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Im 23. Jahrhundert ist die Erde für die Raubgier der Märkte und Mächte zu klein geworden. So beginnt die Auswanderung der Starken auf Mond und Mars; auf Erden zurück bleibt nur die alte, schwache Menschheit. Schon zwei Jahrhunderte später erweist sich der Mars als so lebensfeindlich, dass die neuen Menschen zurückkehren und brutal die Macht auf der nun friedlichen Erde an sich reißen. Was wie eine düstere Science-Fiction-Vision klingt, ist ein grandioser Roman über die uralte Frage von Emigration und Heimkehr. Reinhard Jirgl, einer der wichtigsten Autoren der Gegenwartsliteratur in…mehr

Produktbeschreibung
Im 23. Jahrhundert ist die Erde für die Raubgier der Märkte und Mächte zu klein geworden. So beginnt die Auswanderung der Starken auf Mond und Mars; auf Erden zurück bleibt nur die alte, schwache Menschheit. Schon zwei Jahrhunderte später erweist sich der Mars als so lebensfeindlich, dass die neuen Menschen zurückkehren und brutal die Macht auf der nun friedlichen Erde an sich reißen. Was wie eine düstere Science-Fiction-Vision klingt, ist ein grandioser Roman über die uralte Frage von Emigration und Heimkehr. Reinhard Jirgl, einer der wichtigsten Autoren der Gegenwartsliteratur in Deutschland, erzählt in unvergesslichen Bildern von Gier und Gewalt, Unterdrückung und Krieg, Leben und Tod.
Autorenporträt
Reinhard Jirgl, geboren 1953 in Berlin, wo er auch heute lebt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Alfred-Döblin-Preis, den Marburger Literaturpreis, den Joseph-Breitbach-Preis, den Stadtschreiber-Preis von Bergen und den Georg Büchner-Preis 2010. Bei Hanser erschienen zuletzt Abtrünnig (Roman aus der nervösen Zeit, 2006), Land und Beute (Aufsätze, 2008), Die Stille (Roman, 2009), Mutter Vater Roman (Neuausgabe, 2012), Nichts von euch auf Erden (Roman, 2013) und 2016 der Roman Oben das Feuer, unten der Berg.Mit Beginn des Jahres 2017 hat Reinhard Jirgl sich vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er verzichtet auf Lesungen sowie andere Auftritte, desgleichen auf jede Publikation seiner auch weiterhin entstehenden Manuskripte. Alle neu geschriebenen Texte verbleiben in Privatbesitz.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Einen Funken Sympathie findet man in Rezensent Hubert Winkels' Kritik zu Reinhard Jirgls Science-Fiction-Roman "Nichts von euch auf Erden". Das Spiel mit Literatur und Sprache hat zeitweise durchaus Witz, gibt er zu. Aber am Ende ist der Rezensent völlig erschöpft: Es gibt einfach zu viel von allem. Winkels beschwert sich über "seitenlange florale Orgasmusmetaphernwucherungen" und "futuristisch aufgepimpte geologische Fachsprachenstrapazen", mit dem opportunistischen Ich-Erzähler kann er nicht sympathisieren, und die Weltuntergangsstimmung, die Jirgl verbreitet, geht ihm auch ziemlich auf die Nerven. Die Welt ist schlecht, die Realität existiert nicht, dafür wird seitenlang gelispelt. So rettet man weder Welt noch Roman, fürchtet Winkels.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2013

Ich bin die Lüge in euren Ängsten

In Reinhard Jirgls kosmischer Phantasmagorie kulminieren alle Kriege der Geschichte. Es ist eine Abrechnung mit dem Menschengeschlecht und eine Liebeserklärung an das Paralleluniversum der Bibliothek.

Es wäre einfach, sich über dieses Buch lustig zu machen, über seine Exuberanz in stilistischer wie inhaltlicher Hinsicht, über das Titanische und Bürokratische des Zukunftsentwurfs sowie über das noch Titanischere und Bürokratischere der alles niederstreckenden Apokalypse, planvoll vorangetrieben nämlich von einer maliziösen intellektuellen Spezies: den sich selbst schreibenden Büchern, über die ultimative Steigerung menschlicher Grausamkeit bis hin zum massenhaften Verspeisen von lebendigen Kleinkindern in Mars-Restaurants ("Das-Ernährungsproblem, die-Überbevölkerung, die-Armut - alle =auf -1-Streich !gelöst"), über den schon ins Kitschige einer Antitheologie hinüberragenden Zentralsatz, der Todestrieb sei die höchstentwickelte Form der Liebe: "Denn !Dies ist das-Eigentliche, das dem-Menschen=von-Jeher überhaupt einen Sinn hat geben können."

