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Eine Familiensaga aus dem Herzen des OrientsEine anatolische Kleinstadt in den fünfziger Jahren. Hier wächst Leyla als jüngstes von fünf Geschwistern auf, im engen Kreis der Familie und der Nachbarschaft, und hegt einen großen Wunsch: Sie will dieser Welt entkommen.
Feridun Zaimoglu wendet den Blick zurück auf das Land, aus dem er mit seinen Eltern kam. Ein Land, erstarrt im Kalten Krieg, in dem ein strenger Glaube den Alltag durchdringt, die Familien dem Vater unterstehen, den Frauen ein bescheidener Platz zugewiesen ist - und in dem all das ins Wanken gerät.Er lässt die heranwachsende…mehr

Produktbeschreibung
Eine Familiensaga aus dem Herzen des OrientsEine anatolische Kleinstadt in den fünfziger Jahren. Hier wächst Leyla als jüngstes von fünf Geschwistern auf, im engen Kreis der Familie und der Nachbarschaft, und hegt einen großen Wunsch: Sie will dieser Welt entkommen.

Feridun Zaimoglu wendet den Blick zurück auf das Land, aus dem er mit seinen Eltern kam. Ein Land, erstarrt im Kalten Krieg, in dem ein strenger Glaube den Alltag durchdringt, die Familien dem Vater unterstehen, den Frauen ein bescheidener Platz zugewiesen ist - und in dem all das ins Wanken gerät.Er lässt die heranwachsende Leyla ihren Alltag erzählen, von den Vormittagen in der Schule, den Nachmittagen im Kreise der Schwestern, die an ihrer Mitgift sticken, und dem Leben in der Kleinstadt, in der Armut herrscht und jeder sein bescheidenes Auskommen sucht. Leylas Vater hat keinen Erfolg, verliert seine Anstellung als Bahnbeamter und schlägt sich mit immer windigeren Geschäften durch. Die Brüder gehen ihrer Wege, rebellieren gegen den Vater, die Schwestern warten auf den Mann, der für sie ausgesucht wird, und hoffen auf die große Liebe. Leyla erobert sich kleine Freiheiten, die sie wieder verliert, als sie zur Frau wird. Und sie kommt einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur. Erst der Umzug der Familie nach Istanbul eröffnet neue Möglichkeiten: Leyla lernt einen Mann kennen und verliebt sich, doch die beiden haben keine Zukunft in der Türkei.

Mit epischer Kraft und einer sinnenfrohen, farbenprächtigen und archaischen Sprache erzählt Feridun Zaimoglu vom Erwachsenwerden eines Mädchens, dem Zerfall einer Familie und von einer fremden Welt, aus der sich viele als Gastarbeiter nach Deutschland aufmachten.

Autorenporträt
Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel, wo er seither als Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist arbeitet. Er war Kolumnist für das Zeit-Magazin und schreibt für die Welt, die Frankfurter Rundschau, Die Zeit und Die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Im Jahr 2002 erhielt er den Hebbel-Preis, 2003 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2007 den Carl-Amery-Literaturpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2006

Der Tag, an dem der Teufel sich die Beine brach
In seinem Roman "Leyla" blickt Feridun Zaimoglu zurück auf seine Väter - und läßt die Mütter zu Wort kommen

Es ist seltsam, diesen Mädchengesprächen zuzuhören, mit denen uns Zaimoglu in die Türkei der sechziger Jahre versetzt. Wir können nicht wissen, wie vergangen diese Vergangenheit wirklich ist, und gleiten beim Lesen unwillkürlich in die Gegenwart.

Wann wird das Monstrum sterben? Das ist die Frage, die sich fünfhundert Seiten lang durch Feridun Zaimoglus Roman "Leyla" zieht, ein Buch, mit dem sich einer der interessantesten deutschen Gegenwartsautoren neu erfindet und in dem er uns einen beklemmenden, abstoßenden, faszinierenden und zärtlichen Einblick gibt in eine Welt, die wir nicht kennen.

