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Gottlieb Zürn, bekannt aus Martin Walsers Romanen "Das Schwanenhaus" und " Die Jagd", Ex-Makler, Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer Doktorandin. Sie interessiert sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen LaMettrie und überreicht ihm, er ist erstaunt und merkwürdig geschmeichelt, eine Blume. Sie könnte, wie er sieht, seine Enkelin sein. Und doch vernimmt er sofort das Klirren erotischer Möglichkeiten. Sie, nebulös: "Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann." Trotzdem, und weil er mit seiner Frau Anna längst im selben Wortschatz…mehr

Produktbeschreibung
Gottlieb Zürn, bekannt aus Martin Walsers Romanen "Das Schwanenhaus" und " Die Jagd", Ex-Makler, Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer Doktorandin. Sie interessiert sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen LaMettrie und überreicht ihm, er ist erstaunt und merkwürdig geschmeichelt, eine Blume. Sie könnte, wie er sieht, seine Enkelin sein. Und doch vernimmt er sofort das Klirren erotischer Möglichkeiten. Sie, nebulös: "Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann."
Trotzdem, und weil er mit seiner Frau Anna längst im selben Wortschatz untergeht, folgt er ihr nach Kalifornien zu einem Kongreß über LaMettrie. Dort erfüllt sich ihre Prophezeiung - auf eine Weise, die gleich in mehrfacher Hinsicht zum Eklat führt. Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äußeren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust ist sein geheimes Motiv
Autorenporträt
Walser, MartinMartin Walser, 1927 in Wasserburg geboren, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2004

Anna, laß mich rein, laß mich raus
Mut gibt es an Tankstellen: Martin Walsers neuer Roman schickt einen Liebenden auf Reisen

Das Thema von Martin Walsers neuem Roman sind Übersetzungsprobleme. Mit dem Titel fängt das Dilemma bereits an: "L'Homme Maschine". Schon wenn man die Hauptschrift des Arztes und Philosophen La Mettrie "Der Mensch als Maschine" überschreibt, hat man ihn verfehlt. Und dann kann sich daran nur noch eine Kette von Mißverständnissen reihen. Etwas anderes als platter Materialismus ist nicht mehr zu erwarten, die ganze deutsche Rezeption seines Werkes folgerichtig eine einzige Fehlleistung. Bis zu Wendelin Krall. Unter diesem Namen hat Gottlieb Zürn, Exmakler und Antiheld aus Martin Walsers Romanen "Das Schwanenhaus" und "Jagd", einst zwei Aufsätze über La Mettrie verfaßt, die das Bild des Aufklärers geraderückten und ihn als Denker der beseelten Natur und Verteidiger der sinnlichen Erfahrung feierten.

Diesen Krall will nun Beate Gutbrod, die an der University of North Carolina über La Mettries Wirkung in Deutschland promoviert, persönlich kennenlernen. Ein Kurzbesuch auf der Terrasse der Zürns reicht aus, um die beiden zu entflammen; der Forschungsgegenstand dient dabei zusammen mit einer Flasche Calvados als eine Art Katalysator, wie Klopstock einst Lotte und Werthern: "Der Animateur La Mettrie! Sie sei so unbescheiden zu vermuten, daß sie Zeuge einer Wiederbelebung geworden sei. Die sei La Mettries Werk. Wendelin Krall redivivus!" Tatsächlich aber muß Zürn fortan darüber nachdenken, wie die Doktorandin "scharf" mit drei f's aussprach und wie ihn ihre Schuhe aus Schlangenleder "attackierten": "Total tropisch beziehungsweise: die Schlange persönlich." Die junge Frau geht, der alte Zürn bleibt zurück und trinkt den Calvados leer. Es hat Zoom gemacht, soviel ist klar.

Anna Zürn kennt ihren Gottlieb und weiß, was ihr nun blüht: Ihr Mann fährt aus der Haut, will sein "Scheinleben" verlassen und den Altersunterschied (sind es wirklich vierzig Jahre oder vielleicht nur 38?) vergessen: "Mut gibt's an Tankstellen. Fahr hin. Tanke. Dann los." Das tut ein Privatgelehrter natürlich nicht, sondern schreibt und telefoniert nach Amerika, wo Beate einen Kurs "Deutsch als Philosophensprache" absolviert, während sich die Seelenverwandtschaft der beiden "fernmündlich" - "von allen behördlich gezeugten Worten das schönste" - in eine tolle Liebesraserei und ein wahres Sprachfeuerwerk steigert.