Es wäre ein Befreiungsschlag, denn diesmal geht Reinhard Jirgl, der uns in seinen bisherigen, meist die deutsche Geschichte nachschmeckenden Büchern viel zugemutet hat, bis an die Grenze der Phantasie und der Lesbarkeit. Vielleicht wäre es unterbewusst sogar ein verständliches Revoltieren gegen den bereits im Titel anklingenden Schuldspruch des Jüngsten Jirglschen Gerichts, denn nicht weniger als eine Abrechnung mit der kosmischen Plage Mensch haben wir vor uns: "Äußerste Liebe des-Menschen ist Liebe zur Menschlosigkeit." Moralisch kann man das nicht nennen, denn es fehlt der Appell. Der Pessimismus, für den der Autor bekannt ist, hat sich weiter verdunkelt. Und doch wartet hinter der Schwärze ein neuer, menschenloser Tag: Moral also doch, aber ex negativo.

Weder mit Star-Wars-Retro-Chic noch mit futuristischem Technizismus hält sich Jirgl lange auf, so wissenschaftlich der im fünfundzwanzigsten Jahrhundert spielende Roman an vielen Stellen wirkt. Im Zentrum steht die Conditio humana, der Leib-Seele-Dualismus, der hier zu einem Endkampf stilisiert wird, in dem alle Kriege der Geschichte kulminieren und den zuletzt der Geist gewinnt. So hat dieses spekulative Eposmassiv voller Pathos und narrativer Virtuosität im Kern etwas Ungeschütztes, rührt verstörend in der Ursuppe der Existenz. Wer macht so etwas heute noch? Zudem mag die Lektüre Wochen dauern. Auch wenn der Autor erstmals einige Passagen in Normaldeutsch verfasst hat, so ist doch der größte Teil der fünfhundert Seiten in der typischen, affektive Obertöne der Sprache sichtbar machenden Jirgl-Orthographie verfasst, die nur entzifferbar ist, indem man die Worte innerlich laut vor sich hersagt. Nach zwei Seiten fühlt man sich durchgewalkt wie nach zwei Wochen Raumstation bei Wasser und Kunstbrot.

Wer jedoch diese Mühen scheut oder sich von einigen Entbergungen an der Kalauergrenze abschrecken lässt, dem entgeht eine der großartigsten Phantasmagorien der jüngeren deutschen Literatur, und zwar großartig nicht trotz, sondern wegen ihres Überwältigungscharakters und Detailreichtums: Einer der Genesis auf Augenhöhe entgegengeschriebenen Kosmos-Vision ist der hohe Stil mehr als angemessen. Und man dürfte lange suchen, bis man einen zweiten Autor von solcher Sprachgewalt findet. Das geben selbst jene - weniger werdenden - Verächter des Büchner-Preisträgers zu, denen Jirgls betörender Stil zu gestelzt, zu wenig modisch cool erscheint.

Schon der Prolog, eine donnernde Abrechnung mit des Menschen Gier und Angst, derer sich Savonarola nicht schämen müsste, lässt erahnen, dass im Folgenden die Beschreibung von Welten, Ideen und Umwälzungen wichtiger sein wird als die eigentliche Handlung, die dem Weg einer erwählten Hauptfigur folgt. Die im Vorwort angedeuteten Geschehnisse zwischen unserer Zeit und der des Romans werden in immer neuen Anläufen eingekreist: Die großen Energiekriege begannen im zweiundzwanzigsten Jahrhundert. Es folgten die Kolonisierung von Mond und Mars. Nach diesem Auszug der "Tat=Menschen" kam die erschöpfte Erde endlich zur Ruhe. Dafür verantwortlich war ein Unfall, denn anfangs hatte man problematische Subjekte zum Mond geschafft, um sie dort genetisch zu manipulieren. Das Pazifizierungsgen aber brach aus und sprang auf die Erde über, ließ eine höfliche und geldlose, aber gegängelte Gesellschaft entstehen, eine Art Meta-DDR. Der Preis für den neuen Frieden war die Erschlaffung aller Triebe, zumal des Sex- und des Expansionstriebs. Man lebte seither in isolierten Weltteilen, künstliche Himmel suggerierten einen ewigen Sommerabend. Die Verfassung der europäischen Regierung, "Haus der Sorge" genannt, klingt beinahe ideal fürsorglich: Die Obrigkeit beschränkt sich fernab aller Geschäftsinteressen auf territorialen und ökonomischen Schutz der Bürger, deren Freiheit als höchstes Gut gilt.

