• Broschiertes Buch

1 Kundenbewertung

Wie kann man Jugendlichen den Holocaust vermitteln? Digne M. Marcovicz hat dafür einen ungewöhnlichen Weg gefunden: Sie filmte und interviewte zwölf Überlebende des Holocaust, verdichtete deren Erzählungen von Deportation und Lagerhaft zu einer eindringlichen Collage aus Interviewpassagen, Zeitungsausschnitten, historischen und neuen Fotografien. Wie in einem Comicstrip wechseln Wort und Bild in schneller Folge - "Massel" entwickelt einen Sog, dem sich nicht nur der jugendliche Leser schwer entziehen kann!

Produktbeschreibung
Wie kann man Jugendlichen den Holocaust vermitteln? Digne M. Marcovicz hat dafür einen ungewöhnlichen Weg gefunden: Sie filmte und interviewte zwölf Überlebende des Holocaust, verdichtete deren Erzählungen von Deportation und Lagerhaft zu einer eindringlichen Collage aus Interviewpassagen, Zeitungsausschnitten, historischen und neuen Fotografien. Wie in einem Comicstrip wechseln Wort und Bild in schneller Folge - "Massel" entwickelt einen Sog, dem sich nicht nur der jugendliche Leser schwer entziehen kann!
Autorenporträt
Digne M. Marcovicz, geboren 1934 in Berlin, freiberufliche Fotoreporterin und Journalistin für namhafte deutsche Presseorgane und Verlage. Freie Mitarbeiterin bei DER SPIEGEL , Filmemacherin für verschiedene TV-Sender. Zusammenarbeit u.a. mit Alexander Kluge. Eigene Film-, Buch- und Ausstellungsprojekte, u.a. über Martin Heidegger und Joseph Beuys.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2007

Sehr oft Glück gehabt
Von Menschen, die den Holocaust überlebt haben
Zwölf Jahre NS-Diktatur, zwölf Menschen, zwölf Schicksale, zwölf Mal „Massel” gehabt. Das Buch von Digne Marcovicz ist wie eine Fernsehreportage; Bilder über Bilder dokumentieren die Erzählungen der letzten Zeugen der Nazi-Verbrechen. Männer und Frauen, die den Holocaust überlebt haben und von ihren Erinnerungen berichten. Eins eint alle: Sie waren jung und mutig und sind ihren eigenen Weg gegangen, sind geflohen, haben sich versteckt, Papiere gefälscht, die Haare gefärbt, die Identität gewechselt – und sehr oft Glück gehabt.
Die Aufmachung – das Layout mit verschiedensten Typologien, Foto-Collagen und Texttafeln – zieht den Leser regelrecht ins Buch hinein, keine Seite gleicht in ihrer Darstellung der anderen. Gerade für Jugendliche ist der visualisierte Inhalt ideal. Die Autorin filmte und interviewte die Zeitzeugen und machte daraus ein Buch, in dem wie bei einem Comicstrip Wort und Bild in schneller Folge wechseln.
Im Laufe der 384 Seiten werden ganz persönliche Erlebnisse mit historischen Fakten und Zahlen verknüpft; ein überaus zeitgemäßes Buch zu einem bekannten Thema. Doch jede Geschichte ist einzigartig; es sind ganz normale Menschen der Jahrgänge 1913 bis 1926 und zugleich außergewöhnliche, durch das was sie ertragen mussten und was sie aus ihrem Leben gemacht haben. Die letzten Zeugen beeindrucken schon allein dadurch, dass sie trotz all der Entbehrungen und Qualen, die sie erlitten haben, so alt werden konnten und heute noch so direkt und klar darüber reden können. Sie waren damals Kinder oder Jugendliche, die ihre Zukunft retten mussten. Viele von ihnen leben heute in Israel. „Ich bin der Überzeugung, dass jene, die überlebten, eine Minderheit, eine Ausnahme waren. Sie überlebten, weil sie Glück hatten: Massel”, sagt die 80-jährige Havka Folman Raban.
Der Leser erfährt viel über die starke Lebenshaltung vieler Juden. Von ihrem Optimismus erzählt Chava Kiesler. Die Nazis in Böhmen und Mähren ließen sich immer neue Gemeinheiten einfallen: aber nach jeder Aktion haben die Juden gesagt:„Also wenn es dabei bleibt, dann ist es kein Problem für uns.” Aber es blieb nichts, wie es war. Chava kam nach Bergen-Belsen, wo sie mit den berühmten Schwestern Anne und Margot Frank in einer Baracke lebte: „Die Mädchen waren stark abgemagert und sahen schrecklich aus. Sie zankten sich oft wegen ihrer Krankheit, denn dass sie Typhus hatten, war deutlich. Sie bekamen diese ausgehöhlten Gesichter, Haut über den Knochen. Sie froren schrecklich, weil sie die ungünstigsten Plätze der Baracke hatten, an der Tür, die ständig auf und zu ging. Man hörte sie dauernd schreien ,Tür zu, Tür zu‘, und diese Rufe wurden täglich etwas schwächer. Man sah sie wirklich sterben.” Auch Chavas Mutter stirbt; sie selbst wird kurz darauf von den Engländern gerettet.
Und da ist die Geschichte des Lehrers Jizchak Schwersenz, der in Berlin die „versteckte Gruppe” jüdischer Kinder gründete, die ohne Eltern waren, auf der Straße schliefen, mal bei mutigen Deutschen unterkamen. Schwersenz organisierte Essen und Verstecke, stärkte die Kinder seelisch mit Liedern und dem Appell an die Gemeinsamkeit, und er unterrichtete sie. Die Gruppe traf sich irgendwo im Wald, dort wurde das Essen gerecht verteilt, Adressen von Schlafmöglichkeiten wurden weitergegeben. Sie lernten täglich fünf hebräische Wörter, fünf Sätze aus der Thora und etwas Geschichte. Die meisten aus der Gruppe überlebten. Auch an die deutschen Helfer wird übrigens namentlich im Buch erinnert. BIRGITT VON MALTZAHN
DIGNE M. MARCOVICZ: Massel. Letzte Zeugen. Hanser-Verlag, München 2007. 384 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2007

