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1960 nahm Christa Wolf ein ganz besonderes Tagebuch-Projekt in Angriff: Vierzig Jahre lang porträtierte sie jeden 27. September, notierte die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle eines jeden dieser Tage. Entstanden ist eine erstaunliche persönliche Chronik, ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Existenz als Autorin, als Frau, Mutter, als Bürgerin der DDR und schließlich der BRD.

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Produktbeschreibung
1960 nahm Christa Wolf ein ganz besonderes Tagebuch-Projekt in Angriff: Vierzig Jahre lang porträtierte sie jeden 27. September, notierte die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle eines jeden dieser Tage. Entstanden ist eine erstaunliche persönliche Chronik, ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Existenz als Autorin, als Frau, Mutter, als Bürgerin der DDR und schließlich der BRD.

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Autorenporträt
Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2003

Weghören, schweigen
Der Preis des Bleibens: Christa Wolfs Septembernotizen

Das Gespräch ist fünf Stunden lang, überdauert ein mehrgängiges Abendessen, und die angeregte Unterhaltung stockt keine Sekunde. Doch das entscheidende Thema wird erst angeschnitten, als die Besucherin eigentlich schon gehen will. Wie dem Gastgeber eigentlich ihre Poetikvorlesung gefallen habe, fragt sie schließlich, daß er Vorbehalte hege, habe er ja brieflich mitgeteilt, nicht aber, wogegen diese sich im einzelnen richteten. Der Gastgeber gesteht freimütig ein, daß er das Bändchen beim Lesen ärgerlich gegen die Wand geworfen habe - die darin enthaltene Schilderung einer Griechenlandreise sei allzu konventionell geraten. Vor allem aber, so hält die Gescholtene die Kritik später in ihrem Tagebuch fest, habe sie ihrem Mann Gerhard in den Augen dieses Lesers bitteres Unrecht zugefügt: "Ich erwähnte meinen Mann gar nicht, mit dem ich doch unterwegs war, der komme nur ein paar Mal kurz als ,G.' vor, wenn Feminismus, dann bitteschön auch richtig, ich verhielte mich zu meinem Mann, wie sonst Schriftsteller zu ihren Frauen." In diesem Punkt kannte Max Frisch sich aus, doch Christa Wolf, sein Gast an jenem 27. September 1986, findet zu einer überraschenden Antwort: "Ich sagte, was Gerd betreffe, unser Verhältnis zueinander, sei ich so scheu, daß ich ihn nicht in einem Buch darstellen wolle." 

Jetzt hat Christa Wolf einen Band veröffentlicht, in dem sie von diesem Grundsatz behutsam abweicht. Er versammelt 41 kurze Texte aus ebensovielen Jahren: Einer Anregung folgend, die Maxim Gorki 1935 erstmals vorbrachte und die 25 Jahre später  von der Zeitschrift "Istwestija" erneuert wurde, hielt die Autorin wie zahlreiche andere Schriftsteller ihre persönlichen Erlebnisse des 27. September 1960 fest. Dieser Tag avancierte in den folgenden Jahren für Christa Wolf zum Kristallisationspunkt ihres Bemühens, den Alltag festzuhalten, "gegen den unaufhaltsamen Verlust von Dasein" anzuschreiben, überzeugt "von dem erzählerischen Potential in beinahe jedem beliebigen Tag", wie es im Vorwort der nun  publizierten Sammlung der Einträge aus den Jahren 1960 bis 2000 heißt.

Im Zwiespalt, diesen Herbsttag jedes Jahr aufs neue mit besonderem Eifer minutiös festzuhalten, ohne ihn - um das Experiment nicht zu verfälschen - als besonders zu erleben, sind eine Reihe von Miniaturen entstanden, die halb Alltagsnotat, halb Reflexion zu weiter ausgreifenden Fragen sind. Jede einzelne von ihnen wird man als eine präzise Beschreibung eines winzigen Ausschnitts von ostdeutscher Wirklichkeit schätzen, gleichzeitig als Kapitel einer fortgesetzten Familiengeschichte, die, ohne es zu wollen, auch in dieser privaten Komponente in den Bann schlägt: Da ist das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, das sich gemeinsam aus der Position einer vielversprechenden Stellung im System allmählich auf den Rand zubewegt, da sind die beiden Töchter mit ihren Partnern und Kindern und deren zunehmende Distanzierung zu den Institutionen der DDR, da sind Kollegen und Freunde - daß manche von ihnen die Wolfs bespitzeln, bleibt auch nach der Wende unerwähnt.    