Man kann es Jirglschen Zynismus nennen, dass eben diese Verfassung nun als Grundübel des Erdenlebens ausgemacht wird. Hier spricht schon die überlegene und aggressive Mars-Population, die eine Rückkehr aus der Neuen Welt in Betracht zieht, weil das - in der Science-Fiction beliebte - "Terraforming" des roten Planeten wenig erfolgreich war. Eine erste Abordnung wird zur Erde entsandt: die Mission E.S.R.A., wobei man die überdeutliche Parallelisierung mit dem Buch Esra, das die Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil thematisiert, problematisch finden darf. Denn kaum sind die Rückkehrer da, bricht ein Zerstörungswerk los, das eher an versklavende Überfälle der frühneuzeitlichen Europäer auf friedfertige Stämme in aller Welt erinnert. Die Imagosphäre wird zerstört und die Angst kehrt zurück. Deportationen und Zwangs-Gen-Umprogrammierungen stehen an. Das "Haus der Sorge" wird entmachtet und eine Diktatur errichtet. Von innen unterjocht die "Schuld-Industrie" die Bevölkerung, die bald Buße für das Unrecht aller Zeiten tun zu müssen glaubt (wieder so ein böses Jirgl-Zwinkern).

Das meiste davon erfahren wir aus der Perspektive des Ich-Erzählers, dem kurz vor der Volljährigkeit offenbart wird, dass er zur Herrenrasse der Marsianer gehört. Damit bietet sich ihm die Möglichkeit, unter Zurücklassung seiner Verlobten als Sachbearbeiter bei der Interplanetaren Wissenschaftskonferenz die Erde in Richtung Mars zu verlassen, nicht ahnend, wie - im Wortsinn - martialisch es dort zugeht. Eine Identifikationsfigur ist dieser Held nicht, denn schon auf dem Mond erfüllt er bereitwillig die zugedachte Funktion, Ströme von Zwangsarbeiter effizient den Arbeits- und Vernichtungslagern zuzuführen.

Und doch ist er ein Erwählter, denn ihm erscheint ein geheimnisvoller, offenbar allwissender Fremder, dessen Wesen sich erst in einer postmodern-selbstreflexiven Wendung am Ende des Romans erklärt. Man geht kaum zu weit, wenn man in der Hauptfigur, deren Wandlung wir begleiten, die Präfiguration des Nach- oder Antimenschen erkennt, ein Gegenstück zu Nietzsches Übermensch, denn nicht Bejahung, Wille und ewige Wiederkehr ist das Ziel, sondern Kälte, Willenlosigkeit und absolutes Verschwinden, aber das nicht als Strafe (göttlich) oder Sieg des Bösen (teuflisch), sondern als evolutionäre Erfüllung: "Ich, mein eigener Mechaniker, habe das Menschsein von mir abgeschraubt"; "mein Herz aus Kosmos-Eis"; "Ich bin die Bedeutungslosigkeit eurer Ehrungen -:- Bin die Lüge in euren Ängsten -:- Ich dekliniere eure Triebe"; "Ich bin der, dem man nur begegnet, wenn man schon verloren hat".

