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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.1996

Die Entstehung der Geschichtsschreibung aus dem Geist der Dichtung
Daniel Fulda erblickt unter dem härenen Mantel der Historie die Seide der Kunst

Das neunzehnte Jahrhundert, das historistische, brachte große Geschichtsschreibung hervor. Das achtzehnte Jahrhundert, das aufklärerische, blieb auf diesem Sektor, in Deutschland zumindest, erstaunlich unproduktiv. Seit sich die geschichtswissenschaftliche Forschung auch in Deutschland intensiver der Aufklärung zuzuwenden begann - das ist noch nicht lange her -, hat sie zwar deren Verdienste für die Entstehung einer modernen Geschichtswissenschaft deutlich herausgearbeitet. Aber die Diskrepanz von sprunghaft sich ausweitendem geschichtswissenschaftlichem Betrieb mit zunehmend wachem Methodenbewußtsein auf der einen und fast völliger Absenz überzeugender Darstellungsleistungen auf der anderen Seite ist bisher nur konstatiert, nicht aber begründet worden.

Hier klaffte eine Erklärungslücke, die nicht dadurch kleiner wurde, daß man sich in den Nachkriegsjahrzehnten angewöhnt hatte, auch die Defizite des Historismus zu betonen. Im Zuge fortschreitender Verwissenschaftlichung - so meinten die fortschrittsbewußten Historiker der Geschichtsschreibung - seien diese dann doch überwunden worden, und zwar durch das endliche Auswaschen der literarischen Schlacken aus dem Endprodukt des Historikers, dem geschichtswissenschaftlichen Text. Die moderne Errungenschaft - so die Opinio communis - war die Forschung, und die Qualität des Sprachwerks geht darin auf, die Forschungsergebnisse zu kommunizieren und allenfalls zu organisieren.

Dieser These stellt Daniel Fulda seine Antithese entgegen, nicht die "Verwissenschaftlichung" habe die entscheidenden Neuerungen auf dem Weg der Geschichtswissenschaft in die Moderne geleistet, sondern die Ästhetisierung. Nur sie habe eine narrative wissenschaftliche Historiographie ermöglicht. Das Ästhetische, in der Selbstvergewisserung der Historiker spätestens seit Meinecke, vielfach schon vorher, die Sphäre, von der man sich zunehmend hektisch abzugrenzen wünschte, steht bei Fulda am Ende nicht nur als Vehikel der kulturellen Geltung, sondern auch der Methodisierung der Geschichtsschreibung da. Genußvoll spitzt er seinen Gedankengang zu auf die Formel: Wissenschaft aus Kunst - mit weithin überzeugenden Argumenten.

Fulda ist Germanist - das ermöglicht ihm, Historik und Poetik, historiographische und literarische Texte konsequent zu parallelisieren und damit auch das Verhältnis von Historik und Geschichtsschreibung differenzierter auszuleuchten, als dies der Selbstreflexion der Historiker bisher möglich war. Auf dieser Grundlage beschreibt er zunächst den "Pragmatismus" als Epochenparadigma von aufklärerischer Geschichtsschreibung und aufklärerischem Roman, analysiert dann die Bedeutung der neu aufkommenden ästhetischen Theorie (Alexander Gottlieb Baumgarten) und der Geschichtsphilosophie und Sprachreflexion Herders für die spätaufklärerische Geschichtstheorie und Historiographie (Johann Christoph Gatterer und August von Schlözer) und wendet sich schließlich der Ästhetisierung - und das heißt für ihn Verwissenschaftlichung - von Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie im "klassischen Historismus" zu - der Epoche, die er durch Wilhelm von Humboldts "Über die Aufgabe des Geschichtsschreibens" (1821) und Johann Gustav Droysens "Historik" (1857) abgegrenzt sieht. Im Zentrum der Untersuchung stehen hier eingehende Analysen zum Frühwerk Leopold Rankes in seinen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen und zu Droysens Historik. Zu Recht nimmt Fulda an, daß das Epochenparadigma "Historismus" mit diesem Textkorpus etabliert war und später nur noch geringfügige Variationen erfuhr.

Die eigentliche Pointe der Studie liegt in der konsequenten Engführung von Geschichtswissenschaft - oder vielmehr Geschichtsschreibung - und Literatur. Die Aufklärung, so die These, reflektierte intensiv die Probleme der Geschichtsdarstellung, aber sie lähmte sich darstellerisch, indem sie Geschichtserkenntnis als Systemerkenntnis verstand. Damit wollte sie wegkommen von der traditionellen Geringschätzung der Historie als bloßer Singularium rerum cognitio, also der vorwissenschaftlichen Präsentation des bloß Faktischen, und aufsteigen zur Ebene wissenschaftlicher Erkenntnis eines "Allgemeinen". Der Preis dieses erfolgreichen Emanzipationsbegehrens aber war eine Organisation des Wissens, in der die Ansprüche auf lückenlose Kausalerkenntnis sich nicht mehr in eine schlüssige Erzählung integrieren ließen.

Textmodell der Aufklärung

Die Aporie, in die sich die aufklärerische Geschichtsdarstellung hineinmanövrierte, exemplifiziert Fulda sowohl an der Geschichtsschreibung als auch am pragmatistischen Roman (Johann Carl Wezel und Carl Philipp Moritz) und an der Romantheorie (Friedrich von Blankenburg). Erklärungsansprüche und Darstellungsweise entsprachen einander schließlich in einem materialistischen Reduktionismus, der den kompensatorischen Umschlag gegen die radikalen Konsequenzen des aufklärerischen Empirismus und die ihm entsprechende anarrative Haltung provozierte. Selbst Ansätze zur Rezeption der neuen ästhetischen Theorie, vor allem bei Gatterer, reichten nicht aus, das letztlich immer noch in der alteuropäischen Rhetoriktradition fundierte Textmodell der Aufklärung aufzubrechen. Erst der mimetische Illusionismus der klassischen "Kunstperiode" (Heine) löste die Erzählung aus den rhetorischen Funktionen des "historia docet", indem er mit seiner literarischen Anschaulichkeit nichts anderes mehr als die erzählte Geschichte selbst beglaubigte.