In dieser Welt riecht es nach Gewürznelken und altem Männerschweiß, nach Jasmin und Apfelsinenschalen, nach Gewalt und nach dem unbeschreiblichen Aroma verzweifelter Sehnsucht, die weiß, daß sie verdorren wird wie die Dattel in der Sonne. "Gerüche, Gerüche und Gebete: das ist mein Haus", so singt Leylas Mutter, als sie ihrem "Tautröpfchen" das lange braune Haar kämmt. Das Lied weiß nur von Gerüchen und Gebeten, aber das Leben von Leyla, ihrer Mutter, den Schwestern Yasmin und Selda und den Brüdern Djengis und Tolga besteht vor allem aus Armut, Demütigungen, Not und Gewalt.

In diesem Haus in einer anatolischen Kleinstadt herrscht der "Nährvater", ein streitsüchtiger, aufbrausender Maulheld namens Halid, der die Seinen grundlos grün und blau schlägt, ein widerwärtiger Sadist, der seine älteste Tochter schwängert und jedes Familienmitglied mit dem Tod bedroht. Alles Unglück, heißt es in der Familie, rühre vom Nährvater: "In seiner Nähe verdirbt jeder Mensch."

Halid Bey ist der große Schatten über einer kleinen Hütte. Der tschetschenische Sohn eines kriegerischen Bergstammes ist einst aus dem Kaukasus vor der Roten Armee in die Türkei geflohen. Was er aus der Heimat mitgebracht hat, ist der unbeugsame Stolz, der Wille, sich niemandem unterzuordnen, und die heimliche Schande seiner Frau, die vor den Augen ihres späteren Mannes von Soldaten vergewaltigt wurde. Beide, Halid und seine Frau, sind gebrochene, zerstörte Menschen. Halid brüllt und prügelt, seine Frau schweigt und putzt und wäscht und kocht und näht. Sie ist, was auch ihre Töchter werden sollen, wenn es nach Halid geht: ein "Frauengegenstand", ein "Weibstier" ohne Rechte. Als Halid Bey stirbt, ruft seine älteste Tochter Yasmin aus: "Gesegnet sei dieser Tag, an dem der Teufel sein Hinterbein brach."

Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im türkischen Bolu und in Deutschland aufgewachsen, läßt uns lange darauf warten, daß der Folterknecht seine Sippe freigibt, und man könnte dieses Buch kaum zu Ende lesen, wenn Halid den Roman so beherrschen würde, wie er seine Familie beherrscht. Aber Zaimoglu hat dem Prügler klug die Schranken gewiesen, und irgendwann im Laufe der Lektüre stellt man verwundert fest, daß in diesem Buch, daß in der Enge des anatolischen Kleinstadtlebens mit seinen Ehrengesetzen, Schamtüchern und ebenso zahlreichen wie unerbittlichen Anstands- und Schicklichkeitsregeln von nichts so häufig die Rede ist wie von der Liebe.

Hinter der prüden Fassade der Kleinstadtgesellschaft brodeln Sehnsucht und Begierde. Halid betrügt seine Frau bei jeder Gelegenheit, sein Sohn Djengis gerät in die Fänge der Lehrerin, einer reiferen Dame, die den schönen Jüngling erpreßt, Tolga geht ein Verhältnis mit einer früh verwitweten Freundin Leylas ein. Ehebruch, obwohl mit Todesgefahr verbunden, scheint mehr oder weniger an der Tagesordnung. Dennoch träumen Leyla und ihre Schwestern wie romantische Dienstmädchen in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts von dem zärtlichen, verständnisvollen Helden, der sie aus dem häuslichen Elend befreit. Was ihnen statt dessen begegnet, sind Männer, die jeden zu töten bereit sind, der in der Öffentlichkeit jene Frau zu lange anblickt, die sie selbst in den eigenen vier Wänden anspucken und mit Füßen treten.

An Emanzipation ist unter solchen Umständen nicht zu denken. So ist Leylas Weg, der Weg vom fünfjährigen Mädchen, das auf den ersten Seiten des Romans mit bunten Steinchen spielt, bis zur kaum zwanzigjährigen Frau, die in Deutschland von ihrem türkischen Mann erwartet wird, vor allem ein Weg der Desillusionierung. Leyla lernt wenig, aber sie lernt, den Reden der Männer keinen Glauben zu schenken: "Die Ehre der Männer bringt Unglück, das Geschwätz der Männer nimmt den Lebenden die Luft zum Atmen, das Brot zum Essen."

