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Als sie heiraten, sind sie jung, mittellos und voller Pläne für ihre Zukunft. Doch wie lange hält das Glück vor, und wann setzt die Verzweiflung über die Tristesse des Alltags ein? In Briefen voller Wünsche, Hoffnungen und Ängste entfaltet sich die Lebensgeschichte zweier Liebenden vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders und der Aufbruchstimmung in der alten Bundesrepublik. Ein Roman, der hautnah miterleben lässt, wie sich Deutschland und die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert haben.

Produktbeschreibung
Als sie heiraten, sind sie jung, mittellos und voller Pläne für ihre Zukunft. Doch wie lange hält das Glück vor, und wann setzt die Verzweiflung über die Tristesse des Alltags ein? In Briefen voller Wünsche, Hoffnungen und Ängste entfaltet sich die Lebensgeschichte zweier Liebenden vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders und der Aufbruchstimmung in der alten Bundesrepublik. Ein Roman, der hautnah miterleben lässt, wie sich Deutschland und die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert haben.
Autorenporträt
Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller in der Nähe von Hamburg. Sein Briefroman Die Liebenden (2002) begeisterte die Kritik ebenso wie die Abenteuer seines Erzählers Martin Schlosser, die mit dem Kindheitsroman 2004 ihren Anfang nahmen. Henschel ist außerdem Autor zahlreicher Sachbücher. Er wurde unter anderen mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Georg-K.-Glaser-Preis und dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet.
Rezensionen
»Gerhard Henschels archivalischer Familienroman (ist) eines der rhrendsten, artitstischten und intelligentesten Bücher, die ich seit langem gelesen habe ...« Stephan Wackwitz FAZ, 03.12.2002

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002

Liebe als Fasson
Gerhard Henschels Dokumentar-Epos vom Schwinden des Lebensglücks / Von Stephan Wackwitz

Die Tragik des Kleinbürgertums besteht darin, daß diese tief untragische Klasse verzweifelt daran arbeitet, die Voraussetzungen des Erfolges herzustellen und damit in Wirklichkeit oft genug ihren Untergang herbeiführt. Sie schaufelt sich unwissentlich ihr eigenes Grab, ein Vorgang, den man, was in sich auch wieder viel Verzweiflungsvolles hat, ebensogut auch komisch finden kann.

Gerhard Henschel hat sich als komischer Schriftsteller einen Namen gemacht. Aber der archivarische Familienroman "Die Liebenden", ein Projekt an dem er in jahre-, vielleicht jahrzehntelanger Sammeltätigkeit planmäßig gearbeitet haben muß, erzählt eine genuin tragische Geschichte. Das Buch besteht aus 752 Druckseiten unkommentierter und offenbar nur unwesentlich gekürzter Familienkorrespondenz, die von den letzten Jahren der Naziherrschaft bis in das Jahr 1993 reicht. Ihre Protagonisten sind ein Liebes-, seit 1954 Ehe- und in den achtziger Jahren dann schließlich nur noch schriftlich miteinander verkehrendes Feindespaar: der Ingenieur Richard Schlosser und seine Frau Inge. Daran, daß Henschel den schrecklichen Verwahrlosungstod Richard Schlossers zu Beginn der Neunziger mit Hilfe von Dokumenten aus der Hand Martin Schlossers, eines der vier Kinder, erzählt und sich in diesen Briefen und Notizen sprachliche Manierismen des komischen Schriftstellers Gerhard Henschel finden, kann man ganz zu Ende des Buchs erkennen, daß Inge und Richard Schlosser in Wirklichkeit die Eltern des Erzählers sind.

