Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 3,50 €
  • Gebundenes Buch

Jacques Attali führt den Leser in das Innere des Geheinmisses, auf einem Reise durch Zeit und Raum, eine Suche durch alle fünf Kontinente, zurück ins mythische Einst und nach vorn in die Zukunft. Er schickt uns durch die Gassen Venedigs, entfaltet die Bilderwelt der Aborigines Australiens vor uns und die Zahlenspiele der Kabbala; er zeigt uns die rituellen Muster des Tanzes, des Stierkampfes und des Fussballs, und er läßt uns einen Blick tun in die modernen Paläste des Minotaurus: die Psycholanalyse, die Geldströme der Weltwirtschaft, die virtuellen Welten des Internet. Ein Labyrinth zu…mehr

Produktbeschreibung
Jacques Attali führt den Leser in das Innere des Geheinmisses, auf einem Reise durch Zeit und Raum, eine Suche durch alle fünf Kontinente, zurück ins mythische Einst und nach vorn in die Zukunft. Er schickt uns durch die Gassen Venedigs, entfaltet die Bilderwelt der Aborigines Australiens vor uns und die Zahlenspiele der Kabbala; er zeigt uns die rituellen Muster des Tanzes, des Stierkampfes und des Fussballs, und er läßt uns einen Blick tun in die modernen Paläste des Minotaurus: die Psycholanalyse, die Geldströme der Weltwirtschaft, die virtuellen Welten des Internet. Ein Labyrinth zu durchqueren, und sei es nur ein einziges Mal, verändert für immer das Bewusstsein. Am Ende de Weges durch ältestes Wissen und neueste Kenntnisse steht man vor dem Labyrinth der Labyrinthe: Ob die magischen Rituale, die Zaubersprüche, die Beschwörungsformeln von morgen, die Attali uns selbst gibt, eine Ariadnefaden sind, muss jeder für sich selbst erfassen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Beim Fähnlein Faselkopf
Jacques Attali will Pfadfinder sein / Von Richard Kämmerlings

Der Minotaurus ist erlegt, doch Theseus irrt fluchend durch das Labyrinth. Da hat ihn Dädalos für seine Jagd nach dem Zwitterwesen mit neuester Technik ausgestattet und jetzt das. Um sich nicht die schwere Kabeltrommel aufzuhalsen, nahm er für den Kontakt mit Ariadne lieber ein extra leichtes Handy mit. Doch den heißen Draht zur Geliebten hätte er nur aufzurollen brauchen, aus dem schnurlosen Apparat dagegen klingen nur sinnlose Ratschläge. So nah als wär' man da? Wer im Labyrinth dem Ausgang am nächsten ist, hat oft noch den weitesten Weg vor sich. Immer erreichbar, doch ewig getrennt: Zuviel Mobilität kann tödlich sein.

Theseus, unterwegs zwischen Athen, Kreta und Delos, um Frauen zu verführen und Abenteuer zu bestehen, ist ein Luxusnomade. So bezeichnet der französische Publizist und Wirtschaftswissenschaftler Jacques Attali in seinem neuesten Buch den zeitgenössischen Typus des global player, des Reisenden in Sachen Ökonomie, Kultur oder Freizeit. Während die Flüchtlings- und Migrationsströme anschwellen, entwickelt sich in den Industrieländern eine neue Art grenzenlos mobilen Vagabundentums, dessen Wahlspruch lautet: My home is my laptop. Nach Jahrtausenden nimmt die Menschheit wieder Abschied von der Seßhaftigkeit.

Den mobilisierten Massen auf der Schwelle zum nächsten Jahrtausend frommen nach Attali die bewährten Überlebensstrategien nicht mehr - unser Theseus fällt seinem Vertrauen in die moderne Technik prompt zum Opfer. Die Neuzeit setzte auf die rationalen Gesetze der Wissenschaft, glaubte an einen linearen Fortschritt der Geschichte und dachte sich den Lebenslauf des einzelnen als gerade Bahn zunehmender Vervollkommnung. Wälder wurden gerodet, durch chaotisches Gassengewirr breite Schneisen geschlagen und die Ströme der Gelder und Waren vernünftigem Planen unterworfen. Es kam darauf an, "schnell voranzukommen, geradeaus zu gehen, Zeit zu gewinnen, für klare Sicht und Vorhersehbarkeit zu sorgen". Für Labyrinthe war in einer solchen Welt kein Platz und vor allem keine Zeit: Wozu durch die Gänge schweifen, wenn das Ziel so nah liegt?

