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Deutsche Besetzung, Vertreibung, Kalter Krieg, Mauerfall - Wlodzimierz Nowak erzählt von zwölf Schicksalen in der polnisch-deutschen Grenzregion, die man so schnell nicht vergisst.
Als Wlodzimierz Nowak sie trifft, ist Adelheid M. bereits 65 Jahre alt. Doch immer noch hat sie Angst - Angst vor der Erinnerung an die Nacht, in der die Mütter und Großmütter des Ortes erst ihre Kinder und Enkelkinder, dann sich selbst mit Messern, Schlingen und Seilen umbrachten aus Angst vor den vormarschierenden Russen. Adelheid überlebte, weil ein sowjetischer Soldat sie rechtzeitig von der Schlinge…mehr

Produktbeschreibung
Deutsche Besetzung, Vertreibung, Kalter Krieg, Mauerfall - Wlodzimierz Nowak erzählt von zwölf Schicksalen in der polnisch-deutschen Grenzregion, die man so schnell nicht vergisst.

Als Wlodzimierz Nowak sie trifft, ist Adelheid M. bereits 65 Jahre alt. Doch immer noch hat sie Angst - Angst vor der Erinnerung an die Nacht, in der die Mütter und Großmütter des Ortes erst ihre Kinder und Enkelkinder, dann sich selbst mit Messern, Schlingen und Seilen umbrachten aus Angst vor den vormarschierenden Russen. Adelheid überlebte, weil ein sowjetischer Soldat sie rechtzeitig von der Schlinge erlöste.

50 Jahre nach der Schreckensnacht von Wildenhagen: An der deutsch-polnischen Grenze entlang der Neiße gibt es unzählige Schleuser, die gegen Geld Flüchtlinge aus Russland, Sri Lanka oder Afghanistan nach Deutschland führen. Nowak hat einen von ihnen aufgesucht, den 23-jährigen Arek Banecki. Ohne seine illegale Arbeit würden die Baneckis nicht überleben können ...

Anhand von zwölf Schicksalen erzählt Wlodzimierz Nowak von der komplexen, oft schmerzhaften Beziehung zwischen Polen und Deutschen. Seine Reportagen, in denen er die Menschen lebendig werden lässt, entfalten dabei eine ungeheure Sogwirkung.
Autorenporträt
Wlodzimierz Nowak, geboren 1958, ist seit über einem Jahrzehnt Reporter der Gazeta Wyborcza - derselben Zeitung, in der auch Ryszard Kapuciski seine Reportagen veröffentlichte. 2010 wurden Wlodzimierz Nowak und seine Übersetzerin Joanna Manc mit dem Georg-Dehio-Ehrenpreis ausgezeichnet.

Joanna Manc, geboren 1959 in Gdynia, lebt seit 1968 in Frankfurt am Main. Sie studierte Germanistik, Romanistik und Slawistik und ist seit 1994 Übersetzerin aus dem Polnischen. 2006 erhielt sie den Förderpreis des Europäischen Übersetzerpreises Offenburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2009

Mein Warschaukoller
Wlodzimierz Nowaks deutsch-polnische Reportagen

Wenn früher von der polnischen Reportage die Rede war, wurden sofort, meist in einem Atemzug, zwei Namen bemüht: Hanna Krall und Ryszard Kapuscinski. Thematisch waren ihre Texte zwar völlig woanders angesiedelt, eines verband sie aber: die Kunst stilistischer Kreation, weshalb sie auch von der Kritik übereinstimmend als "literarische Reportagen" bezeichnet wurden. Heute spricht man bereits von einer "polnischen Schule der Reportage", nennt als deren Brutstätte die Redaktion der Warschauer "Gazeta Wyborcza" und fügt den beiden Namen noch einen dritten hinzu: Malgorzata Szejnert. Die 73 Jahre alte "Königin der Reportage", wie sie von ihren Kollegen gern tituliert wird, belegte soeben gleich mit zwei Büchern - das eine handelt von der schlesischen Arbeitersiedlung Giszowiec, das andere von Ellis Island -, wie gut sie ihr Handwerk beherrscht.

Dass sich um die "Gazeta Wyborcza", wo jährlich gut dreihundert Reportagen erscheinen, viele begabte Nachfolger der drei Altmeister gruppieren, konnte man auch hierzulande bemerken: an der von Martin Pollack herausgegebenen Anthologie "Von Minsk nach Manhattan" (2006) oder an dem glänzenden Soloauftritt, den Mariusz Szczygiel mit seinem Buch "Gottland" (2008) hatte. Nun macht es ihm sein Kollege Wlodzimierz Nowak mit dem Buch "Die Nacht von Wildenhagen" nach, einer Sammlung von Reportagen, die von 1997 bis 2006 in der "Gazeta" erschienen sind und, wie es im Untertitel heißt, "zwölf deutsch-polnische Schicksale" schildern.