Man muß den autobiographischen Mut dieses Verfahrens ebenso bewundern wie die literarische Kunstfertigkeit, mit der Henschel, dem Vorbild von Kempowskis monumentalem Echolot-Projekt folgend, seine Archivalien arrangiert. Aber man muß sich auch darüber wundern, wie Kontinuität und Spannung - ganz so, als sei an der Kompositionstheorie Adornos und Eislers doch etwas dran - aus der "Selbstbewegung des Materials" hervorgehen, ohne daß der Erzähler (er scheint viel entbehrlicher zu sein, als sich der Boom des neuen deutschen Erzählens träumen läßt), sein "sagte sie", "erbleichte der hochgewachsene Mann" und "räusperte sich die Gräfin spitzzüngig" hineinspricht und den angeblichen Ereignissen hinzufügt.

Das Tragikomische an den Schriftstellerträumen der überarbeiteten, vereinsamten, intellektuell unterforderten Hausfrau und Mutter Inge Schlosser zum Beispiel macht Henschel rührend und haarsträubend deutlich, indem er - zwischen Briefen an Schwiegermutter und Ehemann voller Kinderanekdoten, Geldsorgen, Marmeladengläsern und Mehrfachwindeln - ein Schreiben des Bundesverbands der Zigarrenhersteller e.V. vom 4. September 1958 einschaltet, in dem dieser Verband seiner Mutter mitteilt, sie habe im Rahmen des Wettbewerbs "Der Zigarrenraucher des Jahres" mit ihrer Geschichte den 159. Preis - "eine Flasche ,Bols alter Weinbrand'" - gewonnen. "Wir wünschen Ihnen viel Freude an Ihrem Gewinn und für IHN gute Laune ,immer mit 'ner guten Zigarre' mit freundlichen Grüßen" und so weiter. ER liegt zu der Zeit, wieder einmal für Monate und Jahre von seiner jungen Frau und Familie getrennt, mit offener Tuberkulose in einem Erholungsheim im Schwarzwald.

Daß Henschel sein Buch mit dem Untertitel "Roman" versieht, ist jedoch nicht allein durch die Kunstfertigkeit und Effektivität seiner Machart gerechtfertigt. Er könnte sich auch darauf berufen, daß der "Familienroman" ebenso wie die "psychoanalytische Novelle" nicht nur literaturwissenschaftliche Begriffe sind, sondern auch zu den Genres gehören, deren sich der große Schriftsteller Sigmund Freud explizit bedient hat. Und er könnte Friedrich Schlegel zitieren, der den "Roman als die ursprünglichste, eigentümlichste, vollkommenste Form der romantischen Poesie" bestimmt. Und poetisch ist sie, die hier entfaltete Geschichte des jungen, viel zu oft und zu lange voneinander getrennten Liebespaars aus den fünfziger Jahren, das sich zart und schüchtern jede Mühe gibt, die richtige Entscheidungen über Gefühls- und Gewissenserforschung, Liebeserklärung, "Aussprachen" mit rivalisierenden Mitbewerbern, Verlobung und schließlich Hochzeit zu treffen und überhaupt jene "Interpenetration der Weltentwürfe" zustande zu bringen, in der die bürgerliche "Liebe als Passion" (Luhmann) entsteht.

So materialreich, rührend und spannend wie in Henschels Familienroman wurden Werbung, Verliebtheit, Verlobung und Heirat in der deutschen Gesellschaft der fünfziger Jahre in keinem Roman Bölls, Grass' oder Koeppens geschildert. Poetisch aber ist auch die langsame, anfangs nur unterschwellig fühlbare und erst in den achtziger Jahren mit schriftlichen Hilfeschreien, Anklagen und Verzweiflungsausbrüchen offen zutage tretende Verfinsterung, die sich während der Jahrzehnte des Wirtschaftswunders, der Achtundsechziger-Kulturrevolution, während der Entstehung, Konsolidierung und Wiedervereinigung der Bundesrepublik über diese große Liebe gelegt hat.

