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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2010

Es ist nicht gerecht, aber gut

Lebensklug und konservativ im besten Sinne: In ihrem Roman "Mit Blick aufs Meer" schildert Elizabeth Strout Ehepaare, wie sie auch ihr großer Kollege John Updike im Visier hatte - nur aus der Hüfthalter-Perspektive.

Von Martin Halter

Olive Kitteridge wird in Crosby und selbst in ihrem Haus mehr gefürchtet als geliebt. Nicht nur, weil sie als Mathematiklehrerin, Ehefrau und Mutter oft barsch und ungeduldig war. Die heile Welt eines Küstenstädtchens in Maine hat keinen Platz für Bosheit und Schmerz: Der Blick aufs Meer ist atemraubend, der Frühling ein Affront an strotzender Schönheit, die Vorgärten sind gepflegt, die Sünden der Puritaner lässlich: kleine Familiendramen, heimliche Liebschaften, kleinstädtische Kabalen und Skandälchen, über die man sich nach dem Kirchgang und im Segelclub herrlich das Maul zerreißen kann. Olive ist der Drachen im Haus, die Schlange im Paradies. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und weder auf Freund noch Feind Rücksicht: George W. Bush ist für die grimmige Demokratin ein gehirnamputierter Cowboy, ihr Gatte ein Friede-Freude-Eierkuchen-Trottel. In Olives rauher Schale steckt natürlich ein großes, weiches Herz und ein hellwacher Kopf; mit beiden macht sie sich nicht gerade glücklich.

Der gutmütige Henry ist selbst zu Denise, der verhuschten Apothekengehilfin ("Emanzipation ist nichts für mich"), nett, die Olive für ein dummes Mäuschen hält. Henry weiß es besser und nimmt seiner Frau die spitze Zunge nicht übel. Auch Mrs. Kitteridge weiß, was sie an ihrem Henry hat, so richtig allerdings erst, als er nach einem Schlaganfall im Pflegeheim vor sich hin dämmert. Wohin soll sie jetzt mit ihrer Liebe? Dass sie ihn einst beinahe verlassen hätte für einen Lehrerkollegen, kann sie ihm jetzt nicht mehr beichten. Ihr Sohn Christopher hat sich, spät genug, aus ihrer erdrückenden Umarmung gelöst. Seine Flucht nach Kalifornien, in eine überstürzte Ehe, war ein Fehler, aber auch Notwehr. Olive, die Mutterglucke, hackte mit ihrem Misstrauen und ihrem erbarmungslosen Sarkasmus jede Frau weg, die sich zwischen sie und ihr Küken zu stellen wagte, und das Alter und die Einsamkeit haben sie nicht eben versöhnlicher gestimmt.

Familien, darin ist sich Olive ausnahmsweise einig mit all den Mäuschen und Versagern Crosbys, müssen zusammen halten gegen äußere Zumutungen und innere Ängste. Sie weiß, dass im Lauf der Jahre "Leben miteinander verwachsen wie Knochen und dass nicht jeder Bruch heilt": Kein Fremder, kein Enkel, kein Job in New York, keine Selbsthilfegruppe, nicht einmal Terror und Tod sollen sich darum zwischen Mann und Frau, Eltern und Kinder drängen, egal, wie krumm und brüchig ihre Schicksale zusammengewachsen sind. Olive hat für alles Verständnis und Mitgefühl, selbst für Junkies und Verrückte. Aber die Menschen brauchen nun einmal "irgendein Gefühl der Sicherheit in diesem Meer von Angst", und das kann nach Lage der Dinge nur Liebe sein. Geteiltes Leid ist halbes Leid; in der Familie schmecken selbst bittere Enttäuschungen nach Glück. Man tröstet sich mit selbstgebackenen Muffins und muffigen Lebensweisheiten: "Irgendwie geht es immer weiter."

