Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Gunnar Cynybulks erster Roman „Das halbe Haus“ erzählt eine zwiespältige deutsch-deutsche Familiengeschichte
Westwärts, immer weiter westwärts führt der Ausflug, den Frank Friedrich im Sommer 1981 mit seinem Sohn Jakob unternimmt, tief hinein in den Wald, tief ins unübersichtliche Dickicht. In einer Senke sind die Hufspuren von Wildschweinen zu sehen, man hört das Klopfen eines Spechtes, Bussarde kreisen. Eine Idylle ist das allerdings nicht. Das Herz von Frank Friedrich pocht so laut wie ein Gewitterdonnern. Mit dem Fernglas schweift sein Blick ins Offene, das hinter dem Signalzaun liegt, dem Grenzstreifen, dem akkurat angelegten Niemandsland. Ein Reh und sein Kitz haben sich darin verirrt. Ein „Westreh“ vielleicht? Irgendwann knickt es weg, verheddert sich im Stolperdraht. Auch wenn es ein Schlupfloch geben sollte in diesem Zaunsystem, ein Durchkommen bedeutet das noch lange nicht. In einer Vertraulichen Verschlusssache der DDR hieß es damals, der „richtige und wirksame Einsatz der Schusswaffe im Grenzgebiet ist nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern das zutiefst moralische und humanistische Recht eines jeden Angehörigen der Grenztruppen“. Keine leere Drohung.
Frank Friedrich kommt der Grenze nicht nur in dieser Szene nahe, ohne sie überwinden zu können. Der Wunsch, dem Arbeiter-und Bauern-Staat den Rücken zu kehren, wird mit jedem abgelehnten Ausreisegesuch sehnlicher. Seine Mutter Polina darf schließlich als Rentnerin in den Westen, ein recht zwiespältiges Glück: Die Familienzusammenführung, die Frank nun anstrebt, scheitert ein ums andere Mal, und als vereinsamte Witwe lebt es sich für Polina auch in einem bayerischen Kurort nicht allzu angenehm.
Gunnar Cynybulks erster Roman „Das halbe Haus“ spielt vornehmlich in den Jahren 1981 bis 1984 in Leipzig. Es ist eine Familiengeschichte. Drei Generationen umgreift die Erzählung, vom Ende des Krieges bis zum Beginn des langsamen Endes der DDR. Das Mehrgenerationen-Haus von Cynybulk ist ein halbes nicht nur, weil ein Teil der Familie weg ist, gestorben oder vergessen; man darf den Titel natürlich auf symbolischer Ebene verstehen: das geteilte Land unter einem gemeinsamen Himmelsdach.
Nun ist es nicht so, dass der schreibende Verleger Cynybulk – seit diesem Jahr leitet er den Aufbau-Verlag – der erste wäre, der die Malaisen im real existierenden Sozialismus und das deutsch-deutsche Drama mit einer ausufernden Familiensaga verknüpft hätte. Erinnert sei nur an die preisverwöhnten Romane von Uwe Tellkamp und Eugen Ruge. Aber der 1970 geborene Debütant, der mit vierzehn Jahren die DDR verließ, erzählt seine in Teilen autobiografische Geschichte auf durchaus ambitionierte, originelle Weise: Von Kapitel zu Kapitel wechselt die Perspektive, er schlüpft in verschiedene Sprechkostüme, vermeidet eine allzu simple Figurenzeichnung, streut Stasiakten zur Illustration des bürokratischen Zynismus ein, ist intim vertraut mit den konfliktträchtigen Sorgen seiner Helden.
So ist für Franks kleinen Sohn Jakob, der von einer Sportlerkarriere träumt, der Freiheitsdrang des Vaters zugleich eine Bürde. Mit jedem neuerlichen Anrennen gegen die Mauer zerstört Frank eben auch die Hoffnungen von Jakob, versetzt ihn in die Position des Außenseiters, lässt ihn zuweilen doch ziemlich allein mit seinen inneren Kämpfen zwischen familiärer Loyalität und kollektivem Anpassungszwang. Die neue Liebe Eva, die aufgrund einer früheren Beziehung eng verknüpft ist mit der Nomenklatura des Staates, leidet ebenfalls unter Franks Unbedingtheit, die ihn schließlich sogar ins Gefängnis bringt.
Cynybulk gelingt ein profunder Einblick in die Mentalitätsgeschichte dieser Jahre. In vielen, vielleicht ein wenig zu vielen Details wird diese Zeit lebendig und deren Perfidie bewusst: Die Sympathie für Franks Renitenz und Wut ist im Lauf der fast 600-seitigen Lektüre nämlich zugleich durchsetzt von einem Unbehagen an seinem mangelnden taktischen Geschick und seiner latenten Selbstgerechtigkeit. Dem Leser wird es nicht so einfach gemacht. Wie man sich richtig verhält in einem falschen Leben, das steht zwar außer Frage, erscheint aber dennoch im konkreten Alltag fragwürdig. „Ihr lebt, als hättet ihr tausend Jahre Zeit“, wirft Frank Friedrich bei einer Familienzusammenkunft seinen Verwandten vor. Er selbst lebt für seine Zukunft, als gäbe es kein Morgen.
ULRICH RÜDENAUER
Der Debütant erweist sich
als ebenso ambitionierter wie
origineller Schreiber
Cynybulks Buch liefert
einen überaus profunden Einblick
in die Mentalitätsgeschichte
Im Roman gefährdet der Freiheitsdrang des Vaters
die Sportlerkarriere des Sohns: Unser Bild zeigt die Eröffnung der zehnten Spartakiade, 1987 in Leipzig. Foto: imago
Gunnar Cynybulk: Das halbe Haus. Roman. DuMont
Buchverlag, Köln 2014.
576 Seiten. 22,99 Euro, E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de