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Es hat Kracauer nicht gut getan, daß er im Schatten der Freunde stand, vor allem in dem Benjamins. Das hat zu Kurzschlüssen Anlaß gegeben. Man sah in ihm einen Flaneur, in seinen Texten Denkbilder - oder aber man führte ihn als den authentischeren Materialisten gegen jene Freunde ins Feld. Schließlich tat einer von ihnen, der gestrenge Adorno, ein übriges und machte Kracauer und Benjamin gemeinsam den Vorwurf, sie hätten zuviel Respekt vor der Faktizität.
Kracauers Straßen-Buch, das auf Blochschen Spuren und durch die Benjaminsche Einbahnstraße zu wandeln scheint, geht jedoch eigene Wege.
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Produktbeschreibung
Es hat Kracauer nicht gut getan, daß er im Schatten der Freunde stand, vor allem in dem Benjamins. Das hat zu Kurzschlüssen Anlaß gegeben. Man sah in ihm einen Flaneur, in seinen Texten Denkbilder - oder aber man führte ihn als den authentischeren Materialisten gegen jene Freunde ins Feld. Schließlich tat einer von ihnen, der gestrenge Adorno, ein übriges und machte Kracauer und Benjamin gemeinsam den Vorwurf, sie hätten zuviel Respekt vor der Faktizität.

Kracauers Straßen-Buch, das auf Blochschen Spuren und durch die Benjaminsche Einbahnstraße zu wandeln scheint, geht jedoch eigene Wege. Es spendet keinen mimetischen Trost, läutert die Dinge nicht zur Idee und entzündet keine Hoffnung im Abseits. Vielmehr deutet es auf etwas Beunruhigendes, ja Grauenerregendes, das nicht gebannt, sondern nur aufgewiesen und benannt werden kann. Und zwar in einer Sprache, die weder Müßiggang noch Eitelkeit kennt. Sie ist nicht hermetisch, sondern hat Fugen, durch die fremd der Wind des Alltäglichen weht. Keinen bösen, aber einen unbestechlichen, nicht einmal einen kühlen, sondern einen teilnehmenden Blick richtet Kracauer auf die Welt - auf eine verlassene Welt.Die Zeit ist gekommen, Kracauers Straßen-Buch, erschienen 1964, mit Skizzen und Essays aus den Jahren 1926 bis 1933, neu zu lesen, frei von der Bevormundung durch Bilder und Konstruktionen, denen er sich verweigert hat.
Autorenporträt
Kracauer, Siegfried
Siegfried Kracauer, geboren am 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main, war Architekt, Soziologe, Filmkritiker und Geschichtsphilosoph. Er gilt als einer der bedeutendsten Feuilletonisten der Weimarer Republik und leitete von 1930 bis 1933 die Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung. Mit Die Angestellten veröffentlichte Kracauer 1930 die erste empirisch-soziologische Studie in Deutschland. Er wird darüber hinaus zu den Begründern der Filmsoziologe gezählt. 1933 floh Kracauer mit seiner Frau nach Paris und 1941, nach Kriegsbeginn, nach New York. Am 26. November 1966 starb er dort an einer Lungenentzündung. Zu den wichtigsten Werken Kracauers zählen neben Die Angestellten u.a. die Theorie des Films, die Essaysammlung Von Caligari zu Hitler und der Roman Ginster.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2010

Feuilleton II Eine Berg-und-Tal-Bahn in Halensee, ein Abgesang auf den Kurfürstendamm, Tageskinos in der Münzstraße, Clowns und Akrobaten im Pariser Winterzirkus, die Canebière in Marseille, Heinrich Mann liest in einem Berliner Warenhaus - lauter wunderbar genaue Stadtbilder, lauter Feuilletons für die "Frankfurter Zeitung", die Siegfried Kracauer zwischen 1926 und 1933 schrieb und die nun in einer erweiterten Ausgabe ein weiteres Mal erschienen sind: "Straßen in Berlin und anderswo" (Bibliothek Suhrkamp, 15,80 Euro). Kracauer liest etwas heraus, statt à la Adorno etwas in die Dinge hineinzulesen, er ist ganz nah dran, dann wieder weit ausschwingend, und wenn man das heute liest, wirkt es wie eine zum Leben erwachte archäologische Rekonstruktion verschollener Städte.

