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Dukla ist ein verschlafenes Nest in Südpolen, am Rande der Karpaten, nicht weit von der slowakischen Grenze entfernt. Auf dem Marktplatz hat sich alle Leere der Welt versammelt. Ein Wind herrscht, der direkt aus Alaska und Sibirien herüberweht. Mit seinem bröckelnden Mauern und dem Schloss der Fürsten von Brühl, den beiden Barockkirchen und der niedergebrannten Synagoge ist Dukla ein Ort, der eine magische Anziehungskraft auf Stasiuks Ich-Erzähler ausübt. Wie unter Zwang kehrt er immer wieder in das Städtchen zurück, "um es bei unterschiedlichem Licht, zu unterschiedlichen Tageszeiten…mehr

Produktbeschreibung
Dukla ist ein verschlafenes Nest in Südpolen, am Rande der Karpaten, nicht weit von der slowakischen Grenze entfernt. Auf dem Marktplatz hat sich alle Leere der Welt versammelt. Ein Wind herrscht, der direkt aus Alaska und Sibirien herüberweht. Mit seinem bröckelnden Mauern und dem Schloss der Fürsten von Brühl, den beiden Barockkirchen und der niedergebrannten Synagoge ist Dukla ein Ort, der eine magische Anziehungskraft auf Stasiuks Ich-Erzähler ausübt. Wie unter Zwang kehrt er immer wieder in das Städtchen zurück, "um es bei unterschiedlichem Licht, zu unterschiedlichen Tageszeiten anzusehen". Sein Versuch, den Geist des Ortes zu fassen, der Materie ihr Gedächtnis zu entreißen, macht die Spurensuche zu einer dichterischen Expedition. Andrzej Stasiuk beschreibt sein Buch als einen 'schwer zu beschreibenden Akt atheistischer Mystik, eine sehr meditative Prosa. Es geht um ein tiefes Eintauchen in jedes Ereignis, darum, all das, was sichtbar ist, zu notieren - um ein postreligiöses Erleben der Gegenwart.' (LITERATUREN)

'Die Welt hinter Dukla' besticht durch eine ebenso präzise wie lyrische Prosa, deren Metaphorik sich auf eindringliche Weise der Landschaft und den dort lebenden Menschen annähert. 'Es ist ein erotisches Buch des Sehens, eine sexuelle Prosa. Es geht um das konkrete Berühren der Welt.' (wdr nachtkultur leselust)
Autorenporträt
Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband "Mury Hebronu" (Die Mauer von Hebron) , in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden.
Er ist freier Mitarbeiter bei der Zeitschrift "Czas Kultury" und bei der Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny".
2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis und 2016 den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.07.2007

Leuchtspuren der Provinz
Andrzej Stasiuk: „Die Welt hinter Dukla”
Es gibt viele großartige Romananfänge, dieser ist einer der hinreißendsten: „Um vier Uhr früh hebt die Nacht langsam ihren schwarzen Hintern, steht vollgefressen vom Tisch auf und geht schlafen”, lautet der erste Satz von Andrzej Stasiuks „Die Welt hinter Dukla”. Ton und Thema sind damit furios gesetzt, denn Protagonist dieser Weltliteratur aus der Hinterwelt der polnischen Provinz ist nichts anderes als das Licht selbst. Und wer in den Mikrokosmos dieses Buches eingetreten ist, meint zu wissen, warum die Sonne im Westen versinkt. Die Nacht, die das Licht frisst und also den Geist, diese „Streichholzflamme im Wind”, das ist zugleich das aufziehende Abendland, das alles in der Amnesie des Materiellen vergehen lässt: „Das Leben nimmt Fertigformen an, es spiegelt und bricht das Licht”, „die Dinge treten zwischen die Ideen und zerreißen mit ihren scharfen Kanten ihre feinen Ränder, und alles Allgemeine landet schließlich auf dem Müllhaufen des Besonderen”.
Der Ich-Erzähler flieht vor dem Universalismus der Fertigformen an den östlichsten Punkt seiner Welt, nach Dukla, einem verschlafenen Nest am Rande der Karpaten, „von dem aus es nirgendwo mehr hingeht”. Dieses Dukla wird ihm zu einem Rückzugsort der Vergewisserung und der Versenkung, zur Endstation Sehnsucht. „Wie ein Dorftrottel, ein Weichsel-Buddhist, ein abgeworfener, aus allen Wolken gefallener Herzbube” sucht er den Genius loci einzufangen, bevor die fragilen Spuren der Vergangenheit überstrichen und zubetoniert sind. Die Botanisiertrommel seiner gesammelten Eindrücke ist die Sprache, „er balsamierte das Städtchen, schmolz es ein in durchsichtigem Bernstein, als sollte es in alle Ewigkeit so bleiben, als Wunder der Natur oder als Warnung einer gründlich vertanen Zeit”.
Denn diese literarische Suchbewegung auch nach der eigenen Herkunft ist kein Ostalgietrip, sie ist der Weg eines Wünschelrutengängers zu den verborgenen Quellen des Seins. Dukla, das ist diesem Mystiker das „Vergrößerungsglas, das Loch in der Erde, in Körper und Zeit. Kaleidoskop der letzten Hoffnung und metaphysische Peepshow”, denn „wenn der Himmel durch Leere schreckt, suchen wir nach Zeichen auf der Erde”. Und natürlich ist die begehrenswerteste Gestalt, in der sich die Idee verkörpert, „damit wir nicht vor Sehnsucht sterben”, die einer unerreichbaren Frau. Eine aus der Ferne angehimmelte Schöne der Nacht von „schwerer, sinnlicher Beweglichkeit”, die barfüßig tanzt auf einem Sommerfest der Jugend, liefert das Inbild aller Vergeblichkeit. Ihre Gesten besaßen die animalische „Trägheit der Materie” wie „warmes Quecksilber”. In ihr lebt der Geist der Schutzpatronin des Ortes, der Amalia von Brühl, deren sterbliche Überreste in der Kirche modern, als „kondensierte Gegenwart dessen, was immer abwesend war”, als Bild, „das zum Urbild zurückstrebt”. Ihr Gegenbild aber ist ein kahl geschorenes Punker-Mädchen, eine Streunerin, die sich auf der Suche nach einem Schlafplatz nachts in Amalias Kirche einschließen lässt. Dabei trägt diese räudige Epiphanie der transzendentalen Obdachlosigkeit ein T-Shirt mit der Aufschrift „I hate religion”. Doch wie um Stasiuks diesseitige Gebete zu erhören und den Geist mit dem Fleisch zu versöhnen, steht das Wort Religion „genau auf ihren kleinen Brüsten”. CHRISTOPHER SCHMIDT
Andrzej Stasiuk Foto: Brigitte Friedrich
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Ich kenne den Weg zum durchsichtigsten Ort der Welt
Wenn der Himmel durch zu große Leere schreckt, suchen wir nach Zeichen auf der Erde: Andrzej Stasiuk findet den Geist der Karpaten und gründet eine neue Hauptstadt der Literatur

Als der Teufel die große Ebene hinter Dukla erreichte, betrachtete er diese weite Welt, und siehe: Sie war ihm gleichgültig. Er folgte den geraden Straßen, an denen hinfällige Häuser aufgereiht hockten wie die Spatzen auf einem Telegraphendraht. Er sah die Dörfer, die Städte, die wie Feuerstellen zwischen den windigen Viehweiden auf dem flachen Land lagen. "Gute Nacht", sagte der Teufel, immer wieder "gute Nacht". Aber er machte damit keinen großen Eindruck, niemand wollte sich so richtig fürchten. Die letzten Lichter gingen aus, die Dunkelheit nahm die Straßen, die Häuser und ihre Bewohner auf, ein Lastwagen dieselte durch die Finsternis. Nichts Wichtiges konnte hier geschehen.

Doch dieser Landschaft ist ein Buch gewidmet, so neu und so unerhört, daß man fortan nicht nur die polnische Literatur mit anderen Augen wird lesen müssen. Andrzej Stasiuk, vierzig Jahre alt und hierzulande noch kaum bekannt, hat sein einsames Haus in einem Tal hoch in den Beskiden verlassen, um die Naturgeschichte einer verlorenen Welt zu schreiben: ein Buch über Dukla, über die Wege nach Dukla, über die Welt um Dukla herum, ja auch über die Gegenden hinter Dukla, über dieselbe Landschaft, so wie sie sich jenseits der ukrainischen oder der slowakischen Grenze fortsetzt. Entstanden ist daraus ein Bericht von hundertachtzig Seiten: Er wirkt alt, wie aus der Frühzeit überkommen, und ist doch hochmodern. Andrzej Stasiuk ist geglückt, was Cesare Pavese mit dem Piemont gelang. Oder, in unseren Tagen, Peter Handke in der "Lehre der Sainte-Victoire" mit einem Berg in der Provence, dem Berg Paul Cézannes. Und Graham Swift in "Waterland" mit dem Marschland von Norfolk. Mit einem einzigen, wunderbar leichten Wurf hat die Literatur eine neue Hauptstadt erhalten: Es ist Dukla.

Und die Literatur hat die neue Hauptstadt nicht bekommen. Gewiß, man kann Dukla auf der Landkarte finden, ein Städtchen von zweieinhalbtausend Einwohnern im äußersten Südosten von Polen, hundert Kilometer südlich von Rzeszów gelegen, drei Dörfer nördlich der slowakischen Grenze und eines früher beliebten, weil besonders niedrigen Karpatenübergangs. Man kann hinfahren, und dann sieht man einen viereckigen galizischen Platz mit Buchhandlung, Möbelladen und Lebensmittelgeschäft, eine Kirche, die Maria Magdalena gewidmet ist, die Ruine einer Synagoge, drei Kneipen, ein kleines Schloß und ein paar alte Männer, deren lange weiße Bärte an Walt Whitman erinnern. Aber einen weniger bestimmten, einen durchsichtigeren Ort hat es in der Literatur der alten Welt noch nicht gegeben.

Denn Dukla ist das "urbanistische Ultima Thule", es ist selbst wie jener Ramschladen am Marktplatz, in dessen Schaufenster ein grüner Kamm, ein blaßblauer Steingut-Hase und drei ausgefranste Rollen Toilettenpapier, zu einer Pyramide gestapelt, vergilben - "das alles ohne Schild, die Dinge sind, was sie sind". Dukla ist ein Loch in der Seele, und darin gleicht die Stadt vielen anderen Orten in dieser verlorenen Welt, Orten, in denen man sich wie ein Vogel fühlt, "der keine Luft mehr unter den Flügeln hat, doch statt der Katastrophe erwartet uns eine unendlich lange Ruhepause, ein endloser, weicher Fall." Dukla hat keine Geschichte, sondern ist ein Memento - nur der Anlaß für unendlich viele kleine Geschichten, für eine wüste Sammlung der überflüssigen Dinge, für eine Enzyklopädie des fehlenden Zusammenhangs.

Im Grunde ist die "Welt hinter Dukla" ein langes Gedicht: Zwar tritt ein Ich auf, ein Erzähler. Aber was er berichtet, in einer hochpoetischen, klaren, luziden Sprache, ist episodisch, es bricht ab, es fängt wieder an, es bricht wieder ab, und oft ist es unklar, in welcher Zeit, an welchem Ort, in welcher halbfertigen Wirklichkeit sich das Erzählte ereignen soll - es ist, als sei Dukla etwas beinahe Gestaltloses, Fließendes, etwas, das sich wie gestiegenes Grundwasser knapp unter der Erdoberfläche hindurchzieht, um zuweilen ans Tageslicht zu treten und sich dort in Pfützen zu sammeln. Jede einzelne wird von Andrzej Stasiuk beschrieben, mit einer ruhigen, gelassenen, aber immer wieder sarkastischen Aufmerksamkeit, die sich ganz dem Material widmet: dem Wasser, seinen Bewohnern, den Dingen, die sich darin spiegeln. "Ich war allein und wollte mir alles ganz genau ansehen." Das Buch ist eine Stoffkunde aus dem Südosten der zivilisierten Welt.

Der Eiserne Vorhang war noch lange nicht gefallen, als Mitteleuropa wiedergefunden werden sollte: die alte Kultur vor allen nationalen Grenzen, die dem Lauf der Donau folgte oder unter dem Asphalt von Prag verborgen war. Die Erinnerung sollte das Bindemittel sein, das den Kontinent aus gemeinsamer Geschichte über alle politischen Gegensätze hinweg wieder hätte zusammenfügen sollen. Doch der Traum von Mitteleuropa verflog rasch. Er war bloß eine literarisch und kulturhistorisch verkleidete politische Forderung. Als der Eiserne Vorhang verschwand, verlor dieser Traum also seine Kraft, und wenn er durch die Berührung mit der Wirklichkeit nicht sofort verflog, so wurde er in den Kriegen auf dem Balkan zerrieben oder in der Europäischen Union zur touristischen Standardware in Zellophan verkleinert.

Andrzej Stasiuk läßt nun Mitteleuropa wiederkehren. Aber dieser Kontinent hat seine Gestalt von Grund auf verändert. Er ist klein geworden, staubig und überaus alltäglich. Er sieht aus wie eine Packung Zigaretten der Marke "Wawel", mit trockenem, krümelnden Tabak in billigem Papier. Oder wie die Kanone vom Kaliber hundertfünfzig, die nach einem Bürgerentscheid von ihrem Platz vor dem Bernhardiner-Kloster von Dukla entfernt worden ist. Oder die Kettchen mit den viereckigen Anhängseln aus Holz, auf die lackierte Bildchen von Popgruppen wie "Abba" oder "Slade" aufgeklebt waren. "Die Dinge sind, was sie sind", und alles, was es gibt, kann man sehen oder anfassen, hören oder riechen.

Nur auf die Dinge - oder besser: auf die Wahrnehmung - kann man sich verlassen. Vergangenheit und Zukunft gehören nicht dazu, und Mitteleuropa fällt entweder in die eine oder in die andere Kategorie: "Das war so, als wäre die Welt an diesem Ort in ihrem Fluß erstarrt, hätte innegehalten, um zu zeigen, was Wandel ohne Bewegung ist, die Grausamkeit einer Gegenwart, die zwischen dem Wunsch nach einem Morgen und der Möglichkeit eines Gestern aufgespannt ist." Andrzej Stasiuk ist ein radikaler Physiologe, und wenn er in der Kulturgeschichte einen Verwandten hat, dann ist es eine Gestalt aus dem achtzehnten Jahrhundert: der Graf von Buffon, der Carl von Linnés Klassifikation der Natur ablehnte, weil sie ihm zu willkürlich war.

Unerhört ist das kleine Buch über Dukla, weil Andrzej Stasiuk ein Meister der Ablehnung ist, ein Virtuose des unpolemischen Verneinens, des Ausschlagens und des Absagens. Die Bedeutung Polens im Traum von Mitteleuropa beruhte auf der Rolle dieses Landes als Erinnerungslandschaft, von den Burgen des Deutschordens über die tugendhafte Finanzverwaltung der Bona Sforza bis hin zur großen europäischen Kultur der kleinen Adelshöfe - und auf seiner Rolle als Land der Ausnahmezustände und Katastrophen: Nur zwei Zentimeter, so schien es oft, müßte man in Krakau den Boden aufkratzen, und hervor kämen die Geschichte des Ghettos, der Massenmord im Wald von Katyn oder eine Verabredung zwischen der Kirche und Antisemiten. Unermeßlich ist die Literatur geworden, nicht nur die polnische, die sich diesen Erinnerungen zuwendet.

Bei Andrzej Stasiuk aber sucht man die Vergangenheit vergeblich, und selbst der Sozialismus macht sich nicht als politischer Weltzustand, sondern nur als Episode im Privaten bemerkbar, in der dem Großvater, der Feuerwehrmann war, für vorbildliche Pflichterfüllung ein Buch über die Pariser Kommune verliehen wurde, das er nie las. "Man braucht einen Ort nur zu verlassen", erläutert Stasiuk, "und schon keimt dort die Saat des Wahnsinns. Der Marktplatz von Dukla unterscheidet sich darin nicht von der menschlichen Seele. Die Leere nimmt eines wie das andere in Besitz, dann bröckeln Gedanken und Mauern unter ihrem eigenen Gewicht." In diesem Augenblick verläßt der Erzähler den Platz und geht in die Bar, um ein Bier zur trinken.

In der imaginären Topographie der Literatur liegen die Karpaten gleich neben den böhmischen Dörfern. Vor fast fünfzehn Jahren hat Andrzej Stasiuk Warschau verlassen, nachdem er dort als Wehrdienstverweigerer im Gefängnis gesessen hatte, und ist in ein einsames Tal in den Beskiden, nicht weit von Dukla gezogen. Andrzej Stasiuk schreibt hier Literatur im Selbstversuch, er erprobt die Kunst des literarischen Wahrnehmens am eigenen Körper. Schon der "weiße Rabe" (Rowohlt Berlin, 1998), sein erster auf deutsch veröffentlichter Roman, war ein Zeugnis vom Leben in diesem Tal. Die Idee von Mitteleuropa, diese Utopie einer Zivilgesellschaft, war auf die alten Städte zentriert. Die Souveränitat des urbanen Gemeinwesens sollte vor den ideologischen und machtpolitischen Ansprüchen des Staates schützen. Mit dem Staat hat auch Andrzej Stasiuk nichts im Sinn. Mit der Zivilgesellschaft hat er hingegen Ernst gemacht, aber nur für sich allein, als sich ständig erneuerndes Provisorium - in der tiefen Wildnis, in einem Mitteleuropa, von dem man annahm, es sei von Grund auf von Zivilisation durchdrungen.

Dukla ist die Hauptstadt des Landes Nirgendwo. Sie liegt in Europa, drei Stunden Autofahrt von Krakau entfernt. Aber sie ist ein Schemen, ein Gemeinwesen wie in ei-

Fortsetzung auf der folgenden Seite

nem luziden Halbschlaf befangen, in einer Art von erleuchteter Unwirklichkeit: "Ich könnte bis zum Dösigwerden auf der Westseite des Marktes sitzen", notiert der Erzähler, "bis zur endgültigen Demenz, wie ein Dorftrottel, ein Weichsel-Buddhist, ein abgeworfener, aus allen Wolken gefallener Herzbube." Dort wartet er darauf, daß die Dinge in ihn eindringen, wartet auf ein Glück, das man sich als etwas gleichsam Tierisches vorstellen muß, als etwas Räumliches, ganz der Zeit Entrücktes.

Andrzej Stasiuk steht auf seinem Hügel, weist mit der Hand über die Berge nach Südwesten, in die Slowakei, weist über die menschenleere Landschaft und sagt: "Dort liegt das Dorf, in dem Andy Warhol aufgewachsen ist. Sogar ein kleines Museum haben sie ihm eingerichtet." Oder er fährt dreihundert Kilometer, um in den abgelegenen Ort in Rumänien zu gelangen, aus dem Émile Cioran stammte. Nichts ist dort zu sehen, was die Welt dort von der Welt hinter Dukla unterscheiden würde. Nur das Licht ist anders, südlicher. Aber eben daß man nichts sieht, daß weder Andy Warhol noch Émile Cioran etwas Festes, Zukunftstaugliches zurückgelassen haben, beschäftigt Andrzej Stasiuk. "Mich interessiert nur, ob die Zeit ein Einweg-Artikel ist wie, sagen wir, das Hygienetaschentuch Povela Corner aus Tarnów." Haltbar soll die Welt sein, und in dieser Haltbarkeit hat die Zeit keinen Ort, weshalb die Toten, "die Mniszech, die Juden und die Kutschen Leerstellen hinterlassen haben, Hohlräume, wie Brandlöcher von Zigaretten im Ausgehanzug".

Nur kurz bremsen die Lastwagen ab, die aus dem Osten kommen und nach Westeuropa weiterrasen, und der Staub, den sie dabei aufwirbeln, ist wie das Material, aus dem die Erinnerungen geschaffen sind: "Die glänzenden Geschosse der Volvo-Tanks, die grasgrünen Mercedes-Laster, DAF-Sattelschlepper, rausgeputzte Jelz's, schneeweiße Scania" dröhnen durch die Ebene, und die Erinnerungen, die sich gegen diese Ungetüme zu behaupten hätten, sind durch eine Art Teilchenzertrümmerer gegangen. Sie sind zu einem losen Stoff geworden, haltlos, treulos, unzuverlässig und einem Gespensterbild ähnlicher als einem historischen Ereignis. Die Fotografie ist daher die Kunst, die der Poesie von Andrzej Stasiuk am nächsten kommt: vor allem, weil sie das Vorhandene dokumentiert, aber auch nicht weniger, weil es für das so Festgehaltene keinen Zusammenhang mehr gibt - und bald schon keiner mehr sagen kann, ob es sich um ein wahrhaftes oder ein arrangiertes Bild handelt, ob die Unterschrift oder die Datierung zutrifft, und überhaupt gibt es so viele Bilder, daß unter ihnen keine Ordnung zu halten ist.

Andrzej Stasiuks kleines Werk ist das Buch eines Wanderers, der sich in einem Automobil durch das Land bewegt. Es ist ein Straßenroman, eine polnische "road novel", mitsamt der zu diesem Genre gehörenden heiligen Landschaft und ihren wunderlichen Propheten. Wenn Andrzej Stasiuk die Welt hinter Dukla beschreibt, dann gleicht diese Gegend einer Landschaft aus frühester Zeit. Keiner hat hier wirklich Wurzeln geschlagen, hier leben nur Nomaden, ein jedes Leben wirkt, als sei es der Trägheit der Natur abgetrotzt. Ein Mädchen kommt, über die Sommerferien, der Erzähler verliebt sich in sie, aber es ist nichts gewesen, und dann geht der August zu Ende: "Ich starrte auf die Vertiefung im Sand. Sie war noch immer dort. Ich wußte, daß die Wärme an dieser Stelle andauerte, daß das Gewicht ihres Körpers sich dort verdichtet, daß es die spröde Form ausgefüllt hatte und daß ich nur wenige Schritte hätte zu tun brauchen, um diese kondensierte Gegenwart in Besitz zu nehmen." Die Weltanschauung von Andrzej Stasiuk erinnert an eine in die technische Welt übertragene Naturreligion, mit ihren Vorstellungen immerwährender Wiederkehr. An den vorbeirasenden Lastwagen sind nicht das Ziel und nicht die Herkunft interessant, sondern nur das Fahren - und vielleicht die Marke. Im Rückspiegel verschwinden nicht nur das letzte Dorf, der vergangene Tag, ein ganzes Jahr, sondern auch der Krieg, der Sozialismus oder die Wende zur Demokratie. Dahinter steht das Unvermögen, zwischen den einzelnen Umdrehungen eines Rades zu unterschieden. Stets wird nur die Drehung, nie die im Drehen zurückgelegte Entfernung wahrgenommen.

