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Das Leiden an der Unvollkommenheit in ihren vielfältigen Formen, das in einer kaum überschaubaren Fülle von Mythen und Bildern weltweiten Ausdruck findet, provoziert ebenso vielfältige kulturelle Visionen und Konstruktionen von Vollkommenheit. Aus dem Bewusstsein seiner Unvollkommenheit heraus sehnt sich der Mensch seit jeher nach Vollkommenheit und entwickelt eine Reihe kultureller 'Anthropotechniken', die ihn diesem Ziel näher bringen sollen. 'Vollkommenheit' bietet den Kontrapunkt zum Problem der menschlichen Unvollkommenheit, der sich einerseits aus dem Bewusstsein der 'extrapositionalen'…mehr

Produktbeschreibung
Das Leiden an der Unvollkommenheit in ihren vielfältigen Formen, das in einer kaum überschaubaren Fülle von Mythen und Bildern weltweiten Ausdruck findet, provoziert ebenso vielfältige kulturelle Visionen und Konstruktionen von Vollkommenheit. Aus dem Bewusstsein seiner Unvollkommenheit heraus sehnt sich der Mensch seit jeher nach Vollkommenheit und entwickelt eine Reihe kultureller 'Anthropotechniken', die ihn diesem Ziel näher bringen sollen. 'Vollkommenheit' bietet den Kontrapunkt zum Problem der menschlichen Unvollkommenheit, der sich einerseits aus dem Bewusstsein der 'extrapositionalen' Stellung des Menschen in der Natur (H. Plessner), seiner Unfestgestelltheit, Unsicherheit und Vorläufigkeit, und andererseits aus der unhintergehbaren Differenz zur Idee des Göttlichen ergibt, mit welcher sich überall die Vorstellung einer dem Menschen vorenthaltenen Vollkommenheit verbindet. Als Prärogativ des Göttlichen ist Vollkommenheit den Menschen entzogen, ja stellt geradezu das Andere des Menschen dar. Das schließt jedoch nicht aus, dass in der Geschichte des Menschen Einzelne dieses Ideal für sich, die Gesellschaft, die Menschheit angestrebt haben oder in den Augen anderer dieses Ziel sogar erreicht haben, wofür die Namen großer Heiliger und charismatischer Künstler (Raffael, Mozart, Goethe) stehen mögen. Als eine utopische, auf Erden (noch) nicht verwirklichte Kategorie eignet der Vollkommenheit das Element des Zukünftigen. Das ist das Motiv des 'Endes', das im deutschen Wort 'Vollendung' mitklingt. Mit dem Vollkommenheitsthema sind Zeitvorstellungen verknüpft, die eine unvollkommene Gegenwart im Hinblick auf eine vollkommene Urzeit (das Goldene Zeitalter) und/oder Endzeit (das Paradies auf Erden, die messianische Zeit, die klassenlose Gesellschaft usw.) relativieren (vgl. Ernst Blochs 'Geist der Utopie'). Unsere gegenwärtige Situation ist durch den Widerspruch von Zukunftskrise und Zukunftsvisionen geprägt, die mit den bahnbrechenden Entwicklungen der Gentechnologie auf eine ganz neue Grundlage gestellt sind. Die Arbeit an der menschlichen Unvollkommenheit ist aber nicht erst die Entdeckung des technologisch inspirierten 'Posthumanismus', sondern ein Menschheitsthema von universalem Rang, das gerade auch die Literatur von ihren allerersten Anfängen an beschäftigt hat.
Autorenporträt
Jan Assmann, geboren 1938, hatte von 1976 bis 2003 den Lehrstuhl für Ägyptologie an der Universität Heidelberg inne und leitet seit 1978 ein Grabungsprojekt in Luxor (Oberägypten). Seit 2005 ist er Honorarprofessor für Allgemeine Kulturwissenschaft und Religionstheorie an der Universität Konstanz, außerdem Ehrendoktor verschiedener Universitäten, darunter der Hebrew University, Jerusalem. 1998 erhielt er den Preis des Historischen Kollegs.

Aleida Assmann ist Professorin für Anglistik und Literaturwissenschaften in Konstanz.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2010