Poetisch und unheimlich ist diese Verfinsterung, an der die Liebenden schließlich in einem sehr buchstäblich-medizinischen Sinn sterben, vor allem, weil man sie sich eigentlich nicht erklären kann. Das Paar versteht sie nicht, und der Leser versteht sie auch nicht. Sichtbar ist nur eine Aufstiegsbewegung, eine Serie heroischer, unwahrscheinlicher und geradezu wunderbarer Lebenssiege: die Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, das Arbeits- und Liebesheldentum des Werkstudenten und der Fremdsprachenkorrespondentin, die sich in demütigende Au-pair-Beschäftigungsverhältnisse nach England und Paris vermitteln läßt, die ersten Anstellungen, der Sieg über die Tuberkulose, die Kinder, die Karriere, die Umzüge und Hausbauten, der hart erarbeitete Wohlstand, die Reisen.

Und doch hat sich hinter all dem das Unheil zusammengezogen und verdichtet, das Richard Schlosser im heißen Juli des Jahres 1989 an seine Schwägerin schreiben läßt: "Inge ist nun weggegangen. Sie hat nicht mehr mit mir leben wollen, ich habe sie nicht rausgeschmissen. Ich war nur nicht bereit, auf alle Verrücktheiten dieser verlorenen Königstochter einzugehen." Und er setzt hinzu: "Es fällt mir schwer, einsehen zu müssen, daß 35 Jahre Ehe offensichtlich nur ein Irrtum waren. Auch unsere Kinder waren nur Betriebsunfälle. Inge hatte keins dieser Kinder haben wollen."

Vielleicht ist die Ursache dieser Lebenskatastrophe einfach in der Überanstrengung zu suchen, die der Preis für jene Karrieren und Erwerbsbiographien war und von der sich die Erbengeneration keinen Begriff mehr machen kann. Vielleicht bahnte sich in der zunehmenden Versteinerung, Verbitterung und Verbiesterung Richard Schlossers eine verschleierte Depression einen Weg ins Freie, die die Briefe seines Vaters, des Theologen und zum einfachen Pfarrer im inbrünstig-kulturpessimistisch gehaßten Dortmund degradierten Superintendenten Theodor Schlosser, zu unfreiwillig hochkomischen kleinen Kunstwerken machen. Solch zum Weinen oder Lachen trauriges Spielverderbertum glaubte man vorher nur vom verbitterten Spielzeugesel I-Ah in Milnes Pu-Bär-Romanen zu kennen. Vielleicht ist die Ehe auch für manche Menschen, die sie sich intensiv wünschen und auf sie vorbereiten, einfach nicht das Richtige. Vielleicht sind Ehe, Karriere, Wohlstandserwerb für niemanden wirklich das Richtige. Vielleicht ist die Depression, in der diese Liebenden untergehen, eine Spätfolge nationalsozialistischer Erziehung, des Kriegs, der Gefangenschaft.

Einer der schönsten und einer der wenigen lebensklugen Texte Horkheimers und Adornos findet sich unter dem Titel "Gezeichnet" im Anhang zur "Dialektik der Aufklärung". "Im Alter von 40 bis 50 Jahren", so schreiben sie da, "pflegen Menschen eine seltsame Erfahrung zu machen. Sie entdecken, daß die meisten derer, mit denen sie aufgewachsen sind und Kontakt behielten, Störungen der Gewohnheiten und des Bewußtseins zeigen. Einer läßt in der Arbeit so nach, daß sein Geschäft verkommt, einer zerstört seine Ehe, ohne daß die Schuld bei der Frau läge, einer begeht Unterschlagungen. Aber auch die, bei denen einschneidende Ereignisse nicht eintreten, tragen Zeichen der Dekomposition." Und die beiden Kulturkritiker, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung selber 44 und 52 Jahre alt sind, setzen hinzu: "Es ist, als ob die Menschen zur Strafe dafür, daß sie die Hoffnungen ihrer Jugend verraten und sich in die Welt einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden." Gerhard Henschels archivalischer Familienroman, eines der rührendsten, artistischsten und intelligentesten Bücher, die ich seit langem gelesen habe, läßt sich als poetische Subscriptio dieser traurigen und wahren Sentenz lesen.