Aber wie steht es mit der Ehre der Frauen? Als sie sechs ist, fällt Leyla vor Schreck und Scham im Klassenzimmer um, weil die Lehrerin sie scharf anspricht. Später wagt sie kaum, mit ihren Freundinnen über Jungs zu sprechen, und als die stolze und selbstbewußte Kurdentochter Manolya ihr erklärt, sie habe genug von Mädchen, die glaubten, eine Frau müsse sich beherrschen, ein Mädchen gelte doch nur dann als ehrenhaft, wenn es sich zeitlebens tot stellte, ist Leyla empört. Wie ihre Mutter und ihre Schwestern kennt sie keine höhere Pflicht als die, ihre Ehre zu bewahren. Aber diese Ehre hat sie nur insofern, als die Ehre der Frau Teil der Ehre ihres Mannes und ihrer Familie ist. So ist auch - und gerade - das höchste Gut im Leben dieser türkischen Frauen etwas, was mit ihnen selbst eigentlich gar nichts zu tun hat. Ihre Ehre wird ihnen angelegt wie dem Sklaven die Fußfessel.

Es ist seltsam, diesen Gesprächen zwölfjähriger türkischer Mädchen zuzuhören, mit denen uns Feridun Zaimoglu in das Ostanatolien der fünfziger und sechziger Jahre versetzt. Wie können wir wissen, wie vergangen diese Vergangenheit wirklich ist? Wie viele solcher Gespräche werden heute noch unter türkischen Mädchen geführt, in Anatolien, Istanbul, Köln oder Kreuzberg? Unwillkürlich gleitet der Leser immer wieder aus der Vergangenheit, die Zaimoglu schildert, in die Gegenwart. Stichwörter wie Zwangsehe und Karikaturenstreit fallen uns ein, wir denken an Koranschulen auf deutschem Boden, an den Schundthriller "Tal der Wölfe", an die Romane Orhan Pamuks und die Farce seines Istanbuler Gerichtsverfahrens und an den "Marsch auf Berlin", den türkische Nationalisten jetzt angekündigt haben, weil der Deutsche Bundestag die türkischen Massaker an den Armeniern verurteilt hat. Aber was haben Feridun Zaimoglu und Leyla damit zu tun?

Zaimoglu ist für seinen Roman aus der angespannten Situation der Gegenwart in die Vergangenheit zurückgekehrt, in eine Welt ganz ähnlich jener, die seine Eltern verließen, als sie in den sechziger Jahren nach Deutschland kamen. Diese Welt, Leylas Welt, ist geprägt von Machotum und einer brutalen Unterdrückung der Frauen. Sie ist arm und rückständig, aber der Fortschritt klopft vernehmlich an die Tür. Atemlos, fasziniert und angewidert beobachtet Leyla eine westlich gekleidete "Schminkmaus", die in der Öffentlichkeit zu rauchen wagt, hingerissen träumt sie von einem "elektrischen Leben" mit Kühlschrank und Bügeleisen, unwillig lauscht sie den Ideen, die ihre Brüder von der Universität mitbringen, den nationalistisch-konservativen Tönen von Djengis ebenso wie den liberalen Träumen des schwärmerischen Tolga.

Politik ist ihr fremd wie alle "Männersachen", ihr Glaube an "den einen Gott" ist naiv und unerschütterlich, gegen den stark ausgeprägten Aberglauben ihrer Umgebung entwickelt sie früh einen starken Widerwillen. Leyla kennt nur ein Ziel, zu dem sie nur ein einziger Weg führt: Sie will dem Vater entkommen, und dazu muß sie heiraten. Aber Metin, ihr stiller, höflicher Gemahl, der sich als notorischer Ehebrecher entpuppt, sieht für sich und seine kleine Familie keine Zukunft in der Türkei. Auf den letzten Seiten des Buches steigt Leyla mit ihrer Mutter und ihrem noch namenlosen Säugling in München aus dem Zug, fest entschlossen, Deutschland zu lieben, was ihr so schwierig und gefährlich scheint, wie einen Wolf zu streicheln.

