundfünfzigjährige Ire Colm Tóibín, der sich mit seinem Henry-James-Roman "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" (2005) auch hierzulande als herausragender Autor seiner Generation etabliert hat, erzählt in "Brooklyn" (Hanser, 6. September) von der jungen Eilis, die auf Drängen ihrer Schwester die ärmlichen Verhältnisse, aber auch die Sicherheit ihres südirischen Städtchens aufgibt und nach Amerika geht. Mit der aufrechten, intelligenten Eilis hat Tóibín eine Figur geschaffen, die den Leser nicht mehr loslässt. Vor allem aber ist sein Roman, getragen von einem Ton stiller Selbstverständlichkeit, eine ergreifende Meditation über Fremdheit, Heimweh, den Preis der Selbstbehauptung und das Vergehen der Zeit.
Wer es bunt, schnell, aufgeregt und anstößig mag, wird bei Adam Thirlwell auf seine Kosten kommen. Wie bereits in seinem bemerkenswerten Debüt "Strategie" (2004) geht es auch im neuen und drittem Roman des 1978 geborenen Engländers, "Flüchtig" (S. Fischer, 8. September), um die Lust des verdoppelten Zuschauens. Wir betrachten Haffner, den Helden, in einem alpinen Resort beim Betrachten des ihm entgleitenden Lebens. Aber Haffner, Ende siebzig, Londoner Jude, vermögender Banker und kürzlich verwitwet, ist noch nicht bereit, seinen Lastern - Frauen, Jazz, Cricket - abzuschwören. Auch wenn dem betagten, doch gänzlich unverzagten Helden dieses spritzigen Romans in seiner Liebe zu der Yogalehrerin Zinka nicht viel anderes übrigbleibt, als durchs Schlüsselloch gleichsam frustriert auf sein Leben zu spähen, ist das Resultat alles andere als ernüchternd. Thirlwells neues Buch besticht, wie schon die vorigen, vor allem als Experiment, das seinen Helden als Folie für erzählerische Extravaganzen und stilistische Ertüchtigung benutzt.
Ian McEwan betritt mit jedem seiner Romane Neuland, thematisch wie stilistisch. "Solar" (Diogenes, 27. September) beschäftigt sich in der tragikomischen Gestalt von Physik-Nobelpreisträger Michael Beard mit der Forscherszene rund um den Klimawandel, erzählt aber vor allem davon, dass der Mensch noch so ausgebufft sein kann - seine inneren Schweinehunde in Form von Bequemlichkeit, Gier, Gefallsucht und Eitelkeit werden ihm fast immer einen Strich noch durch die schlaueste Rechnung machen. Aus einem vermeintlich trockenen, schwierigen Thema macht Großmeister McEwan den brillantesten, witzigsten Roman der Saison.
"Die Unperfekten", das in Amerika bereits gefeierte Romandebüt des Kanadiers Tom Rachman (dtv Premium, 15. September), erzählt auf höchst originelle Weise vom allmählichen, doch unaufhaltsamen Niedergang einer internationalen Tageszeitung mit Sitz in Rom. Das Szenario, geschildert aus der kapitelweise wechselnden Perspektive der Beteiligten und Betroffenen, entfaltet neben unbedingter Melancholie indes auch anrührende Komik. Denn vom abgehalfterten Korrespondenten in Paris über die frustrierte Wirtschaftsreporterin, den besonnenen Chefkorrektor und eine habituell gestresste Chefredakteurin bis zum unfähigen panikstarren Verleger entwirft Rachman, ehemaliger Redakteur der "International Herald Tribune", ein denkwürdiges Panoptikum von Individualisten.
Der New Yorker David Levithan dekliniert in seinem "Wörterbuch der Liebenden" von A wie abwegig (",Normalerweise tu ich so was nicht', sagtest du.") bis Z wie Zenit ("Das ist er, der Augenblick, bevor du mir genau das erzählst, was ich nicht hören will.") ein vertrautes Gefühl in ungewöhnlichen Stichworten (Graf Verlag, 13. August). Und zu guter Letzt beschert uns die amerikanische Literatur noch ein großes Geheimnis: "Freedom", Jonathan Franzens ersten Roman seit den "Korrekturen" (Rowohlt, 17. September). Im Fall dieses Autors dürfte sich das Warten aller Wahrscheinlichkeit nach lohnen.
Argentinien, Heimat größter literarischen Einbildungskraft und Gastland der diesjährigen Buchmesse, verheißt außergewöhnliche Entdeckungen. Einen ersten Vorgeschmack gibt "Geschichte der Tränen" von Alan Pauls (Klett-Cotta, 20. August), ein im Supermankostüm eines rasanten Bewusstseinsmonologs getarnter Blick auf die verdrängte politische Vergangenheit. Und im November schließlich, einen Monat nach der Messe, gibt der hundertste Todestag Leo Tolstois dann all jenen, die es vielleicht doch Susan Hill nachtun möchten, den denkbar besten Grund, die Neuerscheinungen zugunsten dieses Klassikers unter den Klassikern zu überspringen.