Elizabeth Strouts Roman "Mit Blick aufs Meer" ist, auch in erzählerischer Hinsicht, konservativ im besten Sinne: warmherzig, anrührend, lebensklug, aber nie sentimental oder weltfremd. Wo ihrem Landsmann John Updike die Affären und Alltagstragödien seines neuenglischen Bürgertums vorzugsweise mit männlich-phallokratischem Blick aufs Meer beschrieb, schreibt Strout - mit ähnlich feiner Ironie und literarischer Eleganz, aber mehr Mitgefühl und weniger religiöser Inbrunst - aus der Perspektive älterer Frauen, die wissen, wo der Hüfthalter drückt und wie kleine Gehässigkeiten wirken. Sie hebt die Deckel der Seelen und Dächer der Häuser und findet überall: verlorene Illusionen, begrabene Leidenschaften und tief darunter die verzweifelte Sehnsucht, lieben zu dürfen und geliebt zu werden.

Elizabeth Strouts wunderbarer Roman, 2009 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, ist eigentlich eine Sammlung von Erzählungen, die sich über mehr als zwanzig Jahre erstrecken. Olive ist mal Haupt-, mal Nebenfigur, aber immer Herz und Seele der Geschichten. In "Flut" rettet sie einem ehemaligen Schüler das Leben, indem sie ihn so lange mit Erinnerungen und Klatsch zuquasselt, bis der Mann seine Selbstmordpläne vergisst. In "Hunger" kann sie zwar nicht die magersüchtige Nina retten, aber wenigstens ihrer Freundin Daisy zu einem späten Glück verhelfen: Ihretwegen verlässt Harmon, der wackere Heimwerker, seine Frau, die "Zentralheizung seines Lebens". In "Reisekorb" tröstet Olive das arme Dummchen Marlene, die gerade ihren Mann verloren hat und hilflos mit ansehen muss, wie ein junger Taugenichts ihre Cousine verführt; dabei beneidet die große Kümmererin die Jugendlichen um ihre provozierende Unbekümmertheit.

Nein, "es ist nicht gerecht": Das Leben beschenkt die Jungen mit einem Glück, mit dem sie nichts anzufangen wissen, und nimmt den Alten selbst den kümmerlichen Trost ungehorsamer Kinder und siecher Ehepartner. Am Ende, in "Fluss", wird Olive doch noch für ihre ruppige, selbstlose Liebe belohnt: Jack Kennison, ein Republikaner, den sie immer für einen aufgeblasenen Schnösel hielt, holt sie aus ihrer mit Gift und Galle imprägnierten Resignation. "Was doch die Jungen alles nicht wussten, dachte sie, als sie sich neben diesen Mann legte und er sie an der Schulter berührte, oh, was die Jungen alles nicht wussten. Sie wussten nicht, dass unförmige, alte, verschrumpelte Körper so hungrig waren wie ihre eigenen, festen Leiber; dass Liebe nicht leichtsinnig abgewiesen werden durfte, als wäre sie ein Törtchen auf einem Teller von Süßigkeiten, der immer wieder herumgereicht wird. Nein, wenn Liebe zu haben war, dann griff man entweder zu, oder man griff nicht zu. Und ihr Teller war randvoll gewesen von der Güte Henrys, aber sie hatte darüber die Nase gerümpft, hatte immer wieder entnervt ganze Brocken weggeworfen, alles nur, weil sie nicht begriff, was eigentlich jeder Mensch begreifen sollte: dass so Tag um Tag unter den Fingern zerrann."

So feiert Elizabeth Strouts Hymne ans Leben nicht nur die jubelnde, verschwenderische Fülle der Jugend, sondern auch die melancholische Weisheit des Alters, das letzte Aufbäumen der morschen Liebesknochen im Angesicht des Todes. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, kleben die alten Ehepaare zusammen wie "zwei zusammengeklappte Scheiben Schweizerkäse", aus denen das Leben große Löcher herausgefressen hat. Kein Grund, die Nase zu rümpfen oder die Hoffnung aufzugeben. "Was hatten sie noch, außer einander", heißt es in "Winterkonzert", "und was blieb, wenn nicht einmal darauf Verlass war?"

Elizabeth Strout: "Mit Blick aufs Meer". Roman. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. Luchterhand Verlag, München 2010. 352 S., geb., 19,95 [Euro].

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