Überleben, um davon zu erzählen

Darf man sich ein Bild vom Holocaust machen? Bernice Eisenstein und Digne M. Marcovicz haben es gewagt, die eine malend, die andere fotografierend - zu Wort kommen letzte Zeugen und Nachfahren.

VON ANDREAS PLATTHAUS

Als junges Mädchen erlebte die Kanadierin Bernice Eisenstein heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, unter anderem "über die Tatsache, dass ich im Sommer lieber in meinem Zimmer saß und las, statt mich draußen in die Sonne zu legen - wir stritten über alles und nichts". In diesem Fall allerdings stritt man um alles, zumindest aus der Sicht von Ben Eisenstein, der als Beryl Eisenstein 1917 in der polnischen Stadt Miechow geboren wurde und wie seine spätere Frau Regina Oksenhendler das Konzentrationslager Auschwitz überlebte. In den Gettos, Arbeits- und Vernichtungslagern, in denen die deutschen Besatzer Eisenstein als Jude gefangen hielten, herrschten Hunger und dementsprechender Vitaminmangel. Die körpereigene Produktion von Vitamin D aber kann durch UV-Licht angeregt werden, auch wenn die üblichen Lieferanten wie Fisch und Milch ausfallen. Es gibt deshalb zahlreiche Berichte aus den Gettos über die regelrechte Sucht nach Sonnenbädern, wenn es die Arbeitszeit erlaubte. Der Streit zwischen Vater und Tochter ging aus der Sicht des Überlebenden um eine Frage von Leben und Tod - auch wenn ihm das gar nicht bewusst gewesen sein mag.

In der Erinnerungsliteratur der Kinder von Schoa-Überlebenden gibt es zahlreiche solche Missverständnisse zwischen ihnen und den Eltern - Verhaltensweisen, die vom Lagerleben geprägt wurden und für die Kinder nicht mehr begreiflich waren, weil sie allem widersprachen, wie sie die Eltern sonst erlebten: Geiz, Misstrauen, Vorurteile. In Art Spiegelmans Comic "Maus" ist der daraus entstehende Konflikt am eindrucksvollsten dargestellt. Bislang hätte man dieses 1992 abgeschlossene Buch auch als die ungewöhnlichste unter den literarischen Darstellungen der Judenvernichtung bezeichnet. Doch jetzt hat Spiegelman Konkurrenz bekommen: durch die 1949 geborene Bernice Eisenstein, die als Illustratorin Karriere machte, bevor sie mit Ende fünfzig ein Buch über ihre Familie schrieb, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Es heißt "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden".

Die Lücken geschlossen.

Es ist deshalb so ungewöhnlich, weil Bernice Eisenstein einen Teil ihrer Erzählung in Bilder fasst, überwiegend in Einzelzeichnungen, aber auch in eine achtzehnseitige Comicsequenz, die mitten im Text steht. Keine von diesen Zeichnungen ist illustrativ, denn kein einziges Detail, das sich in ihnen findet, wird schriftlich vorweggenommen. Vielmehr sind die Bilder unabdingbar für das Verständnis des Buches, weil sie Lücken schließen, die der Text lässt. Nehmen wir die Schilderung des achtzigsten Geburtstags von Regina Eisenstein im Jahr 2005. "Obwohl wir die Leichtigkeit kannten, mit der meine Mutter ihre Dankbarkeit und warmen Gefühle ausdrückte, waren wir nicht vorbereitet auf das, was jetzt kam. Sie sagte, ihr halbes Leben sei zerstört worden, nun sei ihr Mann gestorben und jetzt wünsche sie sich nur noch, für ihre Familie stark zu bleiben. Ihre Worte kamen von Herzen, und klar und stark drückte sie damit ihre innersten Gefühle aus. Dann ergriff meine Tante das Wort."