FELICITAS VON LOVENBERG
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Booker-Preis-Gewinner 2009: Hilary Mantels großer historischer Roman über Oliver Cromwell und Thomas Morus
Die Lords des englischen Hofes schätzten den Maler aus Deutschland wenig. Er zeigte ihnen die Welt und die Menschen zu sehr, wie sie war, und nicht, wie man sie gerne gesehen hätte. König Heinrich VIII. aber soll gesagt haben: „Wisset, dass ich aus sieben Bauern in einer Minute sieben Lords machen kann, nicht aber aus sieben Lords von Eurem Schlage einen einzigen Holbein.“
Hans Holbein der Jüngere (um 1497 bis 1543), Meistermaler der Renaissance, hat in London außer dem Tudor-König zwei Männer aus Heinrichs innerem Machtzirkel porträtiert, deren Duell England und Europa für immer veränderte: Thomas Morus (1478 – 1535), den Lordkanzler, katholischen Vordenker und Autor der „Utopia“, und Thomas Cromwell (um 1485 – 1540), den wichtigsten Ratgeber am Hofe des Herrschers.
Morus hat in Holbeins Bild feine, intelligente Züge und einen nachdenklichen Blick, in dem etwas Unbeirrbares steckt. Cromwell, dunkel gekleidet wie sein Gegner, ist ein Bär von Mann, mit einem groben Gesicht, in dem ebenfalls die Augen auffallen: kalt und klug, hart und wachsam. Wenn diese beiden Männer einen Kampf um Macht und Überzeugungen führen, dann wird es nicht Morus sein, der ihn gewinnt.
Und tatsächlich war Thomas Cromwell der Sieger. Er ist die Hauptfigur des soeben auf Deutsch erschienenen Romans „Wölfe“. Für das wuchtige Epos hat die Autorin Hilary Mantel 2009 den Booker-Preis erhalten, die wichtigste literarische Auszeichnung Großbritanniens. Was aber bisher sein Bild in der Nachwelt betraf, war Cromwell eindeutig der Verlierer. Er gilt als Inbegriff des perfiden Machtmenschen, als Meister des Machiavellismus. Thomas Morus dagegen ging als Märtyrer und Gerechter in die Geschichte ein. Er hielt dem Papst die Treue und verweigerte dem König die Annullierung seiner Ehe mit Katharina von Aragon und die Heirat mit der schönen Anne Boleyn. Dafür ließ Heinrich, von seinem liebsten Diener Cromwell getrieben, ihn 1535 köpfen.
In Robert Bolts Drama von 1960, „A Man for All Seasons“ (1960), verlässt Cromwell nach Morus’ Enthauptung mit einem Gefährten die Richtstätte und geht scherzend ab, „mit dem reuigen Lachen eines Mannes, der weiß, wie diese Welt eben ist und wie man sich gut in ihr einrichtet“. Und in dieser Welt hat er viel erreicht: Englands Kirche von der Gewalt des Papstes losgesagt, dem König unterstellt, Teile des gewaltigen klerikalen Besitzes verstaatlicht. Und Heinrich heiratete endlich Anne, der Bruch mit Rom war vollzogen – dank des finsteren Mannes.
Hilary Mantel hat diese Frontstellung mit einem kühnen Kunstgriff in ihr Gegenteil verkehrt. Cromwell ist ihr Held, Morus der Zuchtmeister einer fallenden Ordnung. Seine Waffen sind Intrige, Folter und Mord. Das ist bei dem Humanisten, der in „Utopia“ das Ideal friedlichen Zusammenlebens gepredigt hat, historisch gewagt, aber nicht unplausibel.
Morus starb für seine Überzeugungen. Doch waren diese Überzeugungen selber Teil einer Tyrannei, jener der Kirche, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus eigenem Verschulden in eine existentielle Krise geraten war. Das Bild des Thomas Morus, wie Mantel es zeichnet, mutet gespenstisch aktuell an, es erinnert nicht zufällig an den moralischen Niedergang Amerikas und Großbritanniens nach der gemeinsamen Invasion im Irak 2003: Die gute Absicht heiligt die Mittel, und im Namen der großen Werte ist selbst deren Verletzung erlaubt, ja geboten. Und tatsächlich hat auch der echte Morus Tod und Feuer für alle Ketzer gefordert, denn „gelinde Behandlung macht sie nur desto kühner“.
Am Ende des Romans sitzt er in einer dunklen Zelle des Londoner Towers. Er hat verloren, aber er bleibt in einer beklemmenden Szene ein schrecklicher Soldat des Guten und sagt ganz ernsthaft zu Cromwell: „Ich füge doch niemandem Böses zu. Ich sage nichts Böses. Ich denke nichts Böses. Wenn das nicht genug ist, um einen Mann am Leben zu lassen . . . “ Cromwell hält ihm die Folter vor, die Schreie der Gemarterten, all das Leid, das Morus verursachte. Aber der versteht ihn nicht: Was im Namen des Guten geschah, kann nicht böse sein.