Am auffälligsten ist dabei die Wandlung, die Christa Wolf in ihrem Verhältnis zum System der DDR durchmacht und die von ihr noch niemals so offen und überzeugend geschildert worden ist wie in diesem Konvolut von Tagebucheinträgen, gerade weil der Band es nicht auf eine diachrone Analyse anlegt. Daß dieser Wandel dem allmählichen Verlust von Illusionen geschuldet ist, wird rasch deutlich, ebenso daß die Wolfs im Verlauf der sechziger und frühen siebziger Jahre nicht mehr an eine Reform des Systems aus sich selbst heraus glauben können. 1978 erinnert sie sich angesichts des maroden Zustands einer mecklenburgischen Landstraße, "wie ich mich früher um all diese Fehler gegrämt, mich mit jedem Versäumnis, jedem Versagen identifiziert habe", und fragt sich, "wann eigentlich das aufzuhören begann: Ein langer, schmerzlicher Prozeß, bis diese Identifikation in freudlose Schadenfreude umschlägt."

Diese distanzierte Haltung bleibt allerdings ein frommer Wunsch. Schon ein Jahr später heißt es: "Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten", und sie gesteht sich im Gespräch mit ihrem Mann eine "unauflösbare Identifizierung mit diesem Land" ein. Dieses Pendeln zwischen Engagement und Abwehr, zwischen Aktivität und Rückzug macht einen besonderen Reiz dieser Notate aus, gerade weil es zu keiner dauerhaft eingenommenen Position kommt: Da ist zum einen der Rückzug in die mecklenburgischen Idylle, der Erwerb eines immer länger genutzten Sommerhauses (als es 1983 abbrennt, kaufen die Wolfs im nächsten Jahr ein anderes), die verweigerte Mitarbeit in offiziellen Gremien, da sind ausgedehnte Reisen in den Westen - und auf der anderen Seite ist da der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, das Engagement für Häftlinge, der Einfluß, den die populäre Autorin immer noch auf hohe Politiker hat und den sie nutzt. Daß sie außerdem in der DDR große Privilegien genießt, weiß sie auch, und wenn sie beim Arztbesuch trotz eines vollen Wartezimmers gleich zur Untersuchung gebeten wird, ist ihrem Notat durchaus etwas Erleichterung über das Privileg und die gesparte Zeit anzumerken.  

Daß Christa Wolf unter diesem Zwiespalt zwischen Abkehr und Einmischung massiv leidet, wird permanent deutlich, daß sie in einer Ausreise keine Alternative sieht, auch, selbst wenn ihre Gedanken zunehmend um die Frage einer Übersiedlung kreisen: "Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. Diesen doppelten Boden haben seit ein paar Monaten alle meine Gedanken. Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Weghören, wegsehen, oder zumindest: schweigen."

Tatsächlich zahlt sie noch in einer anderen Währung, auch die benennt sie klar, wenn sie über die Auswirkungen reflektiert, die von den Publikationsbedingungen in der DDR auf das Schreiben der einzelnen Autoren ausgehen. 1971 hält sie fest, daß es hier "unmöglich ist, in der nötigen Schärfe und mit den nötigen Verbindungen zur Gegenwart zu schreiben und zugleich an Veröffentlichung zu denken, aber ich will dieses Buch möglichst noch veröffentlichen können. Also funktionieren bestimmte Zensurbehörden in meinem eigenen Kopf ganz zuverlässig, ich aber mache mich jeden Morgen auf, bewußt dagegen anzugehen." Zum Problem geworden ist diese Diskrepanz zwischen Schreibintention und -praxis erst mit den Jahren, dann aber scheint die Distanz auch zu den davor entstandenen Texten ganz erheblich. In den Notizen von 1971 heißt es weiter: "Als ich in den letzten Tagen Korrekturen für eine Nachauflage des ,Geteilten Himmel' lesen mußte," - das Buch ist damals acht Jahre alt - "kamen mir manchmal die Tränen über die ungebrochene Welthaltung, die das noch ausstrahlt."