Und hier endet das Kapitel. Zumindest wenn man dem normalen Erscheinungsbild eines Buches glaubte. Doch auf der nächsten Seite folgt eine Zeichnung der beiden alten Frauen, und auf dem Zettel, den Tante Jenny, auch sie Überlebende der Schoa, in der Hand hält, stehen Auszüge aus ihrer Rede auf die Jubilarin. Sie endete mit dem Satz: "Meine Liebe wächst zu dir, wie auch deine Liebe zu mir wächst." Erst das hinzugefügte Bild rundet das Geschehen ab und zeigt, dass die Familie von Regina Eisenstein größere Erwartungen an sie hat als bloße Stärke. So funktionieren alle Bilder im Buch, und besonders der Comic, der die Ankunft der Eltern 1948 in Kanada genauso in Szene setzt wie Adolf Eichmanns von Simon Wiesenthal überliefertes Zitat "Einhundert Tote sind eine Katastrophe, eine Million nur eine Zahl". Da nicht sicher ist, dass Eichmann diesen Satz gesagt hat, setzt Bernice Eisenstein ihn als Denkblase über den Mann, der da beim Jerusalemer Prozess im Glaskasten sitzt. Sein Name wird nicht genannt, man muss ihn erkennen, um das Bild zu verstehen. So sprechen die Zeichnungen aus, was Bernice Eisenstein nicht sagen will.

Der Holocaust als Droge.

Darum ist die Kombination aus Text und Bild so wichtig für das Buch. Obwohl die Autorin durchaus kein Blatt vor den Mund nimmt. "Der Holocaust ist eine Droge", sagt sie gleich am Beginn, als sie sich daran erinnert, wie sie die ersten Fotos der Leichenberge aus den Konzentrationslagern sah. "In diesem Augenblick werde ich süchtig und stelle schnell fest, dass es endlos viele Dealer gibt, die mir immer noch einen Schuss geben, mir noch einmal Zutritt zu der halluzinogenen Geisterwelt verschaffen." So etwas darf nur das Kind von Überlebenden schreiben, das einen Teil seiner Faszination angesichts des Schreckens daraus ziehen kann, dass seine Eltern ihm glücklicherweise entkommen sind.

Der Zufall will es, dass nur wenige Monate vor Bernice Eisensteins Buch ein weiterer Versuch gemacht wurde, die Schoa in Bildern zu erzählen. Die Berliner Fotografin Digne M. Marcovicz hat die Erinnerungen von zwölf Überlebenden aufgezeichnet und diese nicht nur jeweils beim Erzählen fotografiert, sondern auch einige Orte mit der Kamera aufgesucht, über die berichtet wurde. Daraus hat Digne M. Marcovicz das Buch "Massel" (jiddisch für "Glück") zusammengestellt, eine Art Fotoprotokoll der zwölf Erinnerungen. Auf jeder Seite finden sich nur einige Sätze, denen aber sowohl dokumentarische wie erklärende Aufnahmen beigegeben sind - und natürlich die Porträts der jeweils berichtenden Zeugen. Es ist der Versuch, der oft als abstrakt empfundenen Geschichtsschreibung des Massenmordes individuelle Gesichter zu verleihen; der Band richtet sich vor allem an ein junges Publikum.

Keiner der von Marcovicz befragten zwölf Zeugen ist jünger als fünfundsiebzig, und einer von ihnen, der erstaunliche Jizschak Schwersenz, der im Zweiten Weltkrieg in Berlin ausharrte, um dort jüdische Kinder zu verstecken, ist kurz nach dem Gespräch gestorben. In diesem Wissen liest man seine Erinnerungen mit noch mehr Ergriffenheit, doch die meist knallbunten Fotos und das unruhige Layout der Seiten nehmen dem Erinnern die Wucht. Wie unendlich viel subtiler ist da das Buch von Bernice Eisenstein - bis hin zur allerletzten Seite, zum Vorsatzpapier also, das oben am Rand ausgerissen ist. Es ist eine alte jüdische Tradition, zu Ehren Gottes einen kleinen Mangel ins Menschenwerk einzubauen, denn nur Gott ist perfekt. Das Buch von Bernice Eisenstein war nahe daran.

- Bernice Eisenstein: "Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden". Aus dem Englischen übersetzt von Henriette Heise. Berlin Verlag, Berlin 2007. 191 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].

- Digne M. Marcovicz: "Massel". Letzte Zeugen. Hanser Verlag, München 2007. 379 S., Abb., br., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr angetan ist Birgitt von Maltzahn von diesem Buch, in dem Digne M. Marcovicz die Geschichten von zwölf Holocaust-Überlebenden versammelt hat, die sie zuvor gefilmt und interviewt hat. Indem die jugendlichen Leser, an die sich das Buch richtet, die individuellen Lebensgeschichten mit historischen Zahlen und Fakten und mit zahlreichen Fotos und Texttafeln angeboten bekommen, erleichtert sich der Zugang zu einem häufig behandelten Thema und gewinnt ihm neue Aspekte ab, lobt die Rezensentin. Deutlich werde, dass die "letzten Zeugen" allein durch Mut und Glück - "Massel" eben - den Holocaust überlebt haben, so Maltzahn.

© Perlentaucher Medien GmbH