Mit dem "doppelnationalen" Hinweis ist mal eine Verflechtung, mal eine Parallelität gemeint, in den meisten Fällen gehen die Geschichten der jeweiligen Protagonisten aber ineinander über. Wie in der Auftaktreportage "Von Wanda, die den Deutschen nicht wollte", die von dem früheren Unternehmer Gerhard Zandecki handelt. In den achtziger Jahren als Organisator großer Hilfslieferungen für Polen bewundert und gefeiert, fristet er heute in der polnischen Provinz ein Obdachlosendasein. Schuld an seiner Misere ist eine polnische Krankenschwester, die er während seiner Hilfsaktionen kennengelernt hat. Glück, Liebe, gemeinsames Haus, all das gehört längst der Vergangenheit an, es gibt nur noch Vorwürfe und Beschimpfungen.

Oder, um eine von Nowaks historischen Reportagen als Beispiel zu nehmen, in dem preisgekrönten "Kopfumfang": der Geschichte der Witaszek-Schwestern, deren Vater 1942 von den Deutschen hingerichtet wurde und die zunächst in das "Heim Pommern" in Bad Polzin, eines der größten Lebensborn-Zentren des Dritten Reichs, und dann nach Deutschland respektive Österreich verschleppt wurden. Noch als Erwachsene sind Alodia/Alice und Daria/Dora zwischen ihren beiden Identitäten hin und her gerissen.

Obwohl sie sich auf die Kriegszeit, sprich: auf das bekannteste Kapitel der schwierigen Nachbarschaft beziehen, sind es in erster Linie diese historischen Reportagen, die den Leser in Atem halten. Das gilt für "Kopfumfang" wie für die Titelgeschichte, in der die kleine Adelheid Nagel Zeugin eines kollektiven Selbstmordes wird. Angesichts der heranrückenden Roten Armee bricht unter den Frauen von Wildenhagen eine Massenhysterie aus, und sie beschließen, sich und ihre Kinder aufzuhängen. Adelheid selbst entkommt knapp dem Tod, indem sie, einen Strick um den Hals, den verlangten Sprung hinauszögert und schließlich von einem sowjetischen Soldaten gerettet wird. Es gibt noch weitere Überlebende, die Bilanz jener Nacht ist dennoch erschreckend: Dutzende Bewohner von Wildenhagen sind tot, in anderen Orten beträgt die Zahl der Opfer sogar mehrere hundert. Fakten, die in Polen bis heute so wenig bekannt sind wie seinerzeit das Pogrom von Jedwabne.

Nicht minder eindrucksvoll ist die Geschichte von Mathi Schenk aus "Mein Warschaukoller", der als junger Wehrmachtssoldat an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands teilnahm. Seiner eigenen, mäßigen Kampflust steht die Brutalität der berüchtigten "SS-Sturmbrigade Dirlewanger" entgegen, der Schenks Einheit eine Zeitlang zugeteilt war. "Hinter uns zog Dirlewangers Horde nach", erinnert er sich. "Sie sahen aus wie Lumpengesindel; dreckige, zerrissene Uniformen, nicht alle hatten Waffen, deswegen nahmen sie den Getöteten ihre weg." Dirlewanger selbst "trieb seine Leute an. Denjenigen, die zögerten, schoss er in den Rücken."

Die Art, in der Nowak das Wüten der Dirlewanger-Schergen schildert, erinnert mitunter an Miron Bialoszewskis berühmtes Tagebuch aus dem Warschauer Aufstand, "Alles was war". Die Erzählperspektiven sind zwar denkbar verschieden, doch der Stil ist ähnlich lakonisch, es herrschen eine vergleichbare Sachlichkeit und scheinbare Teilnahmslosigkeit. "Über den Platz jagten sie die Krankenschwestern aus dem Lazarett", lautet eine Szenenbeschreibung, "nackt, mit den Händen auf den Köpfen. An ihren Beinen lief Blut herunter. Dahinter zogen die Männer den Arzt mit einem Strick um den Hals. Er war in ein Stück Fetzen gekleidet, das rot war, vielleicht vom Blut, und trug eine Dornenkrone auf dem Kopf."

Dieser um Neutralität bemühte Berichterstatterton ist eine der auffälligsten Eigenarten von Nowaks Erzählstil. Hinzu kommen seine grandiose Beobachtungsgabe, seine Bereitschaft, den ihm begegnenden Menschen aufmerksam zuzuhören, und seine Recherchenwut. Letztere hat einen bisweilen ermüdenden Detailreichtum, aber auch einige schier unglaubliche Schicksalsbeschreibungen zur Folge. Etwa "Die Abenteuer des braven Soldaten Manfred": die Geschichte eines Wehrmachts-Deserteurs, der sich den polnischen Partisanen anschließt.

In diesem sachlich-nüchternen Ton, der in Verbindung mit Nowaks Hang zu Zeitsprüngen und assoziativem Denken eine eigenartige Spannung erzeugt, sind auch die Texte gehalten, die von der Gegenwart handeln: von zaghaften Annäherungsversuchen zwischen Deutschen und Polen nach der Öffnung der Grenzen, von den Profiteuren der EU-Erweiterung oder von neuen Feindbildern in Zeiten der Wirtschaftskrise. In "Adam und Ewka im Paradies" erscheint die Grenzstadt Slubice als ein Eldorado der Bordellbetreiber, Prostituierten und Zigarettenschmuggler. In "Über die Neiße, über die Oder" geht es um den Alltag einer Schlepper-Familie. "Der Radiowecker von Frau Mohs" ist die Beichte einer Ostdeutschen, die den Sprung vom Sozialismus zum Kapitalismus nur widerwillig geschafft hat. Und "Zwei Minuten kontra drei" wirft einen Blick auf die mittlerweile konkurrierenden Opel-Werke in Bochum und Gliwice.

Ob er nun von Vergangenheit oder Gegenwart erzählt, als begabter Schüler der besagten drei Altmeister erweist sich Nowak allemal. Mit Malgorzata Szejnert scheint er die Liebe zum Detail zu teilen, mit Hanna Krall verbindet ihn der Hang zur Lakonie und Sachlichkeit. Und mit Ryszard Kapuscinski hat er die Fähigkeit gemein, individuelle Schicksale so zu erzählen, ihnen ein solches Stigma der Wiederholbarkeit und Dauerhaftigkeit zu verleihen, dass dahinter schließlich historische Mechanismen sichtbar werden. "Der Wunsch, die Geschichte in Aktion zu erleben", antwortete Kapuscinski gern auf die Frage, was die stärkste Antriebskraft eines Reporters sein sollte. Wlodzimierz Nowak scheint seine Ansicht zu teilen.

MARTA KIJOWSKA

Wlodzimierz Nowak: "Die Nacht von Wildenhagen". Zwölf deutsch-polnische Schicksale. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 300 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2009

Der Strick um den Hals
Ein großartiger Erzähler: Wlodzimierz Nowak schreibt über deutsch-polnische Schicksale
Wildenhagen – so hieß bis zum Kriegsende ein kleines Dorf auf dem Ostufer der Oder unweit von Frankfurt. Seitdem wohnen dort Polen, und das Dorf wurde in Lubin umbenannt. Im letzten Kriegsjahr 1945 spielte sich dort eine Tragödie ab, von der der polnische Reporter Wlodzimierz Nowak zufällig erfahren hat, die er dann aber akribisch recherchierte: Eine Gruppe von Frauen und Kindern hat dort Selbstmord begangen, sie haben sich erhängt. Nowak hat eine Augenzeugin dazu ausführlich befragt, nach Jahrzehnten des Verschweigens und Verdrängens hat sie sich ihm erstmals geöffnet. Sie war damals zehn Jahre alt, sollte nach dem Willen ihrer Mutter und Tante sich auch erhängen, hatte bereits den Strick um den Hals, wagte dann aber den Sprung vom Hocker nicht. Den Strick um ihren Hals gelöst haben Rotarmisten, die auf diese Weise zu ihren Rettern wurden.
Dabei war gerade die Rote Armee der Grund, warum sich die Frauen von Wildenhagen das Leben nahmen: Sie hatten per Volksempfänger von den Grausamkeiten gehört, von den Massenvergewaltigungen, denen deutsche Frauen beim Vormarsch der Rotarmisten zum Opfer fielen. Es gab niemanden in ihrem Dorf, der sie hätte schützen können, die Männer waren an der Front, in Kriegsgefangenschaft oder gefallen. In der Tradition großer polnischer Reporter erzählt Nowak diese grausame Geschichte lakonisch, ohne erkennbares Mitgefühl, ohne eigenen Kommentar aus der Perspektive der unbestechlichen Kamera – und gerade seine Zurückhaltung lässt sie umso tiefer wirken. Doch nicht die Rekonstruktion von Ereignissen aus dem Zweiten Weltkrieg ist das Hauptanliegen des Autors. Er sieht sich nicht als Historiker, vielmehr spürt er den psychologischen Verwerfungen zwischen Deutschen und Polen heute nach. Er beschreibt Schicksale, die jedes für sich individuell sind, die gleichzeitig aber auch die Mechanismen der großen Politik aufzeigen, gerade auch der gegenwärtigen.
Da gibt es die polnische Familie in einem Dorf unweit der Grenze, die Flüchtlinge aus der Dritten Welt über die Oder schleust und immer wieder mit der deutschen Staatsgewalt aneinandergerät. Da gibt es Gestrandete aus beiden Ländern, die in Slubice gegenüber von Frankfurt an der Oder meinen, im Bordellgewerbe doch noch ihr Glück machen zu können und erbärmlich scheitern. Da gibt es auch den Deutschen, der in den achtziger Jahren Hilfstransporte in das unter dem Kriegsrecht darbende Polen organisierte, sich von allen Seiten dafür feiern ließ, sogar eine wesentlich jüngere polnische Braut fand, nach dem Zusammenbruch des Regimes aber seine Lebensaufgabe verlor, von der Frau finanziell ausgenommen wurde und nun im Lande seiner einstigen Liebe ein Pennerdasein führt.
So als hätte er ein Schlagzeilen machendes Thema von heute vorausgesehen, hat er vor vier Jahren eine Reportage aus den Opelwerken in Bochum und in Gleiwitz geschrieben, der rote Faden: die deutschen und die polnischen Opelaner konkurrieren miteinander, lassen sich gelegentlich sogar gegeneinander ausspielen, obwohl die Gewerkschaften sich immer wieder gegenseitige Loyalität versprochen haben. Nowak nimmt auch hier keinerlei Partei, veranschaulicht aber, gelegentlich mit einem Anflug von Humor und von Ironie, die unterschiedlichen Mentalitäten der Arbeitskollektive.
Sein Hauptanliegen aber bleibt es, die seelischen Wunden auszuleuchten, die der Krieg geschlagen hat, die noch Jahrzehnte später das Fühlen und Denken der Menschen prägen. Polnische Mädchen, die in Lebensbornheimen germanisiert wurden, die heute zwischen beiden Identitäten hin und her gerissen sind. Ein deutscher Soldat, der beim Warschauer Aufstand Häuser, Kirchen, Paläste sprengen musste, der Augenzeuge schrecklichster Mordtaten der Waffen-SS wurde, der bis heute daran trägt, bei einem grausamen und ungerechten Krieg mitgemacht zu haben. Jedes dieser Schicksale ist fesselnd beschrieben, Nowak hat bei seinem Springen zwischen den einzelnen Zeitebenen nie den großen Spannungsbogen verloren. Er ist ein großartiger Erzähler, und seine Reportagensammlung gehört zweifellos zu den besten aktuellen Büchern über die immer noch so schwierigen deutsch-polnischen Beziehungen. THOMAS URBAN
WLODZIMIERZ NOWAK: Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009. 303 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einen würdigen Nachfolger der alten Garde der "Gazeta Wyborcza" sieht Marta Kijowska in diesem Autor, der sie mit seinen Reportagen genauso überzeugt, wie einst Malgorzata Szejnert oder Ryszard Kapuscinski. Die zwischen 1997 und 2006 in der "Gazeta" erschienenen Texte Wlodzimierz Nowaks, die um deutsch-polnische Geschichte und Schicksale kreisen, halten sie ganz schön in Atem. Dabei kommen laut Kijowska nicht nur Fakten zutage, die weitgehend unbekannt sind. Nowaks lakonischer Berichterstatterstil, seine Beobachtungs- und Recherchegabe und seine eingehende Beschäftigung mit den Menschen, die er dem Leser vorstellt, bescheren der Rezensentin "unglaubliche Schicksalsbeschreibungen". Wehrmachtsdeserteure haben ihren Auftritt, Schlepper und alte und neue Feindbilder. Spannung beziehen die Texte laut Kijowska durch Nowaks die Nüchternheit unterlaufenden Hang zu Zeitsprüngen und assoziativem Denken. Am Ende hat die Rezensentin nicht nur individuelle Schicksale vor Augen, sie weiß auch um die "historischen Mechanismen" dahinter.

© Perlentaucher Medien GmbH