Davon kann wenig später schon keine Rede mehr sein: "Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt", heißt es einmal, und die gebrochene Welthaltung wird die Autorin bis zum Ende ihrer Septembernotate, bis weit über das Ende der DDR hinaus, nicht mehr los. Ein Anzeichen dafür ist ihr auch nach der Wende dezidiert zurückhaltendes Urteil, wenn es denn überhaupt zu einem Urteil kommt. Lieber referiert sie ganze Unterhaltungen, Schlagzeilen oder Fernsehnachrichten, sie stellt meist dar, ohne zu bewerten. Gerade bei den Notizen aus den späten Sechzigern und frühen Siebzigern wird nicht immer klar, wie die Autorin zu den Erscheinungen steht, die sie beschreibt - um so mehr verblüffen dann die klaren und illusionslosen Aussagen in anderen Passagen.

Ähnlich verhält es sich in den Absätzen, die sich konkreten politischen Ereignissen widmen, den Debatten beispielsweise um die Biermann-Ausbürgerung, gegen die Christa Wolf protestiert hatte. Der "Schock dieses Jahres" sei dies gewesen, vermerkt sie elf Monate später, sie spielt auf die Repressionen des Staates an, denen sie in der Folge ausgesetzt war, betont aber auch ihren "Willen zum Hiersein", der sich verfestige. Auch die heftige Debatte in den ersten Jahren nach dem Mauerfall um die Rolle, die sie im System der DDR spielte, um Privilegien, die Erzählung "Was bleibt" und das späte Eingeständnis der Stasi-Mitarbeit finden in den September-Notaten jener Jahre nur vermittelt Widerhall. Viel ist davon die Rede, daß die Tagebuchschreiberin sich verfolgt und angegriffen fühlt, wenig von den konkreten Gegenständen, um die es in den Debatten geht. Wichtiger als eine Analyse der Motive, die hinter Biermanns Ausbürgerung stehen, ist ihr, welche Freunde das Land daraufhin - wie etwa Sarah Kirsch - verlassen haben.  

 Weil aber die 650 Seiten dieses Bandes den Vorsatz, sich minutiös dem Alltag zuzuwenden, so getreu einlösen (auch wenn das Notat nicht immer dem 27. September gilt, auch wenn manchmal summarisch und aus zeitlicher Distanz berichtet wird), bewahrt das Buch neben allen Erörterungen über die Sitution der Autorin und der DDR-Gesellschaft auch großartige Landschaftsschilderungen, etwa aus dem Sommersitz im mecklenburgischen Dorf Meteln oder auch vom Volkspark Friedrichshain in Berlin. Viele dieser Tagesnotizen erweisen sich als Kurzgeschichten von spröder Eleganz. Vor allem die Berichte von der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit Gerhard Wolf (der zu diesem Band einen knappen Kommentar beigesteuert hat), lassen das Urteil Max Frischs, der freilich von diesem Band nichts wissen konnte, als zumindest vorschnell erscheinen. Diese Passagen, die eine von Respekt und Offenheit geprägte langjährige Verbundenheit zum Inhalt haben, die vom gemeinsamen Kochen, Diskutieren, Reisen, Lesen und Schreiben sprechen, den Gerhard Wolf im Kosmos Christa Wolfs einnimmt, trotz aller Scheu der Autorin sehr plastisch werden. Wir erleben ihn als harten Kritker, konzentrierten Leser und unkonzentrierten Autofahrer, als Interpreten und zuverlässigen Beistand seiner Frau, und wenn sie ihn nachts anruft, um ein paar erinnerte Zeilen eines Goethe-Gedichts zu verifizieren, kann sie seiner Aufmerksamkeit sicher sein. 1987, als sie immerhin schon 36 Jahre verheiratet sind, notiert Christa Wolf, wie sie beim nächtlichen Lesen ihren bereits eingeschlafenen Mann atmen hört: "Ich lauschte auf seine Atemzüge und wünschte mir, daß ich sie noch lange hören kann - solange ich lebe."  