Der Praxistest der platonischen Affäre rückt plötzlich näher, als Zürn zu einem La-Mettrie-Kongreß nach Berkeley eingeladen wird. Beate übersetzt seinen Vortrag, mühevoll, aber bei der Ankunft des Geliebten gehen die Wortfindungsstörungen erst richtig los. Wie etwa heißt das da zwischen den männlichen Beinen: "Er nannte, was er zur Verfügung stellte, Ding, und fragte, wie sie sein Ding nenne." Schopenhauer habe es "geträumtes Unding" genannt. Gottlieb ist begeistert, doch Beate versteht offenbar nichts von Sprechakttheorie: "Sie wechselte jäh in die Aktivsprache: This is no time for talk, it's time for performance. Let's have it in English." Warum wird dann aber, was "blowjob" heißen müßte, hier unter "Munddienst" beziehungsweise blasphemisch unter "Kommunion" geführt?

Das linguistische Fiasko setzt sich im Hörsaal fort: Zürns Rekonstruktion von La Mettries Kritik des Gewissens wird als unerhörter Versuch eines Deutschen verstanden, sich von seiner historischen Schuld reinzuwaschen. Die These, daß im wahren Gebrauch der Freiheit das Schuldgefühl wenigstens für Augenblicke verschwinde, wird politisch gelesen und skandalisiert - ausgerechnet von jenem Rick W. Hardy, der zuvor Beate selbstlos bei der Übertragung behilflich war: Traduttore, traditore. Überdies erleidet Zürn einen Stimmverlust - der feuchte kalifornische Traum wird zum Alb; er flieht zum Alkohol und hegt omnipotente Vernichtungsphantasien ("Dann laß ich euch alle köpfen. Das wird eine Überraschung."). Dann aber kehrt er reuig zurück und wird von Anna barmherzig aufgenommen: "Und gesagt werden mußte nichts."

Martin Walsers neuer Roman, der erste nach seinem Wechsel von Suhrkamp zu Rowohlt, variiert ein weiteres Mal sein bekanntes Aventiuren-Schema von Alltag, Ausbruch und Rückkehr und benutzt dazu ein Alter ego, das ihm in mehrfacher Hinsicht besonders nahesteht: Zürn, wie Walser am Bodensee daheim und Vater von vier Töchtern, wenn auch gute zehn Jahre jünger, ist vielleicht die ideale Figur für einen Altersliebesroman, ja für einen Roman über "Altersgeilheit" - ein böses Wort, über das sich Zürn selbst gehörig erregt: "Geil, das war doch in jedem Alter die Stimmung, die nicht heraus durfte . . . Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahnung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben da eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren."

Da läßt Walser, 77, seinen Zürn wahre Worte sprechen. Das Erotische ist auch keineswegs das Problem an dieser amour fou, die - gerade im Körperlichen jenseits der Geschmacksgrenze - überzeugend geschildert wird, wenn auch La Mettrie etwas zu penetrant als sentenzenpfeileschießender Amor im Hintergrund wirkt. Doch seinen geistigen Beistand braucht Walser eben für den Berkeley-Eklat, der unverhohlen auf seine umstrittene Paulskirchenrede und die Ablehnung seines unsäglichen Buchs "Tod eines Kritikers" anspielt.

Warum macht Walser das? Warum verzichtet er nicht auf diese - schwache und oberflächliche - Analogie, die er für seinen Plot gar nicht braucht? Angegriffen wird Zürn zudem von einem karrieristischen Kollegen Beates, der sie einst sexuell belästigte, also von vornherein als unsympathische und unglaubwürdige Figur gezeichnet ist - wie überhaupt die kolportagehaften Niederungen der campus novel zu den Schwachpunkten zählen. Also wozu dieser Schlenker? Es gibt zwei Erklärungen: Die eine müßte La Mettries These bemühen, daß jede Erkenntnis aus der sinnlichen Erfahrung kommt und vor ihr bestehen muß. Danach entspräche Zürns radikal subjektive Lesart der Gewissenslehre Walsers individuellem "Geschichtsgefühl". Jeder Versuch, es in die Sphäre des Öffentlichen zu übersetzen, auf allgemeine Begriffe zurechtzubiegen, wäre zum Scheitern verurteilt: Traduttore, traditore. Der Verräter ist immer der Übersetzer. Das zeigt sich etwa an den vielen eingestreuten Träumen der Protagonisten, die gegen den Zugriff, die "Übersetzungen" des psychoanalytischen Deutungsapparats verteidigt werden (am Ende wird Beates Analytiker gar als Triebtäter entlarvt!). Und auch La Mettrie, für dessen "L'Art de jouir" Lessing polemisch den Titel "Porneutik" vorschlug, wird ja als ewig Mißverstandener gezeichnet. Aber auch Walser muß klar sein, daß die Situation des liebeskranken Zürn, der seine Befreiung aus den Fesseln der Ehe feiert und das schlechte Gewissen gegenüber seiner Frau rationalisiert, nichts mit der des engagierten Intellektuellen zu tun hat, der an symbolischem Ort eine öffentliche Rede über den Umgang mit dem Holocaust hält.