Gerhard Henschel: "Die Liebenden". Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2002. 752 S., geb., 25,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2003

Hobbykeller, Nachkrieg
Gerhard Henschels Geschichts-Roman „Die Liebenden”
Anfang des Jahres 2000 besuchte der Satiriker Gerhard Henschel eines jener Literaturseminare, die Walter Kempowski in seinem Landhaus „Kreienhoop” bei Hamburg veranstaltet. Das Seminar beim geduldigen Archivar muss ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein, denn zwei Jahre später gibt Henschel eine überwältigende Archäologie der deutschen Nachkriegszeit heraus. Seine großartige Familiensaga in bearbeiteten Originalbriefen steht ganz in der Tradition der dokumentarischen Collagen Kempowskis.
Mit ungeheurem Materialreichtum zeichnet Henschel eine eindringliche Privatgeschichte der Bundesrepublik. Der dokumentarische Briefroman deckt mit mikroskopischer Detailgenauigkeit die Epoche von 1940 bis 1993 ab. Eine orchestral kollagierte Ouvertüre aus zahlreichen Briefen aus der Feder unterschiedlicher Mitglieder der Familien Lüttje und Schlosser mündet schließlich nach gut hundert Seiten in das monumentale Duett der Liebenden Richard und Ingeborg Schlosser, geborene Lüttje, über 50 Jahre hinweg. Henschel lässt die Dokumente unkommentiert für sich sprechen. Seine Bearbeitung beschränkt sich auf Kürzung, Verdichtung und intelligentes Arrangement des Materials. Henschel hat einen bewegenden und stilistisch überzeugenden Schatz aus den Archiven gehoben und breitet ihn in seiner ganzen Fülle aus: Neben weit über tausend Briefen liest man Sterbeurkunden, Operationsberichte, Beschwerdebriefe an Versicherungen, Gewinnmitteilungen von Weinbrandlotterien, juristische Kleinkriegskorrespondenz und Menükarten von Hochzeitsfeiern. Henschel montiert diese Dokumente der verwalteten Welt in den narrativen Fluss der eigentlichen Korrespondenz, um besonders intensive Momente zu markieren, um Akzente zu setzen oder einzelne Lebensabschnitte effektvoll abzuschließen.
Fast unmerklich, dafür aber um so wirksamer strukturiert er sein Material. Äußerst geschickt nutzt er die Polyphonie des Briefromans. Im richtigen Moment erhellt die ordnende Hand des Autors eine dunkle Seite einer Biographie mit Hilfe der Außenperspektive einer Nebenfigur oder setzt einen Kontrapunkt im Notenverlauf zwischen den Lebenslinien. Er spielt mit der ganzen strukturellen Bandbreite des Briefromans. Den Briefen selbst belässt er ihren ursprünglichen Duktus, der ein einmaliges Zeugnis der deutschen Sprache im Wandel der letzten fünfzig Jahre gibt.
Nach den anfänglichen Kriegswirren bricht die offizielle Geschichte nur sehr vereinzelt in die Korrespondenz der Liebenden herein. Die Spiegel- Affäre oder Lübkes Eseleien tauchen nur ganz am Rande auf. Die 68er-Bewegung wird keines Wortes gewürdigt, doch man spürt sie indirekt im neuen Tonfall, den die nachkommende Generation in ihren Briefen anschlägt. Es scheint, als hätten die Liebenden ein für alle Mal genug von der Geschichte und nach Kriegsende endgültig beschlossen, sich ins Private zurückziehen. Auch diese Haltung ist symptomatisch für eine Epoche.
Blicke über den Nierentisch