pek

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.05.2004

Der falsche Untergang der Regenschirme
Da kam keine Avantgarde mehr mit: Siegfried Kracauers „Straßen in Berlin und anderswo”
Keine zweite Kunstform des 20. Jahrhunderts war so wie das Zeitungsfeuilleton imstande, die Spanne zwischen der Vergänglichkeit des Tages und der Ewigkeit der Kunst im freien Flug oder im Tigersprung zu nehmen. Zu dieser Erkenntnis verhilft Baudelaires berühmte Definition der Modernität: Sie ist „das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist”. Eine Probe darauf kann man bei Betrachtung der Luxussärge moderner Klassiker, den postumen Werkausgaben machen, und zwar anhand der Nachweise der Erstdrucke: Wie schon Baudelaires Gründungsschrift der Moderne seinerzeit im Figaro, so waren auch viele der heute kanonischen Texte von Hugo von Hofmannsthal, Georg Simmel, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Joseph Roth und anderen erstmals als Feuilletons in großen Tageszeitungen erschienen. Siegfried Kracauer, der von 1921 bis 1933 Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung war, schrieb im Jahr 1930 an seinen Freund Theodor Adorno: „Ein wesentlicher Teil der Zeitungsartikel wird nach einheitlichen Gesichtspunkten verfasst, sodass er mit dem Tag nicht verloren geht.”
Der Tag ließ sich durch das Buch ein Schnippchen schlagen, sofern nicht die Zeit dazwischenkam. Eine Kollektion seiner Straßenaufsätze mit Paris, Berlin und Marseille als Stationen bereitete Kracauer Anfang der dreißiger Jahre zur Wiederveröffentlichung vor. „Aber dann kam Hitler”, schrieb er im Jahr 1950 wiederum an Adorno, beglückt über die Wiederentdeckung von Manuskripten in zwei Kisten, die ihn nach dem Krieg aus Paris in seinem amerikanischen Exil erreichten: „Noch heute wäre ein solches schmales Buch nicht schlecht”, fuhr Kracauer brieflich fort, „und ein Titel wie ‚Straßen im alten Europa‘ wäre vielleicht eine Lockung.” Nochmals anderthalb Jahrzehnte später kam das Büchlein mit seinen funkelnden Texten, die an Beschreibungsdichte und träumerischen Gedankenflügen ganze Passagenwerke vorwegnahmen, als Band 72 der Edition Suhrkamp zur Welt: Der Klappentext wies den Inhalt – das Wort „Feuilleton” wollte man tunlichst vermeiden – als „Skizzen und Essays” aus, die „in den Jahren von 1926 bis 1933 in der Frankfurter Zeitung erschienen”. In den Benjaminischen achtziger Jahren verschwand der Band wieder aus dem Verlagsprogramm, um 1987 als Lizenzausgabe in dem auf Feuilleton- und Flaneurliteratur spezialisierten Berliner Kleinverlag Das Arsenal wiederaufzutauchen. Dort ist jetzt eine schmucke Neuausgabe erschienen. Nicht nur der Satz, der vor zwanzig Jahren noch nach Bauhaus roch, sondern auch der Einband und die Illustrationen wurden renoviert. War auf dem Umschlag von 1987 eine Skizze von Paul Klee abgebildet, so findet sich dort jetzt eine Graphik von Max Beckmann. Nie war Kracauer in passenderer Gesellschaft als zwischen diesen beiden Polen der modernen Kunst in Deutschland.
Die noch von Kracauer selbst vorgenommene Einteilung des Buchs in die sukzessiven Abschnitte „Straßen”, „Lokale”, „Dinge” und „Leute” gibt den schreibenden Bildermann und studierten Architekten zu erkennen, dessen Wahrnehmung der Städte durch die Schule der Zeichenkunst, der Fotografie und des Films gegangen war. Sie verrät aber auch den Zeitungsmenschen, der in Spalten, Rubriken und Kolumnen operierte. Die Skizze „Zwei Flächen” ist so sinnlich abstrahiert wie nur ein Bild von Paul Klee, und Kracauers Beschreibungen aufständischer Objekte sind das literarische Äquivalent zur Malerei eines Fernand Léger. Wunderbare Grotesken wie „Das Schreibmaschinchen”, „Die Hosenträger” und „Falscher Untergang der Regenschirme” sind an Franz Kafka geschult und dem Prager ebenbürtig.
Und dann gibt es Sätze, die nicht nur ganze Bibliotheken erschließen, sondern auch regelrecht Augen öffnen: „Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft.” Nicht Paris ist der Fluchtpunkt, sondern Marseille – die letzte Stadt des alten Europa vor der Zerstörung ihres Alten Hafens durch SS-Truppen. Durch die Gassen folgte der Beobachter schon 1931 einer gespenstischen Figur, über deren Bewegungen es heißt: „Die Alte kümmerte sich nicht um das Schwinden der Menschen.” Dieses letzte Stück des Buchs, „Die Erscheinung auf der Cannebière”, gibt die Schlussepisode von Kracauers – unbegreiflicherweise bei Suhrkamp seit Jahren vergriffenem – Roman „Ginster” wieder, der in den zwanziger Jahren in anonymen Fortsetzungen in der Frankfurter Zeitung erschienen war. So gebar das Feuilleton große literarische Kunstwerke.
Der Band schließt – unverändert aus der früheren Ausgabe übernommen – mit einem Essay von Gerwin Zohlen, der sich im Impressum auf bescheidene „Anmerkungen” zurücknimmt. In der heute unüberschaubar angewachsenen, doch zumeist redundanten Sekundärliteratur zu Kracauer ist dieser Aufsatz nach wie vor das beste Stück. Was Zohlen über Kracauers doppelte Reklamation von Anonymität und Exterritorialität für seine schreibende Existenz bemerkt, sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen und dann über die ganze Veranstaltung namens „Moderne” nochmal ganz von vorne nachdenken: „Wenn die Exterritorialität auf die Position dessen deutet, der sich den intellektuellen Moden, Fraktionen und gängigen Themen gegenüber reserviert verhält, so ist Anonymität korrespondierend dazu die Haltung, die darauf beharrt, als Ich zurückzutreten, wo andere ihre diversen Ichs provokativ in Worte fassen. Sie bleibt paradox; denn so, wie Kracauer sie in Kunstfragen ironisch, sarkastisch, nicht frei von Koketterie als vor- oder antimodernes Verfahren nutzen konnte, verwendete er sie zugleich doch als die strikt zu Ende gedachte Unabhängigkeitserklärung der Moderne.” Da kam bald keine Avantgarde mehr mit.
VOLKER BREIDECKER
SIEGFRIED KRACAUER: Straßen in Berlin und anderswo. Verlag Das Arsenal, Berlin 2003. 174 Seiten, 14,80 Euro.
Frühlingsszene auf dem Berliner Kurfürstendamm 1932
Foto: SCHERL
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