Christa Wolf: "Ein Tag im Jahr 1960 - 2000". Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 640 S., 20 Collagen von Martin Hofmann, geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Ein großes, ein wichtiges Buch." (DIE ZEIT)

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2003

Allein mit unserer Zeit
Die DDR sitzt mit am Tisch: Christa Wolfs 41 Herbsttage
So sieht an einem Donnerstag im Jahr 1979 das Leben in Mecklenburg aus: „Eine neue Schule, in der es noch nach Kalk und Farbe riecht, die POS II. Frau B. wartet schon, der Raum, in dem die Lesung sein soll, sonst das Lehrerzimmer, füllt sich. Tische mit glänzenden Sprelakartplatten in Hufeisenform aufgestellt, giftgrüne Platzdeckchen, die keine Funktion haben, über sie verteilt, an der Wand ein strahlender jugendlicher Honecker vor himmelblauem Bildhintergrund: sicher von einem Werbefachmann so arrangiert. Herr St. leitet ein.” Eine Erzählung könnte so beginnen, eine der beliebten Prosaminiaturen über die Gattung des lesenden, diskutierenden Schriftstellers.
Aber eine Geschichte zum Anfassen, „etwas Festes, Greifbares, wie ein Topf mit zwei Henkeln”, will sich nicht ablesen lassen aus den 41 Berichten über einen „Tag im Jahr”, die Christa Wolf seit 1960 alljährlich geschrieben und nun veröffentlicht hat. Es handelt sich nicht um die Kapitel eines Romans verlorener Illusionen. Gewiss, man kann hier noch einmal verfolgen wie aus der jungen Christa Wolf, die 1960 in Halle mit ihrem Mann Gerhard Wolf recht ernst über „Kunst und Revolution, Politik und Kunst, Ideologie und Literatur” spricht, die weltberühmte Autorin wird, deren Weltverhältnis Ende der sechziger Jahre bricht und gebrochen bleibt. Es mag, wer will, in diesem umfänglichen Buch nach Formeln suchen, die Christa Wolfs Verhältnis zur DDR erfassen. Dem besonderen Reiz dieser Tagebuchblätter wird eine solche Suche nach „Stellen” nicht gerecht.
Eine Idee Maxim Gorkis aufgreifend, hatte 1960 die im Jahr der Oktoberrevolution gegründete „Iswestija” die Schriftsteller der Welt aufgerufen, den 27. September zu beschreiben, einen Tag wie Dutzende andere auch. „Als erstes beim Erwachen der Gedanke: Der Tag wird wieder anders verlaufen als geplant”, begann Christa Wolf ihren Bericht, er wurde vierzehn Jahre später veröffentlicht. Das Datum blieb markiert im Kalender. Gegen die Furie des Verschwindens, „diesen unaufhaltsamen Verlust von Dasein” setzte sich, mal in freudvoller Erwartung, mal pflichtbewusst Christa Wolf in jedem Herbst an die Schreibmaschine.
Ein solches Unternehmen hat seine Tücken. Man verliert die Unbefangenheit gegenüber einem Tag, wenn man weiß, dass man über ihn schreiben wird. Auch gab es Jahre, in denen am Tag selber keine Zeit blieb zur Niederschrift, die dann erst später erfolgte. Aber dem literarischen Programm Christa Wolfs kam der Aufruf der „Iswestija” dennoch sehr entgegen.
Wie man keinen Gewinn macht
Von einem Garten, grün, wuchernd, üppig, wild, dem „Garten überhaupt” handelt eine der schönsten Erzählungen von Christa Wolf, „Juninachmittag” aus dem Jahr 1965. Hier fand sie zu ihrem Ton. Die Erzählung war auch eine Verteidigung des Alltags, des Familienlebens gegen allerlei Ansprüche von außen, gegen den Bitterfelder Zwang zum halb Heroischen, halb Produktiven. Und sie wurde nur deshalb nicht zur blumig-duftenden Wiesenidylle, weil die Ansprüche der Welt doch nicht geleugnet, weil im Gegenteil aus dem Garten heraus Ansprüche auf Welt angemeldet wurden.