So bedenkenswert dieser Überbau sein mag, ist das Begeisternde doch die erzählerische und kreative Potenz des Autors. So minutiös und souverän werden die Stadtschaften und Bergwerke auf dem Mars, Scheinessen servierende Restaurants auf dem Mond oder seltsame Sitten auf der Erde imaginiert - darunter das paradoxerweise befriedende "Recht auf den einen Mord" oder das Ritual des "langen Fadens", das den Geschlechtsakt ersetzt hat -, dass der Leser sich in der Erinnerung des Gefühls kaum wird erwehren können, tatsächlich dort gewesen zu sein. Und eben das - die Suggestivmacht der Literatur - ist auch die entscheidende Waffe, mit der im Roman zuletzt die überlegene Zivilisation der Bücher, jenes Paralleluniversum der von Menschen in Brand gesteckten Bibliotheken, in einer Art Aufklärung höherer Ordnung ihre Schöpfer überwindet: "denn Bücher schreiben Schönebücher = ohne Menschen". Solange aber doch noch Menschen da sind, muss das als ultimative Liebeserklärung an die Kraft des Wortes gelten.

OLIVER JUNGEN.

Reinhard Jirgl: "Nichts von euch auf Erden". Roman.

Carl Hanser Verlag, München 2013. 512 S., geb., 27,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.06.2013

