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September 2001, Pierre Michons Mutter liegt im Sterben, der Sohn "betet" für sie: ein Villon-Gedicht, die "Ballade der Gehenkten". Auch nach der Geburt seines Kindes hat er "gebetet": ein Gedicht von Victor Hugo, "Der Schlaf des Boas". Solche Verse, resümiert Michon in seinem autobiographisch erklärenden Essay "Der Himmel ist ein sehr großer Mann", "... beruhigen die Leiche, helfen dem Kind, auf seinen Beinen zu stehen. Wahrscheinlich ist das die Funktion der Poesie."Auch in den weiteren Essays des Bandes geht es um nichts anderes als die ebenso erhabene wie lächerliche Berufung der Kunst.…mehr

Produktbeschreibung
September 2001, Pierre Michons Mutter liegt im Sterben, der Sohn "betet" für sie: ein Villon-Gedicht, die "Ballade der Gehenkten". Auch nach der Geburt seines Kindes hat er "gebetet": ein Gedicht von Victor Hugo, "Der Schlaf des Boas". Solche Verse, resümiert Michon in seinem autobiographisch erklärenden Essay "Der Himmel ist ein sehr großer Mann", "... beruhigen die Leiche, helfen dem Kind, auf seinen Beinen zu stehen. Wahrscheinlich ist das die Funktion der Poesie."Auch in den weiteren Essays des Bandes geht es um nichts anderes als die ebenso erhabene wie lächerliche Berufung der Kunst. Michon schreibt über Samuel Beckett, Gustave Flaubert, Ibn Manglî, William Faulkner und eben über sich selbst - so pathetisch und sarkastisch, resolut und poetisch, wie nur er das kann.
Autorenporträt
Michon, PierrePierre Michon wurde am 28. März 1945 im französischen Département Creuse (Massif Central), im Dorf Les Cards geboren, wo seine Eltern als Grundschullehrer arbeiteten. Zwei Jahre nach der Geburt des Sohnes verließ der Vater die Familie. Später studierte Michon in Clermont-Ferrand Literatur. Nach langen Jahren der schriftstellerischen Selbstfindung gelang ihm 1984 mit 37 Jahren der Durchbruch: Für Vies minuscules (Leben der kleinen Toten) erhielt er 1984 den »Prix France Culture«, dem weitere Preise folgten. Heute gilt Pierre Michon als einer der bedeutendsten französischen Gegenwartsschriftsteller. Übersetzungen seiner Werke erschienen in Deutschland, Italien, Spanien, den Niederlanden, Griechenland, Rumänien, den USA, Brasilien, Mexiko und Syrien. Pierre Michon lebt mit Frau und Tochter in Nantes.

Weber, AnneAnne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren. 1983 ging sie nach Paris und absolvierte das Studium der französischen Literatur sowie der vergleichenden Literaturwissenschaften an der Sorbonne. Von 1989 bis 1996 arbeitete sie in Lektoraten verschiedener französischer Verlage. Sie begann, deutsche Texte (u.a. von Hans Mayer, Jacob Burckhardt, Eleonore Frey, Sibylle Lewitscharoff, Birgit Vanderbeke und Wilhelm Genazino) ins Französische zu übersetzen. 1998 veröffentlichte sie bei Le Seuil die französische Originalfassung von Ida erfindet das Schießpulver. 1999 erschien das Buch auf deutsch im Suhrkamp Verlag, der im Herbst 2000 auch Im Anfang war veröffentlichte. 2004 erschien ihr viertes Buch Besuch bei Zerberus.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Pierre Michon wird einmal einer der bedeutendsten französischen Autoren der Gegenwart gewesen sein, vermutet Niklas Bender, Michons gegenwärtiger Unbekanntheit zum Trotz. Immerhin werden die großartigen Texte Michons mittlerweile ins Deutsche übersetzt, freut sich der Rezensent, und "Körper des Königs" bietet einen schönen Einstieg für alle, die anfangen wollen, ihn zu lesen. Formal enthält der Band Essays über andere Schriftsteller - Flaubert, Manglî, Villon und Hugo -, aber Michon schreibt darin auch über seine eigenen Ansichten über das Schreiben und die Literatur, die stark von den bildenden Künsten beeinflusst sind, verrät Bender. Besonders im letzten Aufsatz des Bandes finden sich - durchaus nicht nur sympathische - Bekenntnisse aus dem Leben des Schriftstellers, berichtet der Rezensent, wenn er etwa seinen Alkoholkonsum nach einer Konferenz schildert, bevor er seinen Blick philosophierend zu den Sternen schweifen lässt: "der Vollrausch gleitet ins Kosmische", so Bender.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.03.2015