Mit der ergreifenden Lebens- und Liebesgeschichte von Richard und Ingeborg Schlosser entsteht eine monumentale Saga der Bundesrepublik. Der Werdegang ihrer Beziehung verläuft parallel zum Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands. Im Schicksal des jungen Flak-Helfers Richard und der angehenden Fremdsprachenkorrespondentin Inge spiegeln sich sämtliche Sehnsüchte, Ängste und Obsessionen der jungen Republik. Richard ist ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen. Der Pfarrerssohn lernt die Lehrertochter schon auf dem Gymnasium in Norddeutschland kennen. In den letzten Kriegsmonaten gerät er in russische Gefangenschaft, aus der er schwer krank entlassen wird. Sein Leben lang leidet er an Tuberkulose und ihren Folgen. Inge und Richard werden erst in den Wiederaufbaujahren ein Paar. Man sieht sie schmachtende Blicke über den Nierentisch austauschen und am Stadtrand Herzen in Baumrinden schnitzen.
Die Liebe hat einen schweren Stand in den Zeiten der Wohnungsknappheit. Die Zimmerwirtinnen sind strenger als die prüdesten Äbtissinnen. Der Gipfel des Liebesrausches sickert aus gemeinsam genaschten Weinbrandpralinés. Richard büffelt für sein Maschinenbaustudium, Inge findet ein, zwei Jobs als Sekretärin. Er bekommt sein Diplom, sie ihr erstes Kind. In jungen Jahren sind die beiden ein sehr ergreifendes Paar. Doch als bei Richard Tuberkulose diagnostiziert wird, verbittert er im Kampf gegen die Krankheit und in seinen verbissenen Bemühungen um eine Kriegsversehrtenrente. Aus den Lungensanatorien schickt Richard seine ersten grantigen Episteln, die sich im Laufe der Jahre zu immer mürrischeren Tiraden steigern werden. So passiert es, dass er die Formblätter des Arbeitsamtes auf Stil und Orthographie hin rezensiert. Aus dem beeindruckenden zeitgeschichtlichen Dokument wird nun die Chronik einer langsam zerfallenden Beziehung. Eine große Liebe bekommt unmerklich die Motten.
Richard und Inge bekommen immer mehr Kinder, erwirtschaften sich wechselnde Eigenheime mit wachsenden Doppelgaragen und integriertem Spanienurlaub und entfremden sich doch immer mehr. Der kriegsversehrte Diplom- Ingenieur tüftelt an der Wiederbewaffnung der neuen Republik. Der nachdenkliche Mann wird hoher Beamter im „Amt für Wehrtechnik und Beschaffung”, steigert sich manisch in den Ausbau des gemeinsamen Heimes hinein, brütet über Märklin-Katalogen und verbastelt seine gesamte Freizeit im Hobbykeller, bis man sich fragt, in welchem Schraubstock sein Bastlerhirn nun eigentlich klemmt.
Das perfekte Wohnen wird zur Familienobsession. Auch dies lässt sich als kollektive Psychose einer Generation von Trümmermenschen und Flüchtlingskindern lesen: Wem einmal Haus und Hof abgebrannt sind, läuft Gefahr, den Rest seines Lebens Unkraut jätend im Vorgartenmulch zu hocken. Richard wandelt sich zur schrecklichsten Ausprägung des bundesrepublikanischen Hobbykellerminotaurus und Blumenrabattenberserkers. Die deutsche Gartenbauneurose ist noch gar nicht gründlich genug erforscht. Irgendwann ist die Kindeserziehung abgeschlossen, der Garten perfekt und die Ehe kaputt.
In diesem Moment schreibt Inge ihrem Mann den Brief ihres Lebens. In einem wütenden Befreiungsschlag liefert sie das metaphorische Resümee einer ganzen Existenz: „Heute abend, Donnerstag, habe ich Dich bei Deiner Kompost arbeit eine ganze Weile unbemerkt beobachtet. Ich glaube, dass das, was Du da machst, mit normaler und richtiger Gartenarbeit nur noch wenig zu tun hat. Du huldigst einem Götzen namens ,Kompost‘, der sich meinem Verständnis entzieht.” In diesem Leben vermodert die Gegenwart, um Dünger für eine Zukunft zu produzieren, die ihrerseits nur für eine noch fernere Zukunft kompostiert werden wird. Richard scheitert an seiner eigenen protestantischen Strenge und geht im Alkohol unter. Die Liebenden machen die bittere Erfahrung, eine Existenz im Trümmerdeutschland aufgebaut zu haben und mit sechzig vor den Scherben ihrer Ehe zu stehen. Der Text ist ein erschütternder Abgesang auf die Märklin-Familie.