Doch im Zeitalter von Chaostheorie, Hypertext und globalisierter Ökonomie glaubt Attali, der "seit langem" versucht, "die Zeichen der fernsten Zukunft in den geheimnisvollen Wundmalen der Vergangenheit aufzuspüren", in der intensiven Beschäftigung mit dem uralten Symbol des Labyrinths einen Universalschlüssel gefunden zu haben, der "uns dabei hilft, die Zukunft in all ihren Dimensionen zu verstehen, der wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen, ästhetischen, philosophischen . . ." Da lohnt sich doch der Griff zur Feder. Für Attali ist das Labyrinth nicht irgendein Symbol, sondern vielmehr "die letzte Botschaft, welche die Nomaden den Seßhaften übermittelt haben, als hätten sie geahnt, daß ihre fernen Abkömmlinge eines Tages, nachdem sie unfreiwillig wieder zu Nomaden wurden, in diesen vergessenen Zeichnungen die Wege der Weisheit werden suchen müssen, die für ihre Zukunft notwendig sind".

Diese Wege zu verstehen wird nach Attali "schon bald unerläßliche Voraussetzung für die Beherrschung der Moderne sein". In mittelalterlichen Kirchen finden sich im Boden eingelassene Labyrinthe, die Pilger auf Knien durchquerten, um das Erlösungsgeschehen zeichenhaft nachzuvollziehen. An die Stelle einer linearen Heilsgeschichte, sei sie jüdisch-christlich, aufklärerisch oder marxistisch fundiert, tritt bei Attali freilich der Zickzackkurs der Selbsterfahrung. Labyrinthisch denken bedeute, "Geradlinigkeit und Transparenz zu vergessen".

Unter Berufung auf ethnologische Studien liest Attali aus den universell verbreiteten Mythen vom Irren und Fehlgehen eine Grundstruktur heraus. Jedes Labyrinth erzähle die vierfache Geschichte "einer Reise, einer Prüfung, einer Initiation, einer Wiederauferstehung". So ist etwa die Jenseitsreise oft mit dem Gang durch ein Labyrinth verbunden. Leider nimmt sich Attali bei seiner Mythen-Bricolage nicht die Zeit, einzelne davon genauer zu erkunden. Bezeichnend für sein Verfahren ist viel mehr, daß er auch den Umkehrschluß zieht: Wenn einer eine Reise tut, ist das Labyrinth nicht fern; es irrt der Mensch, sobald er sich bewegt. So zeigt sich das Erbe des Strukturalismus von seiner Schokoladenseite: Alle Unterschiede schmelzen dahin, wenn man aus dem konkreten Material nur ausreichend abstrakte Prinzipien gewinnt.

So mag sich beispielsweise der Leser schon länger fragen, was Nomaden eigentlich mit Labyrinthen zu tun haben. Nun ja, auch diese verlieren eben manchmal die Orientierung. Attalis wichtigstes Beispiel ist der vierzigjährige Zug des Volkes Israel durch die Wüste nach dem Exodus. An dieser Stelle habe das Alte Testament, in dem ansonsten keine Irrgärten vorkommen, sein Labyrinth versteckt. Moses ist Theseus, das Goldene Kalb "eine Art Minotaurus". Der Sinai ist der notwendige Umweg zum Gelobten Land.

Doch die Wüste als Labyrinth zu betrachten führt seinerseits reichlich in die Irre. Das Fehlen der Wände bedeutet nämlich, daß der alte Trick mit dem Zaubergarn nicht klappt. Wer sich in der Wüste verirrt, ist verloren im Meer der Möglichkeiten, wenn ihn keine höhere Macht auf den rechten Weg bringt. Schlimmer als das Raffinement des Architekten ist die Konturlosigkeit der Natur; der hier Rettung verheißende Kompaß ist wiederum im Labyrinth nutzlos.

Doch was als solches durchgeht, bestimmt Attali ohnehin frei nach Lust und Laune. Ihm gilt das Telefonnetz ebenso als Labyrinth wie die Hirnphysiologie, das World Wide Web genauso wie die Weltgeschichte, nicht zu vergessen die Frau, das ewige Rätsel ("Ein Labyrinth zu durchqueren ist wie in das weibliche Geschlecht eindringen"). Ferner treten in dieser Rolle auf: die Ökonomie und die Gesellschaft, das Unbewußte und die Stadt, das Trojanische Pferd und die "Odyssee", außerdem der Mikroprozessor, die Erziehung, der Blutkreislauf, das Selbst, die Evolution, der Tanz, der Wald, Billardspielen, Metrofahren und Sport (vor allem Fußball!).