Cromwell ist hier ein harter, nicht gewinnender, aber keineswegs diabolischer Mann; wie Morus folgt er einem inneren Gesetz. Er nutzt das Vertrauen des Herrschers, um sein Land aus den Fängen des Vatikans und der Kirche zu befreien. Die Zeit ist reif für den Wandel und die Gelegenheit einzigartig. Diese Kirche ist zutiefst korrumpiert, ihre Macht ist so erschüttert wie ihre Moral. In Deutschland fordert Martin Luther sie bis zum Äußersten heraus. Kaiserliche Landsknechte schänden 1527 in einer Orgie aus Mord und Feuer Rom und erniedrigen Papst Clemens VII. Und in England klammert sie an der Macht und an ihrem Reichtum; sie lässt Menschen verbrennen, die das Evangelium auf Englisch lesen statt auf Latein, der Herrschaftssprache des Klerus. Cromwell ist der Mann, der diese Herrschaft bricht. Christus, sagt er im Roman, „trachtete nicht danach zu herrschen und gab seinen Jüngern nicht den Auftrag zu herrschen. Christus hat keine Päpste gemacht“.
Als historischer Roman ist „Wölfe“ ein gewagtes Unterfangen: Er hat beachtliche 780 Seiten, noch dazu solche, die wenig Sex und Crime bieten und keinen Schlachtenlärm. Dennoch, dem Sog dieses auch glänzend übersetzten Buches kann man sich nicht entziehen: Es ist stimmig, authentisch, nimmt die Welt ernst, die es beschreibt. Das unterscheidet es von der Masse des Genres. Der historische Roman boomt und ist doch in einer Krise. Beliebt sind bunte Epen über tragisch liebende Kreuzritter und Burgfräulein, die sich beim Anblick morgensternschwingender Finsterlinge als politisch korrekte Powerfrauen erweisen. Das macht den Lesern Spaß, und gegen Spaß beim Lesen kann man nichts haben. Aber diese Romane tun nur so, als ob sie Geschichte erzählen würden; von deren Realität sind sie so weit entfernt wie die ewigen Krimis über geniale Serienmörder von der tristen Wirklichkeit solcher Verbrechen.
Auch Hilary Mantel weiß nicht, wie es wirklich gewesen ist. Aber sie kann für sich beanspruchen, dass es zumindest so gewesen sein könnte. Und sie zeichnet das faszinierende Bild einer uns fernen Welt. Es zeigt nicht Kriege und Kanonendonner, sondern den Alltag: „Abends in Lambeth, wenn es noch hell ist und alle Töpfe geschrubbt werden, gehen die Jungen nach draußen und spielen Fußball auf den Kopfsteinen. Sie fluchen und rempeln sich an, und bis jemand brüllt, dass sie aufhören sollen, kämpfen sie mit den Fäusten und beißen sich manchmal. Hinter dem offenen Fenster über ihren Köpfen singen die jungen Herren ein mehrstimmiges Lied mit den hohen klaren Stimmen, die ihnen beigebracht wurden.“
Mantel beschreibt das Elend der Lumpenkinder in den Gassen und die Blumengärten der Paläste; den Dreck der Spelunken und die Schönheit eines Sommermorgens an der Themse; die Pracht einer königlichen Tafel und die Macht der Natur über den Menschen. So sterben Cromwells Frau und seine Töchter am Fieber, und es gibt nichts, was selbst ein so mächtiger Mann wie er für sie tun könnte – außer um sie zu trauern.
Nebenbei schafft die Autorin einige hübsche Analogien zur Gegenwart. Cromwells Geschäfte laufen über Florenz, Venedig, Antwerpen; an den Höfen des Geldes, denkt er, ist die Macht größer als an denen der Könige. Seine Welt wandelt sich, sie löst sich vom Mittelalter, und wie man heute über die Übel globaler Vernetzung klagt, wird im Buch über die neue Kunst der Druckschrift lamentiert: Erlaube sie doch jedem närrischen Häretiker, seine Thesen quer durch die Christenwelt zu verbreiten.
Bis zum Tode Cromwells, der 1540 in Ungnade fiel und ebenfalls hingerichtet wurde – der König hat dies nachher sehr bedauert –, reicht das Buch nicht. Es erzählt die Geschichte eines Mannes und seines Sieges in diesem Todesspiel um Moral und Macht: „Der Wolf“, sagt Cromwell, „fällt über die Schafherde her, aber nicht in den Nächten, in denen Männer mit Hunden auf ihn warten.“
JOACHIM KÄPPNER
HILARY MANTEL: Wölfe. Aus dem Englischen von Christiane Trabant. Dumont Buchverlag, Köln 2010. 780 Seiten, 22,95 Euro.
Morus ist hier der Zuchtmeister
einer fallenden Ordnung
„Der Wolf fällt über die
Schafherde her . . . “
Cromwell (rechts hinter J. R. Meyers als Heinrich VIII.), wie ihn das Fernsehen sieht – in der TV-Historienserie „The Tudors“. Foto: Prosieben Television Gmbh
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