Gut, dass die
Väter schlafen
Königlich erzählen – Pierre Michon wird siebzig
Die „faustdicke Abwesenheit“ der Helden bestimmte das Erstlingsbuch von Pierre Michon, „Leben der kleinen Toten“ aus dem Jahr 1984. Hinter den unscheinbaren, verstorbenen, fast schon vergessenen Verwandten und Bekannten stand da vor allem der abwesende Vater, den der Schullehrersohn Michon, 1945 in einem abgelegenen Dorf des Massif Central geboren, nicht gekannt hat und der, wie die Großmutter dem Jungen berichtete, vor dem Foto seines Sohns auf der Kommode geweint habe – „ein Abwesender beweint einen anderen Abwesenden in diesem Abwesenheitshaus“.
  Nicht zuletzt wegen dieser frühen Erfahrung der Existenzlücken fand der Autor erst auf langen Umwegen zu seinen ersten Publikationen. Die prägende Figur war zunächst Rimbaud, dem sich Michon in seinem Buch „Rimbaud der Sohn“ widmete. Seine schmalen Werke sprechen immer von diesem Ich, das durch Lektüren, Erinnerungen und manche Begegnungen seinen Weg sucht. Sie sind aber Lichtjahre entfernt von der anekdotischen Selbstspiegelung landläufiger Ich-Literatur. Statt narrativ ausholender Spannbreite bieten Michons Bücher eher eine Art essayistisch erzählender Selbstreflexion, die präzis und lebensnah die feinsten Details der beschriebenen Szenen einfängt. Manche Passagen vom Landleben, zwischen dem Dröhnen der Dreschmaschine, den Staubwolken, dem Geruch von Stroh, Öl und Schweiß, knotigen Männermuskeln bei der Arbeit, schließlich zotigen Gelagen nach Feierabend in der Scheune bis zum Hinsinken der ermatteten Körper, erinnern an die Beschreibungen Peter Handkes, sind jedoch knapper, schärfer, virulenter: ohne den Fernklang eines „anderen“ Lebens.
  Pierre Michons Werke lesen sich, als wären sie unter dem Gebot einer absoluten inneren Dringlichkeit entstanden. Oft sind sie aus verschiedenen Einzeltexten komponiert. Resonanz von Zeitgeschichte oder von literarischen Strömungen ist bei diesem Autor nicht zu erwarten, obwohl er in seinen Texten historische Ereignisse und Figuren vom spätrömischen Kaiser Attalus bis zu den Malern Watteau, Goya, van Gogh auftreten lässt, und auch bereitwillig von seinen Reisen und öffentlichen Auftritten erzählt. Alles Biografische ist bei ihm zum immanenten Motiv destilliert, er lässt mit seinem scharfen Sarkasmus Rückschlüsse auf stilistische Einwirkungen kalt an sich abperlen. Auch Michons einziger Roman „Die Grande
Beune“ (1996) – ein Dorfschullehrer im Spannungsfeld zwischen zwei Frauen –, ein Buch, das der Autor auf knapp 90 Seiten zusammenstrich, ist ein meisterhaftes Konzentrat, das im tiefen Bett des Flusses Grande Beune am Dorfausgang Jahrhundertgeschichte rollen lässt und am Himmel darüber Löcher ins Kosmische reißt.