Darin liegt wohl der andauernde Grundkonflikt dieses Lebens. „Viel Zeit vertan mit falschen ,Engagements‘”, notiert Christa Wolf 1977. „Sich selbst nicht so wichtig nehmen, die eigene Rolle realistisch einschätzen, ist vielleicht auch eine Art von Resignation.” Sie sucht einen Winkel, „in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfung, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen dafür, daß ich so bin oder: so werde.” Aber sie weiß, dass es diesen Winkel für sie nicht gibt und dass sie es darin auch nicht lange aushalten würde. „Eigentlich habe ich eine Abseits-Rolle nie angestrebt”, heißt es 1979.
Wer „Ein Tag im Jahr” zur Hand nimmt, ist versucht, sofort die entscheidenden Jahre nachzuschlagen: Mauerbau, 11. Plenum, Prager Frühling, Biermann-Ausbürgerung, Wende. Aber das Buch sperrt sich dagegen, will nicht als Kommentar zur Zeitgeschichte gelesen werden. Der alltägliche Rhythmus aus Aufstehen, Einkaufen, Kinder versorgen, Kochen, Schreiben, Schlafengehen behauptet sein Eigenrecht gegen die Zeitgeschichte wie gegen den Zwang und den Wunsch, das eigene Leben als sinnvolle Folge von Ereignissen zu erzählen.
Aber die DDR, die ihren Bürgern ein fast familiäres Verhältnis der Nähe aufgezwungen hat, die nicht bloß Staat, sondern Lebensform sein wollte, sitzt immer mit am Tisch. Das kommt dem menschlichen Bedürfnis zur Einmischung, zum Wirken entgegen, weckt aber früh schon auch den Wunsch, intensiv in Ruhe gelassen zu werden, nach Innen gewendete Fluchtgedanken: „Ich sehe, daß die nächsten Jahre schlimm werden, daß man sich nur einigermaßen bewahren kann, wenn man sich nicht den üblichen Massenveranstaltungen aussetzt, daß aber dies wieder zu einer gewissen Isolierung und Lebensfremdheit führen muß ... Ich spüre es bei jeder Berührung mit der Öffentlichkeit. Die eigene Welt, die wir uns gezimmert haben, kann nicht ewig halten. Jedem Auto, das nachts bei uns vorbeifährt, lausche ich nach.”
Der Leser lernt in diesen Tagebuchblättern vor allem die Familie Wolf kennen: die Töchter, Annette und Tinka, deren Freunde und Männer, und Gerhard Wolf, den Begleiter all der Jahre, den beruhigenden, kritisierenden, ermunternden Gesprächspartner. 1990 sitzt das Ehepaar beim Steuerberater, Gerhard Wolf hat seinen Verlag Janus Press gegründet. Welchen Gewinn er denn erwirtschaften wolle: „Gar keinen. Er wolle endlich die Bücher machen, die ihm schon lange am Herzen gelegen hätten.”
Dass er das erst 1990 kann, sagt genug über die DDR. Dennoch ist der Bericht vom 27. September 1990, während der Kampagne gegen „Was bleibt” geschrieben, der wohl bitterste aller dieser Einträge aus dem Herbst. Kurz notiert wird das Gespräch mit einem amerikanischen Psychoanalytiker: „Aber guck dir doch die an, die gegen dich losziehen! Sie sind selbst leer, hassen das Lebendige in Dir. Oder nehmen sich selbst etwas übel und müssen ihren Selbsthaß auf dich projizieren! – Ich immer wieder: Ja, ja. Aber es bleibt ein Rest, wo sie recht haben. – Er: Sie haben nicht recht. Die Schuld, die du empfindest, ist eine andere, als sie dir einreden wollen.”