Henschel hat großes Glück mit seinen Korrespondenten. Beide sind ausgezeichnete Briefschreiber. Ihr Stil ist einfach, klar und präzise. Richards Prosa ist von trockenem Protestantismus geprägt, Inge schreibt genau so, wie man sich das Wirtschaftswunder-Deutsch immer vorgestellt hat: immer gut gelaunt und reizend, sehr patent und akkurat zurechtgezupft. Bis ihr am Ende der gestärkte Rüschenkragen platzt.
Es wäre zu leicht, die Figuren eines falschen Lebens zu bezichtigen. Mit jedem Korrespondenten weitet sich der Blickwinkel auf die Biographien. Das Scheitern der Liebenden ist zu eng mit der Geschichte verwoben, um einem Einzelnen Schuld zusprechen zu können. Bemerkenswert ist die fast schon mönchische Zurückhaltung des bissigen Satiriker Henschel angesichts dieses Monuments langsam Amok laufender Spießigkeit. „Die Liebenden” bergen nicht zuletzt die Geschichte einer asketischen Entsagung des meinungsfreudigen Schriftstellers Henschel, der sich zugunsten seines Materials gänzlich zurücknimmt.
Ihr ganzes Leben träumt die Fremdsprachenkorrespondentin Inge von der Veröffentlichung ihrer Gedichte. Sie schickt ihre Texte an die unterschiedlichsten Verlage. Alle lehnen ihre Lyrik ab. Auch der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe. Nun hat eben dieser Verlag ihre gesammelten Briefe und damit das interessanteste, ergreifendste und formal radikalste deutsche Buch des letzten Jahresveröffentlicht. So verhilft Gerhard Henschel Inge Schlosser nach einigen Jahren doch noch zu poetischer Gerechtigkeit. STEPHAN MAUS
GERHARD HENSCHEL: Die Liebenden. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2002. 752 Seiten, 25,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Dieser Familienroman sei einer der rührendsten, artistischsten und intelligentesten Bücher, die er seit langem gelesen habe, schreibt Rezensent Stephan Wackwitz mit großer Ergriffenheit. Denn so materialreich, rührend und spannend wie hier fand er "Werbung, Verliebtheit, Verlobung und Heirat in der deutschen Gesellschaft der fünfziger Jahre" in keinem Roman von Böll, Grass oder Koeppen geschildert. Wackwitz bewundert den autobiografischen Mut von Gerhard Henschels dokumentarischem Verfahren -(er erzählt, wie wir lesen, die tragische Geschichte seiner Eltern)- ebenso, wie die literarische Kunstfertigkeit dieses archivarischen Familienromans. Das Buch besteht Wackwitz zufolge aus 752 Druckseiten "unkommentierter und offenbar nur unwesentlich gekürzter Familienkorrespondenz", die von den letzten Jahren der Naziherrschaft bis ins Jahr 1993 reichten, dem Zeitpunkt des schrecklichen Verwahrlosungstodes des männlichen Protagonisten. Trotz des dokumentarischen Verfahrens, findet der Rezensent den Untertitel "Roman" durch die Kunstfertigkeit und Effektivität seiner Machart gerechtfertigt, an der ihn besonders die aus der "Selbstbewegung des Materials" hervorgehende Kontinuität und Spannung beeindruckt hat. In diesem Zusammenhang scheut er auch den Vergleich mit Kempowskis "Echolot" nicht. Die Ursache der beschriebenen Lebenskatastrophe sieht der Rezensent in der Überanstrengung, die der Preis für jene Karrieren und Erwerbsbiografien gewesen sei, von der sich die Erbengeneration heute keinen Begriff mehr machen könne. Vielleicht aber sei die Depression, in der er diese Liebenden schließlich ganz physisch untergehen sieht, auch eine Spätfolge von Nationalsozialismus und Krieg.

© Perlentaucher Medien GmbH"
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