  Der im Original 2002 erschienene Band „Körper des Königs“, der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, besteht aus fünf Texten, die anhand von Porträtfotos und Kommentaren zu Beckett, Flaubert, Ibn Magalî, Faulkner die Spaltung zwischen schreibendem und anekdotischem Ich untersucht – das Doppelwesen des Schriftstellers als Person und als Funktion wird mit den „zwei Körpern“ des Königs gleichgesetzt. In einem Beckett-Porträt des türkischen Fotografen Lütfi Özkök aus dem Jahr 1961, konstatiert Michon, seien die beiden Seiten wie durch einen Zauberstreich deckungsgleich geworden. Mit seiner „himmlischen Magerkeit“, den mit Hiobs Scherbe eingegrabenen Gesichtsfalten, der Zigarette im Mundwinkel sei er „schön wie ein König, die eisigen Augen, die Illusion des Feuers unter dem Eis, die strengen und vollkommenen Lippen, das ihm angeborene noli me tangere“.
  Das längste und eindrücklichste Stück des Buchs geht das Thema der literarischen Selbstverdoppelung jedoch auf autobiografischem Weg an. Gibt es nicht zumindest ein paar Akte, in denen das gespaltene Ich eins wird – zum Beispiel im Beten? Er habe selten gebetet, schreibt der Autor und zitiert mit kauzigen Nebeneffekten ein paar Situationen: einmal beim Tod seiner Mutter, ein andermal bei der Geburt seiner Tochter – da habe er lächelnd auf dem Bettrand gesessen und von Anfang bis Ende Victor Hugos Gedicht „Der Schlaf des Boas“ aufgesagt.
  In diesem Prosatext mit Hugos Gedicht als Orgelpunkt lässt Michon auf geniale Weise kleingerahmt Privates mit himmelweit Prinzipiellem kreisen in einem schlotterndem Reigen, der von Ewigkeitsahnung und reichlich Alkohol bestimmt ist. Eine öffentliche Lesung des „Schlafenden Boas“ in der Pariser Nationalbibliothek endet nach einem durchgezechten Nachmittag spät abends in einem Bistro, wo die Hand des über sein Vaterglück fabulierenden Schriftstellers plötzlich völlig unkontrolliert auf dem Rock der am Tisch vorbeihuschenden Kellnerin landet. Ein Donnerwetter aus sechs Männerarmen erfasst den Schamlosen – „Hände weg von meinen Kellnerinnen!“ Er landet draußen vor der Tür, ausgestreckt zwischen Krümeln und unbekannten Gästebeinen, fast schon schlafend wie Victor Hugos Boas, und blickt in den Pariser Nachthimmel. „Es ist gut,“ – fährt der Text fort – „dass die Väter schlafen; es ist mild und ungefährlich, dass die Imperatoren der toten Legion in Germanien ruhen“: Karl der Große in Aachen, der französische Bibliotheksgründer François Mitterrand in Jarnac.
  Und es ist mehr als gut, dass dieser Meister der französischen Gegenwartsliteratur, der am Samstag siebzig Jahre alt wird, nach einem kurzen editorischen Anlauf bei Manholt in Deutschland aber lange unerkannt blieb, bei Suhrkamp nun einen zuverlässigen Verlag und in Anne Weber eine kongeniale Übersetzerin gefunden hat.
JOSEPH HANIMANN
Pierre Michon: Körper des Königs. Aus dem Französischen von Anne Weber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 100 Seiten, 17,95 Euro.
Auch Schriftsteller haben zwei Körper. Erklärt Pierre Michon.
Foto: Ekko von Schwichow
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2015