Göttliche Ansprüche
Aleida und Jan Assmann sind zur Vollkommenheit gelangt
Mit dem Band „Schrift und Gedächtnis“ eröffneten Aleida und Jan Assmann 1983 die Erfolgsreihe des Arbeitskreises zur „Archäologie der literarischen Kommunikation“. In regelmäßigen Abständen folgten weitere kulturgeschichtliche Studien, etwa zum Verhältnis von „Kanon und Zensur“, „Einsamkeit“, „Hieroglyphen"“ oder „Verwandlungen“. Mit dem zehnten Band ist nun die „Vollkommenheit“ erreicht – ein Umstand, der auch demjenigen, der der Macht der Zahlen wenig zutraut, plausibel erscheint. Das Cover des Buches bildet ein vorangestelltes Motto für die folgenden sechzehn Einzelbeiträge: Neben dem Inbegriff des hellenistischen weiblichen Schönheitsideals, der „Venus von Milo“, ist auf ihm als spannungsreiches Pendant zu diesem Aphrodite-Torso die englische Künstlerin Alison Lapper zu sehen – auch sie hat keine Arme, allerdings schon seit der Geburt im Jahr 1965.
In einleitenden Überlegungen zum Wortfeld der Vollkommenheit deutet Aleida Assmann eine Erzählung des aus Salem in Massachusetts stammenden Autors Nathaniel Hawthorne. In „The Birthmark“ versetzt er sein Publikum in das auslaufende 18. Jahrhundert und präsentiert einen Wissenschaftler, der es nicht dulden will, dass seine Frau ein Muttermal im Gesicht trägt: Ohne dieses wäre sie vollkommen. Es gelingt dem ästhetisch zutiefst verstimmten Mann, den Schandfleck zu entfernen, doch verliert die Patientin dabei ihr Leben. Sie vollendet sich im Tod.
Dass Vollkommenheit dem eigenen Anspruch zu folgen hat, bringt in gewisser Perfektion der Narzisst zum Ausdruck. Seine Wahnwelten werden aus psychoanalytischer Perspektive präsentiert (Andreas Kraft) und in ihrem Illusionscharakter entlarvt. Selbst dem Analytiker falle es schwer, manipulativ einzuwirken, da sich der Narzisst in seinem Allmachtsanspruch gegen Einflussversuche von außen hartnäckig abschotte. Auf diese Weise wird er zum Antitypos jeglicher Kommunikation und verhindert die Definition des Ichs über das Andere, die Jacques Lacan zum Geheimnis spiegelnder Identifikation erklärt hatte. Geschieht dies aber, wird der Seinsmangel auf Dauerbetrieb gestellt.
Die Suche nach Vollkommenheit ist aufs das Engste mit der Gottesfrage verbunden, wie der 2008 verstorbene Tübinger Mediävist Walter Haug, dem dieser Sammelband gewidmet ist, demonstriert. In der Philosophie des Mittelalters gab es einen Dreischritt von der Reinigung über die Erleuchtung zur Vollendung. Nur durch eine ekstatische innere Illumination, nicht durch Denkprozesse konnte der Mensch das alles überschreitende Eine, das christlich modifiziert als Schöpfergott auftritt, erreichen. Allerdings bedurfte es dabei des gnadenhaften Entgegenkommens Gottes. David von Augsburg beschreibt im 13. Jahrhundert eine momentane mystische Einheit, die sich durch blitzartig einbrechendes göttliches Licht ergibt. Ohne dass der Heilige Geist tätig wird, geschieht hier jedoch nichts.
Nikolaus von Kues zog aus derartigen Beobachtungen den Schluss, die prinzipielle Unerreichbarkeit Gottes zu postulieren. Als Zusammenfall aller Gegensätze (coincidentia oppositorum) ist er für den Verstand des Menschen nicht fassbar. Haug erkennt an dieser Stelle einen radikalen Bruch mit der bisherigen Tradition, kräftig dränge schon hier das Subjekt in den Vordergrund. Es liege eine „Kontinentalverschiebung des Denkens“ vor: „Auf einmal steht man woanders und entdeckt die Kluft hinter sich.“
Die Überlegung, wie sich ein entsprechender Perspektivenwechsel durch die Brille der Gentechniker ausnehmen kann, führt die Kommunikationsarchäologen an die Schwelle zur Gegenwart, wenn nicht gar ins Reich der Zukunft (Manfred Weinberg). Neben Michel Houellebecq, Peter Sloterdijk und Martin Heidegger betritt Botho Strauß die moralische Kampfzone, wusste er doch schon im Jahr 2000, dass vor dem Auge Gottes das, was „die Heutigen bramarbasierend ,Selbstvergottung‘ nennen“, nicht anderes ist „als präpotente Aufgockelung“.
Doch mit dieser Einsicht ist es kaum getan, vor allem dann nicht, wenn an die Stelle kultureller Anthropotechniken die Möglichkeit tritt, den Menschen informationell umzukodieren. Statt den Menschen zu hegen und zu züchten, geht es jetzt darum, ihn zu machen. „So muss der Mensch nun göttliche Ansprüche an sich stellen.“ Wenn allerdings Nikolaus von Kues im Recht ist und Gott prinzipiell unerreichbar bleibt, lässt sich mit einer gewissen Gelassenheit abwarten, wie uns das, was als vervollkommnende Überbietung gedacht ist, in neue Differenzerfahrungen stürzt. ALF CHRISTOPHERSEN
ALEIDA ASSMANN, JAN ASSMANN: (Hrsg.): Vollkommenheit. (Archäologie der literarischen Kommunikation X.) Wilhelm Fink, München 2010. 296 Seiten, 39,90 Euro.
Vom Narzissmus bis zur
genetischen Umkodierung
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Neugierig hat Alf Christophersen den zehnten Band der von Aleida und Jan Assmann herausgegebenen Reihe "Archäologie der literarischen Kommunikation" zur Hand  genommen, der der "Vollkommenheit" und der Suche des Menschen nach ihr gewidmet ist. Aufmerksam geht der Rezensent die einzeln Beiträge des Bandes durch. Von der Interpretation einer Erzählung Nathaniel Hawthornes bis zur Genmanipulation und ihren Vollkommenheitsfantasien folgt Christophersen mit Interesse den Beiträgen, wobei er sich als evangelischer Theologieprofessor besonders von der Verbindung der Vollkommenheit mit der "Gottesfrage" gefesselt sieht.

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