Also bleibt nur die andere Möglichkeit: Walser weiß ganz genau, wie wenig belastbar seine Liebesgeschichte als Parabel ist, und stellt die ganze Episode als Falle auf - ähnlich wie er es schon beim "Tod eines Kritikers" tat, dessen skandalösen Charakter er ja schon beim Schreiben antizipiert hatte. Walser will abermals ein Hase-und-Igel-Spiel mit der Öffentlichkeit treiben und den - erwarteten - Entrüstungen dann ein "Ick bün all hier" entgegenrufen: Sehr ihr, so wird ein ganz privater Liebesroman an den Pranger politischer Korrektheit gestellt! Und wie Zürn darauf sarkastisch-selbstanklagend antworten: Und er habe gelernt, "daß er zuerst ein Deutscher ist, und erst dann, falls sein Ein-Deutscher-sein das noch zuläßt, erst dann ein Mensch".

So ist sein Buch kein Skandal - zum Glück, denn wer will schon Skandalbücher lesen -, sondern nur eine Enttäuschung. Es ist einfach schade, daß Walser seinem eigenen Credo, der radikalen Erfahrungs- und Empfindungsnähe, nicht treu blieb. Was sich so nie vom schalen Beigeschmack einer politisch-medialen Instrumentalisierung freimachen kann, würde ein berührender Alters-Eheroman sein. In seinem Zentrum stünde nicht Zürn und nicht Beate und schon gar nicht der verruchte Übersetzer, sondern Anna, die Ehefrau, die als geduldige Penelope während der Odyssee ihres Gatten im hauseigenen Yachthafen ausharrt. Die schönsten Passagen ergeben eine Hymne auf eine wunderbare, lebenskluge Frau: "Und er dachte, als er jetzt Anna ansah, daß ein Gesicht, das man kennt, seit es jung war, nie bloß alt werden kann." Walser hat die Sprache für diesen Roman gefunden, auch den Mut für eine radikale, eine buchstäbliche Selbstentblößung, aber nicht die Klugheit, ihn ohne Überhöhung, ohne Provokation, ohne Deutungsballast - einfach unübersetzt - zu lassen.

Martin Walser: "Der Augenblick der Liebe". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 254 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2004