Seitdem 1995 sein Buch "Kanak Sprak" erschien, gilt Feridun Zaimoglu als wichtigste Stimme der jungen Türken in Deutschland. Aus dem Schimpfwort "Kanake" wurde die Selbstbezeichnung "Kanakster", und Zaimoglu machte es sich zur Aufgabe, das spezielle Idiom junger Türken festzuhalten und zu ästhetisieren. Aber die Schublade, die Zaimoglu sich als bekennender "educated Kanakster" mit viel Verve selbst gezimmert hatte, ist ihm zu eng geworden. Die Pose des multikulturellen Machos und Provokateurs reicht dem in Kiel lebenden Autor nicht mehr. War der 2002 erschienene Roman "German Amok" noch der hochtourig leerlaufende Versuch, aus einer im Kunstbetriebsmilieu angesiedelten Ästhetik des Schocks und des Obszönen Funken zu schlagen, so ließ der Erzählungsband "Zwölf Gramm Glück" vor zwei Jahren erkennen, daß Zaimoglu neue Wege suchte. Aus dem gebildeten Kanakster, dem "Abi-Türken", sollte ein ernstzunehmender deutscher Schriftsteller werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, hat sich Zaimoglu jetzt der Elterngeneration der "Kanakster" zugewandt, jenen Türken also, die in den sechziger und siebziger Jahren nach Deutschland kamen und heute mit dem Vorwurf konfrontiert werden, die eigene Integration und die ihrer Kinder und Enkel sträflich vernachlässigt zu haben. Zaimoglus Stellungnahme dazu: Er erzählt die Vorgeschichte der ersten Generation der türkischen Zuwanderer.

Wer die Situation der Türken in Deutschland verstehen will, muß wissen, aus welcher Welt die damaligen "Gastarbeiter" eigentlich gekommen sind. Nach ausführlichen Gesprächen und Recherchen in der eigenen Familie, mit Tanten, Verwandten und Freunden in Deutschland und in der Türkei, hat Zaimoglu eine solche Welt liebevoll und akribisch rekonstruiert. Minutiös beschreibt er die Näharbeiten der Frauen und die Art und Weise, wie eine vor Scham und Panik vergehende Leyla ihre erste Monatsblutung mit einer Binde behandelt - von ihrer älteren Schwester Yasmin durch die geschlossene Toilettentür beim Schlingen und Knoten des Baumwolltuches angeleitet. Zaimoglu schlüpft in die Haut des spielenden Kindes ebenso wie in die der Braut, die erst am Tag vor der Hochzeit von ihren Freundinnen aufgeklärt wird und darüber am liebsten, wie ihre Schwester Selda, ohnmächtig vom Stuhl kippen würde.

Ein mit Ringen und Silberkettchen behängter deutsch-türkischer Autor mit sorgfältig gepflegter Macho-Attitüde, der einen ganzen Roman aus der Perspektive eines heranwachsenden türkischen Mädchens erzählt? Wie soll das gutgehen? Es geht gut, sehr gut sogar, wenngleich Zaimoglu den schlichten, gelegentlich gezielt ins Archaische spielenden Tonfall Leylas nicht immer variabel genug handhabt, um die Entwicklung der Heranwachsenden auch sprachlich widerzuspiegeln. Aber Leyla ist eine durch und durch glaubwürdige Figur, und das ist wohl der beste Beweis für die schönste Tugend dieses Autors. Zaimoglu hat sich mit "Kanak Sprak", den protokollierten und literarisch bearbeiteten Geschichten und Ansichten von türkischen Jugendlichen, Lehrlingen, Arbeitslosen, Zuhältern und Dealern, den Ruf eines Sprachrohrs und Stimmenimitators erworben. Mit "Leyla" zeigt er, daß seine Kunst vor allem die Kunst der Einfühlung in seine Figuren ist.

Schon bevor sein neuer Roman erschien, war oft zu hören, Zaimoglu habe sich vom kultivierten Krawallmacher und leidenschaftlichen Provokateur zum ruhigen Erzähler gewandelt. Aber kein Wolf zieht sich selbst die Zähne. Man täusche sich nicht: Es könnte gut sein, daß "Leyla" für türkische Leser in Deutschland eine weit größere Provokation darstellt, als es "Kanak Sprak" oder "German Amok" für deutsche Leser je hätten sein können.