Für die Freiheit des Vagabunden
Leben und Literatur: Pierre Michons lesenswerte Essays über Flaubert, Faulkner und andere Schriftsteller

Als vor wenigen Wochen publik wurde, dass der Schriftsteller Jean d'Ormesson schon zu Lebzeiten in der prestigeträchtigen "Pléiade"-Ausgabe ediert werden würde, fiel unter den alternativen Kandidaten, die Autoren und Literaturliebhaber sich gewünscht hätten, sein Name oft: Pierre Michon. Der am 28. März 1945 im Weiler Les Cards (Massif Central) geborene Michon hat gerade seinen siebzigsten Geburtstag begangen und ist doch weiterhin einer der großen Unbekannten der französischen Literatur. Zugleich ist er einer der aussichtsreichsten Kandidaten auf ein literarhistorisches Nachleben. Wer Michons lyrische Prosa gelesen hat, dem geht der Rhythmus nicht mehr aus dem Ohr: So wurden menschliche Leben, große wie ganz kleine, noch nie zum Klingen gebracht.

In Frankreich verlegen Gallimard und der Kleinverlag Verdier seine Werke, in Deutschland nimmt sich Suhrkamp der kurzen, sprachlich anspruchsvollen Texte an: Seit 2008 übersetzt der Verlag sie regelmäßig. Jetzt ist "Körper des Königs" in der Übertragung von Anne Weber erschienen, ein kleiner Band, der in fünf Essays Autorenbilder entwirft. Die etwas mehr als hundert Seiten bieten eine schöne Einführung in Michons Schreiben und Denken: Obwohl die Essays Samuel Beckett, Gustave Flaubert, Muhamad Ibn Manglî, William Faulkner, François Villon und Victor Hugo gewidmet sind, bringen sie Michons eigenes Literaturverständnis zum Ausdruck.

Die Grenze zu Roman oder Erzählung im Michonschen Sinne ist fließend: "Leben der kleinen Toten", "Rimbaud der Sohn", "Die Elf" oder "Abbés", der nicht übersetzte, wundervolle Text über drei mittelalterliche Mönche am Mont-Saint-Michel, sind historische Porträts. Auch das Vorgehen einiger Texte ist dem Leser von "Rimbaud der Sohn" bekannt: Michon beschreibt Autoren anhand von Fotos. Ein Faulkner-Porträt etwa ist bereits in "Leben der kleinen Toten" zu finden, wie allgemein eine intensive Auseinandersetzung mit den visuellen Künsten Michons Werk bestimmt. Allerdings lassen sich die Essays nicht darauf reduzieren: Der Flaubert-Text etwa handelt von der "Maske", die der Einsiedler von Croisset der Literatur verpasst habe - eine wunderbare Reflexion auf den Autor und die Moderne allgemein. Der letzte und längste Essay schließlich, Villon und Hugo gewidmet, schildert Michon selbst in existentiellen Situationen, beim Tod seiner Mutter und der Geburt seiner Tochter.

Was eine Übung in Bildbeschreibung oder Autorenverehrung sein könnte, wird unter Michons Fingern ein existentielles Nachdenken über die Eigenart des Schriftstellers: Er zieht zwei, drei zentrale Linien nach, die man bisher nicht gesehen hatte; er ordnet sie so an, dass eine neue Silhouette, eine originelle Perspektive auf den Porträtierten entsteht. Dabei geht es ihm, dem auf die Wirklichkeit der Literatur Bedachten, darum, wie Schriftstellerstatus und schieres Leben ineinandergreifen. Beckett etwa ist bereits als Person "schön wie ein König": "die eisigen Augen, die Illusion des Feuers unter dem Eis, die strengen und vollkommenen Lippen; das ihm angeborene noli me tangere; und, höchster Luxus, seine Schönheit trägt Stigmata: die himmlische Magerkeit, die von Hiobs Scherbe eingegrabenen Falten, die großen Ohren aus Fleisch, der König-Lear-Look." Das Bewusstsein dieser Schönheit geht in das Bild des Autors ein.

Nicht nur klassische Motive der Malerei klingen hier an: Wie Baudelaire führt Michon die christliche Sprache und Symbolik einer neuen, rein poetischen Nutzung zu - er huldigt "einem Heiligen, das kein Gott mehr absichert", wie er einmal gesagt hat. Hiobs Scherbe und große Ohren: Abrupt gesellt sich Heiliges, Erhabenes, zu sinnlichen Einzelheiten oder schlichten Alltäglichkeiten. Michon fügt seine Beobachtungen und Worte hart aneinander, er formt kontraststarke Bilder. Über Faulkner auf dem Foto von Cofield (1931): "Er hat eine Prosa in Bulldozer-Form erfunden, in der Gott sich unablässig wiederholt. Die Verbrennung der Prosa verläuft ebenso einwandfrei wie die einer Lucky Strike. Die Lucky verbrennt ihm leicht den Finger."