Fernmündliche Liebesgewalt
„Der Augenblick der Liebe”: Martin Walsers neuer Roman knüpft mit einem frischen Erlebnis an ein altgedientes Werk an
Wer über viele Jahre hinweg Martin Walser gelesen hat, der hat eine paradoxe Erfahrung gemacht: Walser bleibt immer derselbe, als Person, Autor, Erzähler (den Unterschied scheint er selbst kaum der Rede wert zu finden), und man wird ihn aus jeder halben Seite erraten, die er je geschrieben hat; aber was als Nächstes kommen wird, das weiß man nie. Und es kamen in den letzten Jahren unter anderem: Aus heiterem Himmel seine Paulskirchenrede, worin er, im Augenblick seines Triumphs und scheinbar ohne Not, den Gedenk-Konsens der Republik aufkündigte, ein Dokument der treuherzigen Verstocktheit, aber in seinem Ressentiment doch von einem wachen Instinkt für die Heuchelei des öffentlichen Gewissens geleitet; ein Kindheitsbuch, erstaunlich kühl für einen so großen Konfessionisten; der „Lebenslauf der Liebe”, der in wunderbar kühner Einfühlung, bis in die letzte Peinlichkeit hinein, das erotische Leben einer alternden Frau erzählte; und zuletzt der „Tod eines Kritikers”. Dieses Buch konnte einen verzweifeln lassen, weniger an seinem Verfasser als an der gewundenen Sterilität der Debatte, die es entfacht hat. Man scheint sich zum Schluss mehr oder weniger darauf geeinigt zu haben, dass es doch ein legitimes Produkt sei, aber durch seine literarische Schwäche sich selbst ins Abseits manövriere: Damit glaubte man, es auf elegante Weise statt durch Verriss durch Verpuffung erledigt zu haben. Dabei ist es eine boshafte kleine Farce, deren Spitze im Fleisch des Betriebs steckenbleibt, auch wenn man ihr den Schaft abbricht. Eine eigentlich Diskussion mit und über Walser scheint jedenfalls inzwischen nicht mehr möglich: Sie passen einander nicht, Walser nicht seinen Widersachern und umgekehrt, das schwelt so unterirdisch und ohne Sauerstoff dahin, und ehe das klärende Wort eine Chance hat, sind beide Seiten immer schon beleidigt und beleidigend geworden.
Die Stärke einer Sphinx
Man durfte jedenfalls gespannt sein, was es wohl diesmal würde, wenn Walser ein neues Buch schreibt. Wie sich herausstellt, wurde es eins, das er im Grunde schon einmal geschrieben hat. Das war, vor rund zwanzig Jahren, „Die Brandung”. Auch damals schon hatte es sich um einen älteren (noch nicht alten, wie jetzt) Herren vom Bodensee gehandelt, der sich sterblich in ein weit jüngeres Wesen verliebt (damals dreißig, jetzt schlankweg vierzig Jahre jünger), welches in einem amerikanischen College zuhause ist; die Reise nach Amerika gerät zum schmerzlich wonnevollen Jungbrunnen und trägt dem staunenden Alteuropäer die fein dosierten Demütigungen der jugendlichen Fremde ein. Schließlich kehrt der Held, mehr müde als weise geworden, zu seiner Ehefrau zurück, die mit der schweigenden Stärke einer Sphinx auf diesen Augenblick gewartet hat, von dem sie sehr wohl wusste, dass er kommen würde: Sie kennt ihren Pappenheimer - besser als der sich selbst.
Der Rezensent erinnert sich, als eine wie große Enttäuschung er dieses Buch damals empfunden hat. Denn er sah den großen Romancier der bundesdeutschen Gesellschaft, ja den einzigen, der diesen Namen wahrhaft verdiente, den Verfasser der „Ehen in Philippsburg” und der Anselm-Kristlein-Trilogie, von „Halbzeit”, „Einhorn” und von dem wahrhaft schrecklichen Abgesang „Der Sturz”, nun endgültig im gemütlich-kümmerlichen Privaten gestrandet. Dass er damit zugleich auch die buchhändlerische Erfolgsleiter emporgestolpert war, schien eine bitter bezeichnende Koinzidenz.
Inzwischen denkt der Rezensent etwas milder über diesen Vorgang; vor allem erkennt er die Identität der Protagonisten über den Riss der Siebziger hinweg, der Walsers Werk in zwei Hälften teilt. Anselm Kristlein, der intelligente, anpassungswütige Vertreter für Aussteuerwäsche und Zahnpasta, das war nur scheinbar eine satirische Erfindung gewesen; in Wirklichkeit setzt Gottfried Zürn, der Held im neuen Buch „Der Augenblick der Liebe”, wohlhabend und träge bei reichem unglücklichem Innenleben, bis in die listig biedermeierliche Namensgebung hinein den damals noch materiell bedrängten und darum beweglicheren Kristlein fort. Und beide darf man wohl, selbst wenn man Walsers frühere Parteinahme für die Kommunisten in Rechnung stellt, unmittelbar als Aggregatszustände ihres Verfassers deuten. Als Walser in den frühen Neunzigern eine Ansprache hielt, worin er das Engagement eines Feuerwehrvereins vom Bodensee rühmte, der einer Gemeinde in den neuen Ländern ein paar alte Schläuche überließ, und als dem Festredner bei so viel gelebtem Patriotismus buchstäblich das Wasser ins Auge trat, da konnte man noch verblüfft denken: Das hätte es bei diesem Autor früher nur als Slapstick gegeben. Rückblickend jedoch muss man erkennen, wieviel Treue zu sich selbst auch in diesem Früheren gesteckt hat. Nur weil die Treue so gnadenlos war, dass sie das kaum aussprechbar Beschämende und Schäbige mit einschloss, hat sich das Intime, das im Ausgedachten schwang, zeitweilig verdunkeln können.
Diese lange Vorrede ist nötig, weil das neue Buch - unter der Hand - als autobiografischer Niederschlag gehandelt wird, als nur ganz dünn überfirnistes Bild einer wahren Affäre des alten Mannes mit einer jungen Frau. Walser selbst gibt sich keine Mühe, von sich abzulenken: das Alter stimmt, der Wohnort auch, und selbst die sattsam bekannten vier Töchter haben ihren Auftritt, nur obenhin anders getauft; sie sind bis zu zehn Jahre älter als die Geliebte. Man findet das, als Dichtung und Wahrheit seines Lebens, unpassend. Für Walser jedoch scheint, was andere ihm einzuwenden haben, geradezu die Voraussetzung des Schreibens gewesen zu sein. Wie kommt es, so fragt das ganze Buch, dass die Liebesbedürftigkeit und auch die Liebesfähigkeit des Greises als schlechthin peinlich zu gelten hat? Wohlan denn, sei es peinlich!
Er weiß, dass Schamlosigkeit gepaart mit einem engen Winkel dargestellter Erfahrung schon immer Teil seiner literarischen Besonderheit und Qualität gewesen ist. (Hierin stellt er das deutsche Pendant zu John Updike dar.) Autor und Erzähler wohnen mit spöttischem Unmut einem Gespräch zweier Gattinnen über die Altersgeilheit bei; jede versucht dieses Attribut dem ihr unsympathischen Favoriten der jeweils anderen anzuhängen - zwei Immobilienmakler, voneinander sehr verschieden, aber beide vitale Gegentypen zu Zürn, bei denen Walsers Kunst der knappen indirekten Charakterisierung zur Hochform aufläuft.
„Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren. Es schickt sich nicht nur nicht, es ist ekelhaft, alt und geil zu sein, das haben die Damen in ihrem Schatz-Kaltammer-Disput so die Namen der beiden Favoriten] verkündet. Gründe haben sie nicht genannt. Das ist einfach so. Inter omnes constat. Basta. Und weil das so ist, weiß Gottlieb, dass er, was bei ihm altersgeil genannt werden konnte oder musste, zu verbergen hatte, so wie er als Fünfzehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte. Es gab Damen und Herren im Ächtungsdienst für jedes Alter.”
„Ächtungsdienst” - das ist eine ganz vortreffliche Formulierung. In ihr, wie in dem von Walser bevorzugten Darstellungsmittel der erlebten Rede überhaupt, mischen sich das Ressentiment und die Hellsichtigkeit zu einem faszinierenden Chiaroscuro, und findet der Verfasser Gelegenheit, die unumschränkte Solidarität mit seiner Kunstfigur zu erklären. Ihm ist klar, dass der Ächtungsdienst der Herren und Damen auf der ästhetischen Ebene als Kitschvorwurf wiederkehren wird, und so springt er, in vorauseilendem Trotz, mit beiden Beinen in den erotischen Kitsch der reiferen Jahre, dass es nur so spritzt.
„Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sie’s gern? So fing sie an, so eröffnete sie.
Gottlieb sagte: In welche Sauce wir den Daumen, den wir lutschen müssen, vorher tunken, ist egal. Oder nicht?”
Das „Oder nicht?” wird in Wahrheit schon dem Leser entgegengeschleudert, der sich also nicht wundern sollte, wenn er, nach einem Winter der rein fernmündlichen Liebe über den Atlantik hinweg („FERNMÜNDLICH - Von allen behördlich gezeugten Wörtern das schönste”), nun Zeuge der Erfüllung in einem Hotelzimmer in Berkeley wird: „Aber da setzte ihre Mündlichkeit ein. Nahm ihm, was er noch hatte, so ab und sagte dazu, sie seien doch beide Katholiken, also sei das ihre Kommunion. Da sie so hymnisch dran war, konnte er nicht sagen, er sei gerade nicht so hymnisch gestimmt (. . .) Am liebsten hätte er, als sie ihn so bediente, gesagt: Sprich doch mit mir. Aber wenn er gesagt hätte: Sprich mit mir! hätte sie sagen können: Mit vollem Mund spricht man nicht.” Woraufhin Gottlieb sein Schwiegersohn einfällt, ein protestantischer Pfarrer, der beim Essen gern kauend theologische Vorträge in seinem „herbschönen” fränkischen Dialekt hält. Das ist, mit seinen schlau verdrucksten Kalauern, quälend und soll es sein.