Das orangene Leuchten des Himmels
In seinem neuen Roman „Nichts von euch auf Erden“ erzählt Reinhard Jirgl vom Leben auf dem Mars im 25. Jahrhundert.
Das Phantastische dabei ist aber das Bild des Planeten Erde kurz vor seinem Verschwinden
VON HELMUT BÖTTIGER
Reinhard Jirgl ist einer der spannendsten deutschen Thriller-Autoren. Seine Bücher vibrieren vor überraschenden Einfällen, ungeahnten Handlungsverläufen, plastischen Figuren, bildkräftiger Sprache – andere Autoren würden aus einem Jirglroman mindestens fünf oder sechs machen. Und es ist im Laufe der Entwicklung dieses Autors immer deutlicher geworden, dass er sich nicht nur in den Gefilden der Früh- und Hochmoderne bewegt, mit virtuosen Verweisen auf die kulturelle Überlieferung, sondern auch all das in sich aufsaugt, was mit Trash, Boulevard, aktuellen TV-Formaten und Trivialmythen zu tun hat. Sein neuer Roman stellt das nun offensiv aus: Er ist, zumindest auf den ersten Blick, Science-Fiction.
Der zunächst namenlose Ich-Erzähler, der später BOSXRKBN 181591481184 heißen wird, lebt im 25. Jahrhundert auf der Erde.
  Seit acht Generationen ist jedoch auch der Mars besiedelt, man versucht dort, eine erdähnliche Atmosphäre herzustellen und hält sich bis dahin unterhalb der Marsoberfläche auf, in mit Atemluft versorgten Stadtanlagen. Frei erfunden, im Sinne von Fantasyarrangements und Fantasyfiguren, ist hier nichts – Jirgl geht von heutigen Forschungsprojekten aus und denkt sie einfach weiter. „Terraforming“-Programme für die Marsbesiedlung existieren bei der US-Raumfahrtbehörde Nasa jetzt schon, und dass sich auf dem Mars drei große Blöcke gegenüberstehen, ist ebenfalls logisch. Es gibt die Panamerikanische Union, den Zentraleuropäischen Block sowie die Asiatische Einheit – drei Großmächte, die sich feindlich beäugen und ihre Interessen offensiv verfolgen. Sie sind allerdings darauf angewiesen, beim „Terraforming“ zusammenzuarbeiten, also dem groß angelegten chemisch-physikalischen Versuch, eine Marsatmosphäre herzustellen. Dass die Panamerikaner nicht mehr Englisch, sondern Spanisch sprechen, ist dabei einer der vielen Späße, die sich der Autor erlaubt – Englisch ist in diesem Roman eine genauso tote Sprache wie heute Latein.
  Der Mars ist in Jirgls 25. Jahrhundert eine durchaus realistische Vision von der Zukunft der Menschheit. Die übliche Cockpit-Perspektive in Science-Fiction-Texten interessiert ihn dabei kaum. Die eigentliche Utopie aber, die wirklich phantastische Vorstellung einer Welt in vier Jahrhunderten betrifft die Erde. Sie ist befriedet. Es gibt eine „Imagosphäre“, ein hochkomplexes Gebilde der Halluzinationselektronik ein paar hundert Meter über der Erdoberfläche, aus einem extrem widerstandsfähigen Glasfaserflechtwerk. Ihre wichtigste Eigenschaft ist, das Gefühl eines immerwährenden Sonnenuntergangs zu erzeugen: ein orangefarbenes Licht, einen ewigen Dämmerzustand, der die Zeit außer Kraft setzt und das langsame Vergehen der Menschheit belichtet.
  Durch eine genetische Veränderung, die die Marsianer ursprünglich für die Strafkolonien auf dem Mond durchführten und die auf die Erde übersprang, existiert hier keine Gewalt mehr. Die Interaktionen zwischen den Einzelnen sind äußerst ritualisiert. Sie wohnen in Halbkugeln, die aus demselben Material sind wie die Imagosphäre, und kommunizieren miteinander vor allem durch „Holovisionen“: der körperlich anwesende Mensch und seine virtuelle Vergegenwärtigung sind kaum zu unterscheiden, und dadurch ist auch der landläufige Tod überwunden. Es gibt keine Nachkommen, das Entblößen der primären Geschlechtsorgane gilt als lächerlich und kindisch. Die sexuelle Befriedigung findet auf dem Weg des Speichelaustausches statt, unter Zuhilfenahme einer ursprünglich pflanzlichen Substanz, eines Aphrodisiakums von hoher Intensität.
  Diese friedliche Welt am Vorabend ihres Verschwindens ist das wirklich Verblüffende an Jirgls Roman. Sie wirkt wie die Vision eines Paradieses, es ist allerdings nicht das Paradies des Anfangs, sondern ein Paradies des Endes. In der Konfrontation mit der kriegerischen Mars-Welt, in der wir die Eigenschaften der Menschheit und die Prozesse der Menschheitsgeschichte mit all ihren zerstörerischen Machtakkumulationen wiedererkennen, entsteht ein merkwürdig schillerndes Bild. Die sich wegträumende Erde erscheint zum einen als eine Farce, als eine fast kabarettistisch anmutende Version von Erlösungswünschen, zum anderen aber wird sie sprachmächtig ausgestaltet als Gegenentwurf einer absoluten Sehnsucht.
  Die Liebesszenen zwischen dem Ich-Erzähler und seiner „Einzigen“ sind märchenhaft rauschhaft gestaltet, ebenso der künstlich tropische Garten der Geliebten, der vielfältige Farben- und Gemütseffekte erzeugt. Es sind literarische Welten, die hier als Fluchtpunkte inszeniert werden, Stefan George und Alfred Döblin werden angespielt, und der Handlungsablauf bezieht sich – auch in der sprachlichen Diktion – auf das biblische Buch Ezra. Die Balance zwischen einer konkreten Utopie, dem Ende der Geschichte auf der Erde, und der gleichzeitigen Ironisierung desselben ist eine äußerst raffinierte, immerfort schwankende. Da leuchtet etwas auf, das jenseits all des Apokalyptischen angesiedelt ist, das man mit diesem Autor oft verbindet.