Feridun Zaimoglu: "Leyla". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 525 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2006

Die Mitte der Sitte
Poetisch und soziologisch, nah und fern zugleich: Feridun Zaimoglu erzählt in „Leyla” vom Leben unter dem Gesetz
Von Ijoma Mangold
Gott ist die Sitte. Noch vor aller theologischen Reflexion und selbst noch vor bewussten Glaubensakten und Transzendenz-Überzeugungen ist Gott die Wohlgefügtheit des Herkommens, die Autorität der überlieferten Lebensweise. Was die Väter und Vorväter getan, und natürlich auch, welchen Gott sie verehrten, das ist den Nachgeborenen heilig. Ehrfurcht und Scheu gilt der Sitte, so wie sie auf uns gekommen ist. Gott ist nur eine abstrakte Chiffre für das Aufgehobensein in der Sitte der Sippe. In dem Maße, in dem die Sitte heilig ist, ist sie aber auch unerbittlich und unbarmherzig. Vielfach deckt sie in ihrem Namen Ungerechtigkeiten und Gewalttätigkeiten - und wer von diesen betroffen ist, vermag sich kaum zu wehren, denn sein Widerspruch könnte als Aufbegehren gegen das heilige Gesetz missverstanden werden.
Feridun Zaimoglu hat einen Roman von der unerbittlichen Macht der Sitte geschrieben. Und von der Fast-Unmöglichkeit, sich von ihren Ansprüchen loszueisen. Denn die Sitte ist immer in unauflöslicher Vermischung das Fremdbestimmte und das Eigene zugleich. Um sich von ihr zu lösen, muss man sich auch von Teilen des eigenen Selbst lösen. Das ist nicht nur befreiend, sondern auch verstörend.
„In Gottes Namen -”, so lautet einer der ersten Sätze von „Leyla”, und mit dieser geradezu oratorischen Introduktionsformel entfaltet Feridun Zaimoglu das weite Panorama einer Familiensaga, die in einer ostanatolischen Kleinstadt beginnt, sich dann in Istanbul fortsetzt, um mit dem letzten Blatt, nach mehr als 500 Seiten, auf einem deutschen Bahnhof zu enden. Im Namen Gottes, der Sitte und des Herkommens wird hier vieles erzählt, aber unmerklich immer mehr auch im Namen der Protagonisten, auch wenn diesen ihre Artikulation keineswegs selbstverständlich ist, sondern errungen sein will.
Dabei ist die erzählerische Kraft des Romans so unbeirrt und in sich ruhend, dass der Autor immer ganz bei den konkreten Vorgängen seiner Geschichte ist und nie auf einer kommentierenden Metaebene. So kann er auch auf jedes Moralisieren und Bewerten verzichten.
Die Hauptfigur Leyla wächst mit vier Geschwistern auf - nicht so sehr im Namen Gottes wie im Namen des Vaters. Denn der ist ein Haustyrann, Prügler und Trunkenbold, kaum alphabetisiert, aber von herrischem Stolz. Vor seinen jähzornigen Schlägen sind weder Frau noch Kinder sicher. Den „Nährvater” nennt Leyla ihn nur, sie hasst ihn, aber sie weiß auch, dass für diesen „individuellen” Hass kein Ort vorgesehen ist in der archaischen Matrix der patriarchalischen Familienordnung. Man beißt die Zähne zusammen und hofft, irgendwann vom Haustyrannen befreit zu sein. Die Sehnsüchte gehen in ein anderes Leben, ohne deswegen das Gesetz der Sitte missachtet sehen zu wollen.
Bedrückend schildert Zaimoglu die ohnmächtige Atmosphäre unter der Rute des Haustyrannen. Die türkische Staatlichkeit kann den Vater zwar einmal hinter Gitter bringen, weil dieser in verbrecherische Machenschaften verwickelt ist, aber ins Innenleben der Familie dringt die Exekutivgewalt des Staates nicht vor. Für den Vater sind alle Beamte ohnehin nur „Bürokraten” und wie alle Hervorbringungen der Moderne verächtlich.