Des Autors Gemeinheit
Aber ganz so leicht, indem man einfach sagt, Walser habe den Kitsch ja so gewollt, sollte man ihn doch nicht vom kritischen Haken lassen. Die Sache des Gottlieb Zürn führt dieser Autor ganz ausgezeichnet - kein Wunder, da er mit ihm plus minus identisch ist. Doch mit derselben Selbstverständlichkeit greift er auch in das Innenleben der Beate J. Gutbrod, deren Forschungen über den französischen Aufklärer La Mettrie die Liebschaft gestiftet hat. Was damals, bei Susi Gern im „Lebenslauf der Liebe”, die Unerschrockenheit des Autors gewesen war, sich notfalls zu blamieren, wird hier zur reinen Bemächtigung. „Sie hat im letzten Semester sechs Kilo abgenommen. Er hatte sie dort auf der Terrasse, nachdem die Frau aufgebrochen war nach Pfullendorf, so angeschaut, dass sie ihm das mit den sechs Kilo am liebsten gesagt hätte. Durch ihn, nur durch seine Art, sie anzuschauen, war sie von einem unmissverständlichen Übermut durchströmt worden. Sechs Kilo abgenommen, was sagen Sie dazu!” Penetrant ist das. Es wird ihr dann auch bloß ein „Augenblick der Liebe” zugestanden, Gottlieb lässt sie nach kürzester Zeit im Stich, um zu seiner Anna heimzukehren. Und als ob das nicht genügt hätte, muss sie zum Schluss des Buchs den ihr ekelhaftesten und widerwärtigsten Kollegen von der Uni ehelichen. Nur mit Gottlieb hätte es das wahre Glück gegeben! Dies - und den Vorwurf kann man ihm nun wirklich nicht ersparen - ist eine Gemeinheit, die noch über den Spielraum und die epischen Notwendigkeiten seines Helden hinaus der Autor Martin Walser begangen hat.
BURKHARD MÜLLER
MARTIN WALSER: Der Augenblick der Liebe. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 255 Seiten, 19,90 Euro.
Der Campanile von Berkeley: Wie einst in „Brandung” ist es auch in Walsers neuem Roman ein amerikanischer Campus, auf dem Unordnung und späte Freud sich in Szene setzen.
Foto: Ted Streshinsky / CORBIS
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Kein Skandal sondern "nur eine Enttäuschung" ist Martin Walsers neuer Roman für Rezensent Richard Kämmerlings gewesen. Dieser erste Roman nach dem Wechsel von Suhrkamp zu Rowohlt variiere ein weiteres Mal Walsers "bekanntes Aventiuren-Schema von Alltag, Ausbruch und Rückkehr". Der Rezensent bedauert jedoch, dass Walser in der darin erzählten Liebesgeschichte zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau seinem eigenen Credo der "radikalen Erfahrungs- und Empfindungsnähe" nicht treu geblieben ist. Auch bemängelt er die Ausflüge in kolportagehaften Niederungen der campus novel. Was dem Rezensenten dann aber besonders negativ aufstößt, ist die allzu offensichtliche Gestaltung des Protagonisten als Walser-Alter-Ego, unverhohlene Anspielungen auf die "umstrittene Paulskirchenrede und die Ablehnung seines unsäglichen Buchs 'Tod eines Kritikers'" durch die FAZ inklusive. "Warum macht Walser das?" fragt der Rezensent. "Warum verzichtet er nicht auf diese schwache und oberflächliche Analogie?" Die Antwort ist ernüchternd: Walser wisse genau, wie wenig sein im Roman erzählter Altersliebesroman als Parabel belastbar sei und wolle nun abermals ein Hase-und-Igel-Spiel mit der Öffentlichkeit und den erwarteten Entrüstungen treiben. Diesmal in Kämmerlings Augen freilich vergebens.

© Perlentaucher Medien GmbH"
"Walsers schönster Roman." - SWR
Dieser meisterhaft beschriebene Augenblick des Sich-Verliebens, dieses blitzartige Ineinander fallen [...] Wie der Sprachkünstler Walser die beiden Erzählgeschosse miteinander verbindet, die Liebesaffäre eines alten Mannes mit einer jungen Frau im Licht des Atheisten La Mettrie deutet [...], das reizt zum Widerspruch und zum Nachdenken, das macht ihm keiner nach. Die Zeit
Kaum einer vermag die Verwerfungen und Abgründe in den menschlichen Verhältnissen besser auszuloten als Martin Walser. Volker Hage