Man ahnt es schon: Auch Attalis eigenes Werk kann nur als Irrgarten durchwandert werden. "Wenn man ein Buch öffnet, ist es, als träte man in ein Labyrinth ein." Der inflationär verwendete Begriff soll selbst der Ariadnefaden sein, der dem Leser den Weg zur letzten Seite weist. Wie es ihm beispielsweise gelingt, die Gedächtnisarchitekturen der antiken Rhetorik als Labyrinthe zu lesen und zugleich mit der Seßhaftwerdung der Menschheit und der modernen Ökonomie in Zusammenhang zu bringen, das ist schon eine Meisterleistung in Sackgassenbau. Wie unbekümmert Attali hier und anderswo mit den Jahrtausenden umspringt, ist nicht mehr mit dem labyrinthischen Verfahren zu rechtfertigen, wonach zeitlich weit entfernte Punkte räumlich nah beieinander liegen können und umgekehrt.

Labyrinth ist hier im Grunde nur eine Metapher für Komplexität jeder Art, Hauptsache unübersichtlich und "nicht-linear". Doch die Zweidimensionalität des Labyrinths taugt als Bild für zeitgenössische Strukturen wie beispielsweise das Internet nicht mehr. Denn es ist immerhin ein geplantes und konstruiertes Artefakt, kein zufälliges, aus einer Vielzahl von Einzelfaktoren emergierendes System. Ein Irrgarten ist ja nur für den Herumirrenden ein Rätsel, nicht aber für seine Erbauer oder neutrale Betrachter. Selbst der im eigenen Bauwerk gefangene Dädalus erhebt sich mit seinem Sohn Ikarus in die Lüfte. Von oben können sie genau sehen, wohin sie sich hätten wenden müssen.

Einen Einblick in die persönlichen Hintergründe seiner Labyrinthversessenheit gibt Attali nur im Vorbeigehen: "Liegt es daran, daß mein eigenes Leben einem Labyrinth ähnelt, mit seinen Sackgassen und Rückschritten, einer Annäherung an ein Zentrum, das nie weiter entfernt war als in den Augenblicken, da ich es erreicht zu haben glaubte?" Die Mitte, um die seine öffentliche Existenz kreiste, war François Mitterrand, dessen Spezialberater in Wirtschaftsfragen und vordenkerischer "Sherpa" Attali lange Jahre gewesen ist. Das Fiasko der von ihm zu Beginn der Neunziger ins Leben gerufenen Osteuropa-Bank war sicher eine Sackgasse, in die sich der Ökonom lieber nicht verrannt hätte. Der geforderte Abschied von der "Transparenz" wirkt leicht frivol vor dem Hintergrund des Finanzskandals, der ihn 1993 zum Rücktritt vom Posten des Bankpräsidenten zwang.

Bereits 1990 hatte der umtriebige Starintellektuelle ein Manifest zur bevorstehenden Jahrtausendwende verfaßt. In "Millenium" entwarf er das Bild einer Welt im rasanten Wandel, dessen Richtung sich jedoch aus der historischen Betrachtung ablesen lassen sollte. Die geschichtsphilosophisch verbrämte Erzählung vom Aufstieg und Fall der ökonomischen Großmächte hat sich mittlerweile als unzutreffende Prognose erwiesen. Jetzt beschwört Attali die Gefahr einer weltweiten "Überklasse" von Labyrinth-Experten, die ihr Arkanwissen der aus orientierungslosen Nomaden bestehenden Mehrheit vorenthalten. Doch die Gefahr einer Revolution scheint gering, müßten die Deklassierten doch erst einmal den Weg zur Bastille finden, die zu stürmen wäre. Doch statt mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, rät Attali am Ende zu kontemplativer Versenkung, um Selbstfindung durch Selbstverlust zu erreichen. Es gelte, "das Labyrinth nicht als Problem, sondern als die Lösung" anzusehen. Der Irrweg ist das Ziel. Alternativen bietet das Buch des bekennenden Lebemanns genug: Mancher mag die "Gastronomie und die Erotik" vorziehen, die, welch Glück, nach Attali ebenfalls "den Anfang einer Initiationsreise in Labyrinthe von extremer Finesse darstellen".

Jacques Attali: "Wege durch das Labyrinth". Aus dem Französischen von Michaela Messner. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1999. 220 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr