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Wie funktioniert Entspannungspolitik in internationalen Krisenzeiten? Ende der 1970er Jahre stand Bundesaußenminister Genscher vor der Herausforderung, das Prestige-Projekt der sozial-liberalen Koalition - die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten - gegen den heraufziehenden "Zweiten Kalten Krieg" zu verteidigen. Agnes Bresselau von Bressensdorf zeigt am Beispiel des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und der polnischen Krise, wie er darauf mit einer antizyklischen Kommunikationspolitik antwortete, um die angespannte internationale Lage zu deeskalieren. Über diese konkreten…mehr

Produktbeschreibung
Wie funktioniert Entspannungspolitik in internationalen Krisenzeiten? Ende der 1970er Jahre stand Bundesaußenminister Genscher vor der Herausforderung, das Prestige-Projekt der sozial-liberalen Koalition - die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten - gegen den heraufziehenden "Zweiten Kalten Krieg" zu verteidigen. Agnes Bresselau von Bressensdorf zeigt am Beispiel des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und der polnischen Krise, wie er darauf mit einer antizyklischen Kommunikationspolitik antwortete, um die angespannte internationale Lage zu deeskalieren. Über diese konkreten Fallbeispiele hinaus sieht die Autorin die Grundlagen für den langfristigen Erfolg Genschers als Bundesaußenminister, Vize-Kanzler und FDP-Vorsitzender in einem spezifischen "System Genscher": Mit dem Auswärtigen Amt als Schaltzentrale, der FDP als funktioneller Machtbasis und einer Strategie der Medialisierung, Personalisierung und Entertainisierung von Außenpolitik modernisierte Genscher das diplomatische Krisenmanagement und sicherte sich seine Position als zentraler Akteur bundesdeutscher Politik.
Autorenporträt
Agnes Bresselau von Bressensdorf, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2015

Faszination schützt vor Fehlern nicht . . .
Agnes Bresselau von Bressensdorf schaut auf das System Genscher und bietet simple Bonner Binnenperspektive

Im nordamerikanischen Profisport sind "Unentschieden" nahezu unmöglich. Es gibt in der Regel einen Sieger und einen Besiegten. Im Gegensatz dazu ist der europäisch geprägte Fußball durchaus auf Punkteteilungen ausgerichtet. Das Remis ist gleichsam die Normalität der europäischen Fußballligen. Ganz ähnlich verhielt es sich auf beiden Seiten des Atlantiks mit den unterschiedlichen Auffassungen zum Kalten Krieg. Während in Washington im Grundsatz stets klar war, dass sich zwei feindliche Ideologien gegenüberstanden - Demokratie mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung versus Diktatur mit kommunistischer Kommandowirtschaft -, die eben nicht auf unbestimmte Zeit miteinander koexistieren konnten, sah die Ausgangsposition für die westeuropäischen Mächte vollkommen unterschiedlich aus.

Nachdem die Außenpolitik der Sowjetunion unter Generalsekretär Leonid Breschnew ab Mitte der 1960er Jahre in ruhigeres Fahrwasser gekommen war, boten sich aus der Sicht von London, Paris und Bonn Chancen, um die Auseinandersetzung in eine andere Qualität zu überführen. Nicht mehr wechselseitige Vernichtungsandrohungen sowie weltanschauliche Propagandaschlachten sollten den Gang des Kalten Krieges bestimmen, sondern Entspannung, Interessenausgleich und wechselseitiger Handel. Kurzum: Westeuropas Mächte zielten darauf, den Kalten Krieg zu entideologisieren.

Einen historischen Moment - während der kurzen Amtszeit von Präsident Richard Nixon und dessen außenpolitischen Berater Henry Kissinger - lief dieser europäische Verständigungskurs parallel zur strategischen Ausrichtung des Weißen Hauses. Die Entspannungspolitik fand ihren Höhepunkt in der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975, die allerdings schon Nixons Amtsnachfolger, Gerald Ford, für die Vereinigten Staaten von Amerika paraphierte. Mit dem Einzug von Jimmy Carter in das Weiße Haus am 20. Januar 1977 veränderte sich die politische Großwetterlage. In den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen kam es zu einem dramatischen Temperatursturz, der seinen vorläufigen Tiefpunkt am 25. Dezember 1979 erreichte, als Einheiten der Roten Armee Kabul besetzten. Auf der Ebene der Supermächte war der sowjetische Einmarsch in Afghanistan der letzte Sargnagel für die Entspannungspolitik.

Vor diesem Hintergrund musste die Bundesrepublik Deutschland ihre Position im internationalen System bestimmen. Das Duo Schmidt/Genscher versuchte unter Aufbietung großer Kräfte, diese erneute Zuspitzung des Kalten Krieges zu vermeiden oder zumindest von Europa fernzuhalten. Die vorliegende Münchener Dissertation widmet sich der Frage, wie die Entspannungspolitik "unter den Krisenbedingungen der späten siebziger und frühen achtziger Jahre weitergeführt und welche Anpassungsleistungen erbracht werden mussten". Im Zentrum der Untersuchung steht das "System Genscher", das von der Autorin ausführlich geschildert wird. Dabei werden die charakteristischen Eigenschaften des langjährigen Außenministers deutlich herausgearbeitet: enorme Arbeitskraft, hohes kommunikatives Können, "virtuose Fähigkeit zum Kompromiss" sowie eine an Besessenheit grenzende Aufmerksamkeit für die mediale Selbstdarstellung. Hinzu kommt noch "die Privatisierung von Außenpolitik", die ebenfalls ein Erfolgsgarant Genschers gewesen sei.

Bereits in diesem frühen Stadium - gleichsam bei der Etablierung der organisatorischen Grundlagen des "System Genschers" - werden schwerwiegende Mängel der Studie sichtbar. Offenbar ist die Verfasserin von der Person Hans-Dietrich Genscher derart fasziniert, dass sie viele Aspekte der routinemäßigen Amtsführung als Innovation und Aufbruch in eine neue Zeit interpretiert. Hinzu kommt, dass die Dissertation mit einer Vielzahl faktischer Fehler durchsetzt ist, die dem Leser das Vertrauen in die Argumentation äußerst erschwert - ja nahezu unmöglich macht. Hier nur eine kleine Auswahl: Die Achtung der Menschenrechte war nicht, wie die Verfasserin behauptet, in Korb I der KSZE-Schlussakte verankert, sondern in Korb III - ein wirklich haarsträubender Fehler, der besonders schwer wiegt, wenn man bedenkt, dass der KSZE-Prozess eine zentrale Rolle in der Argumentation der Verfasserin spielt. Die Papstwahl Karol Wojtylas - eines weiteren Protagonisten dieser Jahre - fand nicht 1979, sondern am 16. Oktober 1978 statt. Klaus Bölling war nicht - wie behauptet - "langjähriger Chef des Bundeskanzleramts", sondern wiederholt Regierungssprecher und Staatssekretär im Bundespresseamt. Diese Reihe ließe sich mühelos fortführen.

Wichtiger noch erscheint im Zusammenhang mit der Rolle des Bundesaußenministers in diesen Jahren die grundsätzliche Behauptung, dass - wie im Titel angedeutet - der "Frieden durch Kommunikation" erhalten worden sei. An keiner Stelle belegt die Verfasserin diese weitreichende These. Die gesamte Studie krankt an einer nahezu exklusiven Binnensicht. Nur an ganz wenigen Stellen - und dies zumeist bei der Spiegelung der deutschen Positionen in den französischen und britischen Akten - wird ein Blick geworfen auf die Außenwahrnehmung von Genschers Verständigungspolitik. Beispielsweise vor dem Hintergrund der schweren Krise in Polen geißelte der Quai d'Orsay im Januar 1982 diese Haltung gegenüber der UdSSR. Genscher zeige eine "beunruhigende Gefälligkeit gegenüber Moskau und große Lauheit in der Verteidigung der Interessen und Ideen des Westens".

Mit taktischem Geschick gelang es dem Außenminister, schwere Spannungen im westlichen Lager zu entschärfen. Doch entscheidend blieb die Haltung Moskaus. War der Kurs Genschers letztlich erfolgreich? In concreto: Konnte er einen signifikanten Beitrag leisten, um die Lage zu stabilisieren? Diese Frage ist weiterhin offen. Sie kann erst abschließend beantwortet werden, wenn wir tiefere Einblicke in die sowjetischen Akten nehmen können. Vor dem Hintergrund der internationalen Kalten-Kriegs-Forschung erscheinen doch massive Zweifel an dieser Interpretation angebracht. Zum einen orientierte sich die Sowjetunion unmittelbar am amerikanischen Kontrahenten, für die europäischen Mächte - und damit auch für die Bundesrepublik Deutschland - blieb nur die zweite oder dritte Geige. Zum anderen betonen viele jüngere Studien die ideologischen Antriebskräfte des Kalten Krieges. In dieser Perspektive war die kurze Entspannungsphase der 1970er Jahre nichts anderes als eine "peinliche Episode" (Vojtech Mastny).

Dies klingt in deutschen Ohren befremdlich, denn unter dem Schutz politischer Harmonisierungstendenzen hat sich in der Bundesrepublik mittlerweile eine Sichtweise durchgesetzt, die verkürzt so lautet: Adenauers Westbindung in den 1950er Jahren - anfangs von der SPD vehement abgelehnt - plus sozialliberale Entspannungspolitik in den 1970er Jahren - seinerzeit ebenso heftig von der Union bekämpft - führen dann im Ergebnis zur Wiedervereinigung des Jahres 1990. So einfach kann Geschichte sein!

Es ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, simplifizierenden Sichtweisen entgegenzutreten. Auch diesem Anspruch wird die vorliegende Studie nicht gerecht.

HARALD BIERMANN

Agnes Bresselau von Bressensdorf: Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979-1982/83. De Gruyter Oldenbourg Verlag, München 2015. 385 S., 54,95 [Euro].

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"Für die Liberalismus-Forschung ist dies ein wichtiges Buch."
Jürgen Frölich in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 1/2016

"Genschers mediale Inszenierung von Außenpolitik wird von ihr [der Autorin] glänzend dargestellt."
Christian Hacke in: Der Tagesspiegel, 1. März 2016

"[...] ein gelungener Wurf nicht zuletzt deshalb, weil er zum Nachdenken über unsere eigene Zeit anregt."
Jan-Holger Kirsch in: H-Soz-u-Kult (11. 11. 2015)

"Der Verfasserin gelingt es [...], mit einer intelligenten und quellenfundierten Argumentation Außenminister Genscher auf die Hauptbühne zu holen [...]."
Helga Haftendorn in: Politische Vierteljahresschrift 4/2015

"[...] eine sehr lesenswerte Studie zu einer bislang nur unzureichend beforschten Epoche bundesdeutscher Außenpolitik [...]"
Nicholas Lang in: Francia-Recensio 2016/4

"Agnes Bresselau von Bressensdorfs Studie zeichnet sich nicht nur durch breite Literatur- und Quellenkenntnis und ihre Verbindung von Diplomatie- und Kommunikationsgeschichte aus. Lesenswert ist sie auch, weil sie implizit hochaktuelle Fragen anspricht, wie den Einsatz von Sanktionen oder die Fortführung politischer Gespräche trotz massiver Spannungen."

Frank Bösch in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 880-882