Die schönste Lektion in der Verwebung von Leben und Literatur bietet der Essay über Flaubert. Jener Autor, der Literatur als Selbstauslöschung verstand, sollte ein Paradebeispiel dafür sein, dass das Leben eines Schriftstellers für seine Kunst keine Rolle spielt, möchte man meinen. In einem Schelmenstück dreht Michon den Sachverhalt auf den Kopf, um "das Leben Flauberts zu retten": "Dazu müßte man annehmen, daß er gelogen hat, daß er nie den Mönch oder den Zwangsarbeiter spielte. Man müßte annehmen, daß er die meiste Zeit in Croisset keinen Finger krümmte, daß er die Seine genoß, den Wind in den Pappeln, seine kleine, Marmelade schleckende Nichte, die großen Kühe auf den Feldern, mugitusque boum, von Zeit zu Zeit große Frauen und immer die Schlemmerei der Lektüre, die Unzucht des Wissens; daß er fröhlich Lindenblüten pflückte, um Tee zu machen, fröhlich die phönizische Nomenklatura im Kopf vorüberziehen ließ; und daß er hin und wieder, ohne Entwurf, um die Zeit einzuteilen und die Pariser das Staunen zu lehren, diesen Pariser Speichelleckern etwas zu knacken zu geben, in sein Kabuff hochstieg und ein paar vollkommene Sätze schrieb, die ihm wie von alleine zufielen." Wenn da nur Flauberts Notizen und Entwürfe nicht wären, Tausende und Abertausende von Seiten: Man möchte Michon in die normannische Idylle folgen, die er für den selbsternannten Märtyrer der Literatur entwirft.

Aus solchen Zeilen spricht der Provinz-Autor (Michon lebt in Nantes), der sich gegen die Pariser Schickeria abgrenzt. Anders als Flaubert hat Michon, dessen Eltern Lehrer waren, keine Notabeln im Hintergrund gehabt. Als er 1984 mit den "Leben der kleinen Toten" den Durchbruch feierte, war der damals Siebenunddreißigjährige auf dem besten Wege in eine Clochardexistenz; er wurde einer der wichtigsten Schriftsteller der achtziger und neunziger Jahre. Bewahrt hat er eine mittlerweile etwas stilisierte Bescheidenheit, im Interview bezeichnet er sich als Ignoranten, in "Körper des Königs" benennt er eigene Schwächen. Schonungslos führt Michon sich vor, und es ist nicht nur sympathisch, was der Leser erfährt: Wer Bücher einkaufen geht, während seine Mutter mit dem Tod ringt, oder sich vor, während und nach einer Konferenz in den Vollrausch trinkt, um schließlich der Kellnerin an den Rock zu gehen, hängt das gewöhnlich nicht an die große Glocke, selbst in einem Essay über François Villon, Urvater aller Verbrecherdichter, nicht.

Freilich bleibt Michon hier nicht stehen, sondern entgrenzt den Blick - der Vollrausch gleitet ins Kosmische: "Ich sah die Sterne, von der Luft getragen. Auch wir sind in der Luft. Der Himmel trägt uns. Der Himmel ist ein sehr großer Mann. Er ist Vater und König an unserer Stelle, er macht das viel besser als wir." Das so erbärmliche wie grandiose Ende zeigt Michons Verständnis von Autorschaft: Der Seherdichter Hugo, dessen Gedicht "Der Schlaf des Boas" er gerade vorgetragen hat, scheint ihm nun kalt und fern. Den Körper des Königs, dessen Eigenheiten er bei Zunftgenossen untersucht hat, lehnt er ab, er zieht das eigene "winzige Leben" vor, um den genauen Titel seines Erstlingswerks zu bemühen. Die Freiheit eines Vagabunden und Sprachakrobaten: Mehr erwartet Michon von der Literatur nicht - aber so, wie er sie fordert, hat man den Eindruck, sie wäre bereits alles.

NIKLAS BENDER

Pierre Michon: "Körper des Königs".

Aus dem Französischen von Anne Weber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 104 S., geb., 17,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»In all diesen Betrachtungen reflektiert Michon auch sein eigenes Schriftstellertum - auf eine affektive, (selbst)ironische und hochpoetische Weise.« Ingeborg Waldinger Neue Zürcher Zeitung 20150328