Einige der schönsten Seiten dieses Romans beschreiben einen Klassenausflug an den Euphrat: Das Glück fern von der Vaterbedrohung stellt sich für Leyla dar als erste Begegnung mit dem Landleben, seiner Naturschönheit und der Überfülle der Früchte, die die Felder hergeben. Da nehmen die Schüler ein Bad im Euphrat - und es ist, als ob das Wasser dieses alten Flusses sie für ein neues und anderes Leben stärkte. Da ist dann plötzlich soviel Potential und Lebensüberschuss, dass man sich für einen Moment in der Hoffnung wiegt, nichts könne diese jungen Leben wieder zu Boden ziehen und fesseln.
Das Erstaunliche an Feridun Zaimoglus Roman ist diese merkwürdige Mischung aus Nähe und Ferne. Zu Beginn der Lektüre nämlich meint man noch, einem Märchenton zu lauschen, der eine artifizielle Archaik, eine Kunsturtümlichkeit ausstellt. Und es ist dies vielleicht eine der Schwächen des Romans, dass man recht lange diesem Fehlläuten der Nachtglocke folgt. Dem Rezensenten ging das so bis vielleicht Seite 150. Dann erst gingen ihm Augen und Ohren auf, dass Zaimoglu ganz im Gegenteil einen realistischen Roman geschrieben hat. Einen, der die Gegenständlichkeit seiner Erzählwelt so körnig und plastisch herausarbeitet, dass jeder Satz immer beides ist: hochpoetisch und zugleich konkret, ja soziologisch.
Indem Zaimoglu eine Welt beschreibt, in der die überindividuellen Autoritäten noch völlig substantielle, undurchdringliche Gegengewalten zu den Wünschen der Einzelnen sind, hat sein Roman auch jederzeit die Wucht des Melodrams - und das ohne jedes falsche Pathos. „Unser aller Leben, das ist nur Gottes Erzählfluss”, heißt es einmal. Der Roman „Leyla” hat aus Gottes Erzählfluss den eines autonomen Erzählers gemacht, der die Schicksale seiner Figuren auf neue Art, aber eben doch auch aufbewahrt.
Denn „Leyla” erzählt die Vorgeschichte jener türkischen Immigranten, die in den sechziger Jahren nach Deutschland kamen. Am Ende des Buches wandert Leyla mit ihrem fünfjährigen Sohn nach Berlin aus. Der Roman erzählt insofern auch - auf vermittelte Art - von der Geburt jenes Sohnes, der zu einem der wichtigsten deutschen Autoren werden sollte und Gottes Erzählfluss pietätvoll an sich genommen hat. Was dabei entstanden ist, ist keine Literatur, die auf dem Migrantenticket reist, sondern Poesie aus eigenem Recht. Feridun Zaimoglu ist eben ein großer Sprachen- und damit auch Sprachweltenerfinder. Das ist beglückend.
Feridun Zaimoglu
Leyla
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 525 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Ulrich Rüdenauer wünscht sich, mehr von Feridun Zaimoglu zu lesen, der sich mit seinem aktuellen Buch "der Klischees, die ihm von der Kritik angehängt werden, entledigt". Zaimoglu verzichte nämlich auf die frühere Imitation verschiedener Slangs, sondern spreche stattdessen in einer "gleichmäßig und sagenhaft dahinschwebenden Sprache". Wie auch schon in dem Erzählband "Zwölf Gramm Glück" thematisiere Zaimoglu die Türkei. Seine Protagonistin befreit sich nach und nach vom übermächtigen Vater, heiratet und zieht mit ihrem Mann nach Deutschland. Lob zollt der Rezensent Zaimoglu für seine Beschreibung der Frauen in der türkischen Gesellschaft, die er als "die interessanteren, psychologisch raffinierteren Protagonisten" darstelle. Politisch halte sich Zaimoglu zurück, es gehe ihm nicht um einen "Diskurs" über bestimmte Themen wie Ideologie oder Religion, "sondern um das, was davon als Bodensatz in der Gesellschaft zu finden ist". Dafür mag der Rezensent den Autor - umso mehr, als dieser in einer Zeit der Diskussionen über Glaubenskriege und Ehrenmord eine "greifbare und ergreifende Geschichte" erzählt, die ohne jede Statistik auskommt.

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»Wie Feridun Zaimoglu die hinter dem Schleier des Verbots lauernde schreckhafte weibliche Scham und brennende weibliche Neugier zugleich zeichnet, [...] ist einfach meisterhaft.« NDR Kulturjournal