Zwanzig Collagen Martin Hoffmanns, zusammengestellt aus Pressefotos und Schnappschüssen vom Alltagsleben, Kneipenszenen, Versammlungen oder einen Pioniernachmittag zeigend, illustrieren das Buch. Ähnlich verfährt Christa Wolf beim Schreiben. Zwischen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen ist Platz für Landschaftsschilderungen, Einkäufe im Dorfkonsum oder im Intershop, für Gespräche, Zufallsbegegnungen, Telefonate, Lesungen, Fernseheindrücke, Lektüre. Von Halle zog die Familie zunächst nach Kleinmachnow, später nach Berlin. Viel ist vom Haus in Mecklenburg die Rede, das die Leser aus „Sommerstück” kennen. Es gibt Berichte aus Köln, wo Christa Wolf an der Trauerfeier für Heinrich Böll teilnahm, aus Zürich, wo sie Max Frisch traf, und aus Santa Monica. Durch das serielle Prinzip erhält der Leser Einblick ins Wolfsche Universum, fragt sich, welches Geschenk Tochter Tinka, die am 28. September Geburtstag hat, in diesem Jahr erhalten wird, fürchtet die Eintragungen über Schlaflosigkeit, Krankheiten, Enttäuschungen.
Es ist eine sehr stabile Welt, von innen beunruhigt durch den Versuch, sich selbst verständlich zu werden, das eigene Verhalten zu erklären, auch zu rechtfertigen. Aber das lässt Mitte der neunziger Jahre nach. „Anscheinend bin ich aus dem Status der Zeitgenossin in den der Zeitzeugin gerutscht.” Die Frage nach Versagen, Verdienst und Schuld ist der Frage gewichen, wie es gewesen und geworden ist. So werden diese persönlichen Tagebuchblätter zu einem Dokument. Sie erzählen, wie man sich selbst historisch wird. Das ist ein Schritt in die Freiheit.
JENS BISKY
CHRISTA WOLF: Ein Tag im Jahr. 1960 - 2000. Luchterhand Verlag, München 2003. 654 Seiten, 25,00 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Auch wenn Susan Sontag und Christa Wolf vieles gemeinsam haben, so unterscheidet sich die amerikanische von der deutschen Kollegin in einem zentralen Punkt, behauptet Ursula März: in ihrer Ablehnung der "Krankheit als Metapher". Für Christa Wolf sei das ein ganz selbstverständlicher, geradezu ihr "innigster" Gedankengang, führt März dagegen an und zitiert Wolf aus einem kürzlich gegebenen Spiegel-Interview: "Jede Zelle des Körpers reagiert, wenn in der Gesellschaft etwas nicht stimmt." Die Psychosomatiker würden bedenkenlos zustimmen, so März, aber was heiße das in der literarischen Praxis? Heißt das nicht auch, fragt sie weiter, dass man alles, jedes Symptom mit Argwohn betrachten muss, dass nichts unverdächtig bleibt? Diese Grundhaltung, die März auch als den "Vergeblichkeitsblick" bei Wolf bezeichnet, zieht sich für die Rezensentin durch das ganze Buch, das im übrigen nach einem besonderen literarischen Prinzip funktioniert: vierzig Jahre lang hat Wolf ihren Alltag an einem 27. September protokolliert. Zufällig der Tag vor dem Geburtstag der Tochter, so dass sich Veränderungen im Leben der Autorin plausibel abbilden lassen, meint März. Jene Leidenshaltung an der Welt (nicht im Privaten, wo ein außerordentliches Eheglück geschildert werde), diese seltsam "diffuse Melancholie" gleicht in den Augen von März einem hypochondrischen Bewusstsein; allerdings, und das sei das Bitterste einer solchen Lebensbilanz, meint März, handele es sich dabei um etwas "zutiefst Unbewusstes".

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Uns, den Lesern, bietet sich nun mit diesen Büchern die Chance, nicht nur am privaten und beruflichen Leben der Schriftstellerin teilzuhaben. Sie erlauben uns auch über mehr als 50 Jahre hinweg einen Blick auf die großen und kleinen historischen Ereignisse dieser Zeit und deren ganz persönliche Einordnung durch Christa Wolf."
neunzehn100 Heft 1/2017 (Sept/Okt/Nov)