Die Karpaten sind das Land der Vampire. Natürlich lebten sie dort, weil sie sich dem Zugriff der aufgeklärten Welt entziehen mußten. Deren Fortschritt schien ihnen den Garaus gemacht zu machen. Andrzej Stasiuk hat die lebenden Toten zurückgerufen, aus guten philosophischen Gründen. Denn er ist ein wahrer Platoniker, er meint, in einer "metaphysischen Peepshow" zu leben, und wenn er seiner Wahrnehmung vertraut, dann weiß er nicht, ob er sich damit nur auf sich selbst oder auf eine äußere Welt verläßt - das Dinghafte an den Dingen ist eine unsichere Sache. Deswegen sind auch die Lebenden und die Toten nicht scharf getrennt.

In einer der letzten Geschichten des Buches berichtet der Erzähler, wie er in der Kirche von Dukla die in Marmor geschlagene Gestalt einer vor langer Zeit verstorbenen Fürstin betrachtet - und wie diese unter seinem Blick lebendig zu werden scheint. "Ihr magnetisches Skelett zog aus der Luft Elementarteilchen an und bildete ihren früheren Körper nach. Die Menschen in Dukla und auf der Welt schliefen ein und sanken auf den Grund der Zeit, sie aber verließ diese, setzte sich auf ihren Rand und horchte auf den wachsenden Pulsschlag des Blutes." Man kann solche Ideen für Archaismen halten, für wiedergekehrten Aberglauben. Aber das ist falsch. Denn die Erfahrung lehrt, daß die Welt träge ist, daß die Dinge nie einfach und abrupt enden, sondern fortdauern und weiterlaufen, bis sich ihnen jemand abrupt in den Weg stellt. Nicht dem Leben mißtraut solches Denken, sondern dem Tod. Das ist der Geist der Karpaten: Er glaubt an eine zeitlose Welt.

Sucht man nach Vorbildern für dieses Buch, so wird der Leser kaum fündig. "Das Tal der Issa" von Czeslaw Milosz scheint von ferne verwandt. Aber es gibt Litauens mythische Landschaft in diesem Buch der Erinnerung nur, weil sie durch die Welterfahrung eines Kindes gedeckt ist. Andrzej Stasiuk aber erzählt in Augenhöhe mit sich selbst, als erwachsener Mann. In seiner Meisterschaft, jedes Erbe auszuschlagen, sind ihm Viktor Pelewin, Wladimir Sorokin oder auch Nicholson Baker, also die Schriftsteller seiner eigenen Generation, viel näher als jeder Autor des alten Mitteleuropa. Wenn Andrzej Stasiuk versucht, diese Landschaft bis in jeden Winkel, jede Faser lebendig werden zu lassen, dann hat dieses Unternehmen einen anderen, verzweifelt analytischen Grund: "Wenn eine Wetterfront vorbeizieht, dann zeigen sich lange, weiße Wolken am Abgrund des Lazur. Sie sehen aus wie Knochen, wie einer zerstreute, nebulöse Wirbelsäule. Denn so wird es ganz am Ende sein. Sogar die Wolken werden verschwinden, nur das himmelblaue, grenzenlose Auge wird bleiben über den Resten." Die Welt hinter Dukla ist ein Kaleidoskop der letzten Hoffnung, nach dem Ende aller großen Lehren. Diese Hoffnung lautet: Wenn nichts mehr ist, kommt alles wieder. Es ist aber nur das Bild, das poetische Bild, das diese Wiederkehr verspricht.

Andrzej Stasiuk: "Die Welt hinter Dukla". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Olaf Kühl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 176 S., geb., 36,- DM.

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