  Irritierend, vielschichtig und auch von großer Komik ist diese Grundkonstellation: die melancholische Version des Lebens auf der Erde im 25. Jahrhundert, während auf dem Mars die heutige Erde mit all ihren Verwerfungen sofort wiederzuerkennen ist. Der Thriller, die Gothic- und Horrorstory entwickeln sich daraus zwangsläufig. Die Versuche, mittels großindustrieller Giftgasproduktion eine lebensermöglichende Marsatmosphäre zu erzeugen, erweisen sich als unzureichend und müßig, und man fasst einen neuen Plan, das „Uranus-Projekt“. Es ist ein großes Symbol für unablässige Selbstübersteigerung und Gier, die Zerstörung aller Ressourcen. Durch eine gezielte Sprengung soll die Marsachse so verändert werden, dass sie im selben Winkel zur Sonne steht wie die Erde. Dazu müssen die Marsbewohner vorübergehend wieder zur Erde zurückkehren, und nebenbei stellen sie dort die alten Verhältnisse wieder her.
  In der Schilderung des Marsmilieus knüpft Jirgl an die großen historischen Themen an, die er immer wieder bearbeitet hat. In großen Straflagern sorgen Fronarbeiter für die Lebensbedingungen der Privilegierten und werden in frühkapitalistischen Verhältnissen in industrieller Produktion verheizt. Die Reduktion auf den Körper, die Ausbeutung des Körpers wird in immer neuen, glühenden Bildern heraufbeschworen. Und der „große schwarze Zug“, der in vielen Romanen Jirgls ein Signum des Unbewussten darstellt und an das Schlüsselmoment der Transporte in die Konzentrationslager anknüpft, taucht auch hier wieder auf, in ungeheuren geschichtlichen Rückblenden. Doch genauso suggestiv ist die Beschwörung phantastischer Ereignisse und Lebensläufe: der geheimnisvolle Mann in „Waranlederschuhen“ etwa, der an entscheidenden Wendepunkten der Handlung immer überraschend auftritt, verweist auf literarische Traditionen und zeitgenössische Genres gleichermaßen.
  Jirgl spielt sogar neu mit seiner eigentümlichen Schreibweise, die viele an Arno Schmidt erinnert und doch ganz andere Wurzeln hat: sein spezifischer „alphanumerischer Code“, den er untergründig in der DDR anhand neuer Computersprachen entwickelt hat, wird auf dem Mars sofort übernommen. Und dass er manche Passagen, etwa wenn den Marsbewohnern die merkwürdigen Lebensformen auf der Erde geschildert werden, in normaler deutscher Rechtschreibung präsentiert, ist durchaus als Ironie zu begreifen.
  Jirgl hat immer wieder seine Vorstellungen von der physischen Gestalt einer Druckseite variiert, von der Körperlichkeit der Zeichen und Buchstaben. Er greift über die Moderne und die Romantik bis auf das Barock zurück, um die vielfältigen Verbindungen von Leben und Schrift darzustellen. Dass die Bücher das Leben in sich aufsaugen, ist eine alte Obsession, und es ist auch die Pointe des neuen Romans von Jirgl. Am Schluss bleiben „morphologische Bücher“ übrig, neue organische Substanzen, die über das Geschehen nach der Menschheit berichten. Das bietet etliche spekulative Interpretationsanreize, es berührt philosophische wie literarische Fragestellungen, und mit derlei anspielungsreichen Feldforschungen ist dieser Autor im gegenwärtigen Literaturbetrieb eine auf jeden Fall einsame Größe.
Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2013. 510 Seiten, 27,90 Euro.
Englisch ist in diesem Roman
eine tote Sprache, so wie
in unserer Gegenwart Latein
Jirgls Spiel mit der Körperlichkeit
der Zeichen und Buchstaben
greift bis auf das Barock zurück
Im National Maritime Museum in Greenwich illustrieren die Mars-Bilder der Nasa-Sonde „Curiosity Rover“ die am Freitag eröffnete Ausstellung „Visions of the Universe“.
FOTO: REUTERS
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"Dieser Autor (ist) im gegenwärtigen Literaturbetrieb eine auf jeden Fall einsame Größe." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 8./9.06.13

"Die Jirgl'sche Grundsprache ist so mächtig, dass sich die gewaltigsten Szenen des Romans, schließlich die Apokalypse selbst, als Meer aus Wörtern vor dem Leser ausbreiten." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 04.06.13

"Höher, weiter, schwärzer geht es nicht: Reinhard Jirgls Zukunftsroman ist ein ungeheuerliches Lese- und Endzeiterlebnis." Mathias Schnitzler, Berliner Zeitung, 01./02.06.13

"Grossartiger Zukunftsroman (...) Jirgls Roman entfaltet seine subversive Macht ganz ohne elektrische Schaltpläne. Allein durch die Kraft der Sprache und der Imagination." Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung, 01.06.13

"Dies ist mit all seinen verschiedenen philosophischen, spielerischen, narrativen Ebenen ein hochkomplexer Roman, der etliche spekulative Interpretationsanreize bietet und Jirgls literarischen Kosmos virtuos neu vermisst: eine Vermischung von Hochkultur und Fantasy-Momenten, wie sie im Moment kein anderer so anspielungsreich konzipieren kann." Helmut Böttiger, Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 18.03.13

"Ein in jeder Hinsicht gewaltiges Werk." Stefan Kister, Stuttgarter Zeitung, 23.03.13