Ermöglicht wurde diese Wende laut Fulda zum einen durch Herders Umwertung des Verhältnisses von Teil und Ganzem - dem Verzicht darauf, das Ganze der Geschichte vernünftig begreifen zu können, also die Rücknahme des Anspruchs auf Totalerkenntnis; zum anderen durch den eminenten Einfluß von Poetik, Ästhetik und Texten der goethezeitlichen Literatur auf Ranke und - über die Vermittlung unter anderem Wilhelm von Humboldts - auch auf Droysen.

Ästhetik des Historismus

Es bereitet ein subtiles intellektuelles Vergnügen, Fuldas dichte geistesgeschichtliche und biographisch abgestützte Rekonstruktion der Einflüsse insbesondere Goethes, aber auch Friedrich Schlegels auf Ranke nachzuvollziehen. Wer sich je mit Rankes Frühwerk beschäftigt hat, dürfte hier zu einem Evidenzerlebnis kommen. Nicht minder brillant legt Fulda die Fäden frei, die Droysens Historik, das Hauptwerk einer in ihrem Selbstverständnis betont anästhetischen Wissenschaftslehre der Geschichte, insbesondere mit Schillers ästhetischer Erziehung des Menschengeschlechts verknüpfen.

Immer wieder umschreibt Droysen den vom Historiker zu verstehenden "Ausdruck" in den Kategorien von Poetik und Ästhetik. Was hierbei entstand - exemplarisch vor allem in den Frühwerken Rankes - ist die "symbolische" Geschichtsschreibung des Historismus, die sich vom Zwang zur Vollständigkeit befreit hat, in der der Teil auf das Ganze verweist, in der die Adaption literarischer Techniken und Prinzipien eine Kohärenz der erzählten Geschichten ermöglicht, die ihren Gehalt immanent faßbar macht, in der aber doch jede Erzählung auf ein Kontinuum, die "Achse der menschlich-moralischen Bildung" (Gervinus) verweist. Eben darin ist die historistische Geschichtsschreibung "modern".

Fulda stößt sich - teilweise scharf polemisierend - ab von einer modernisierungsgeschichtlichen Historiographiegeschichte, die Modernitätskriterien vor allem für die geschichtswissenschaftliche Forschung entwickelt hat. Er hat die tropologische Herausforderung Hayden Whites trotz kritischer Auseinandersetzung insbesondere mit den historiographischen Analysen Whites angenommen. Seine Studie kann als das bisher profilierteste Produkt des "linguistic turn" in der deutschen historiographischen und indirekt auch der geschichtstheoretischen Reflexion gelten. Konsequent interdisziplinär arbeitend, gibt sie den Historikern endgültig wieder, was sie schon seit des älteren Rankes und Droysens Zeiten mit bemerkenswerter Beharrlichkeit verdrängt haben: die Literarität ihrer Texte und die ästhetische Dimension wesentlicher Elemente ihrer Theorie.

Den verblüffenden Widerspruch von szientifischem Selbstverständnis und ästhetisch inspirierter Praxis merkt Fulda selbst immer wieder an, ohne ihn freilich zureichend erklären zu können. Dies hängt mit seiner eigenen Methodik zusammen. Er analysiert Texte und ihre ideengeschichtlichen Bezüge, aber er isoliert sie auch gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit. Zu Recht rekurriert er auf Reinhart Kosellecks These, daß erst die Entstehung des Kollektivsingulars "die Geschichte" im späteren achtzehnten Jahrhundert die Grundlage abgab für jene Vorstellung eines Kontinuums "Geschichte", in dem wir immer schon stehen und das daher nur symbolisch und nur in der Dimension eines Bildungsprozesses der Gattung, aber ohne konkretes Telos evoziert werden kann.

Warum nun aber die alteuropäisch-rhetorische Geschichte dem neuen Modell der "Geschichte an sich" Platz macht und warum ein ganz neuer gesellschaftlicher Ästhetikbedarf entsteht, der auch von den neuen, literarisch belehrten Geschichten gedeckt wird - diese Frage klammert Fulda aus. Die historistische Geschichtsschreibung folgt einem neuen Modell von Ganzheit, das vernünftige Erkenntnis sinnlich nachvollziehbar machen möchte.

Zu Recht weist Fulda darauf hin, daß die Geschichtswissenschaft im System der menschlichen Kulturtätigkeiten im neunzehnten Jahrhundert "eine Funktion der Sinnversicherung beanspruchen konnte, die um 1800 noch der Dichtung zugesprochen wurde". Warum das so ist, bleibt offen - eine Antwort könnte nur jenseits einer Analyseebene gegeben werden, die Texte immer nur als Antwort auf literarische und historiographische Texte interpretiert, nicht auch auf die grundstürzenden politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen des Revolutionszeitalters beziehungsweise der napoleonischen Ära. Der Preis für diesen Verzicht auf Ganzheit ist freilich nicht zu hoch. Nach Fuldas Studie wird die Historiographiegeschichte anders aussehen als zuvor. WOLFGANG HARDTWIG

Daniel Fulda: "Wissenschaft als Kunst". Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860. Verlag de Gruyter, Berlin 1996. 547 S., geb., 198.- DM.

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