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"Strauß sieht, wie wirklich nicht viele sehen können", sagt Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung über Botho Strauß. In diesem Buch finden wir Erzählungen über die Haltbarkeit der Träume und die Brüchigkeit der Realität. Es führt uns in eine Weltder Träume, der Verwandlungen, der Abgründe. Man träumt von anderen, erträumt sich andere, wird selbst ein anderer. Strauß führt in die unterirdischen Gänge des Bewusstseins, wo, wie er sagt, "etwas ausgekocht wird, das langsam, aber sicher aufsteigt und unser Verhalten, unseren Blick auf die Welt verändert, ohne dass wir genau angeben können, wie…mehr

Produktbeschreibung
"Strauß sieht, wie wirklich nicht viele sehen können", sagt Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung über Botho Strauß. In diesem Buch finden wir Erzählungen über die Haltbarkeit der Träume und die Brüchigkeit der Realität. Es führt uns in eine Weltder Träume, der Verwandlungen, der Abgründe. Man träumt von anderen, erträumt sich andere, wird selbst ein anderer. Strauß führt in die unterirdischen Gänge des Bewusstseins, wo, wie er sagt, "etwas ausgekocht wird, das langsam, aber sicher aufsteigt und unser Verhalten, unseren Blick auf die Welt verändert, ohne dass wir genau angeben können, wie es geschieht."
Ein Buch der Träume, der Verwandlungen, der Abgründe. Jede Nacht träumen wir uns in eine andere Welt, träumen von anderen und werden selbst ein anderer. Strauß führt in die unterirdischen Gänge des Bewusstseins, wo etwas ausgekocht wird, das langsam, aber sicher aufsteigt und unser Verhalten, unseren Blick auf die Welt verändert, ohne dass wir genau angeben können, wie es geschieht. Erzählungen über die Haltbarkeit der Träume und die Brüchigkeit der Realität.
Autorenporträt
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände "Mikado" (2006), "Die Unbeholfenen" (Bewußtseinsnovelle, 2007), "Vom Aufenthalt" (2009), "Sie/Er" (Erzählungen, 2012), "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" (Aufsätze, 2012), "Die Fabeln von der Begegnung" (2013), "Kongress" (Die Kette der Demütigungen, 2013), "Allein mit allen" (Gedankenbuch, 2014), "Herkunft" (2014), "Oniritti Höhlenbilder" (2016), "zu oft umsonst gelächelt" (2019) und "Nicht mehr. Mehr nicht" (Chiffren für sie, 2021).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.08.2003

Und es kämpft der Teufel um die Säfte
Ein Knäuel herrlichster Imaginationen: Botho Strauß enttäuscht die Liebhaber des Boulevards, um mit Klugheit zu verzücken
In den achtziger Jahren, als aus dem Theatergötterliebling Botho Strauß der antimoderne, archaische Griesgram zu werden schien, hatte eine zunehmend befremdete Öffentlichkeit kokett geseufzt: Ach, er könnte unser bester Boulevardkomödiendichter sein, wenn ihm nur nicht immer zwanghaft die grausigen mythologischen Versatzstücke, der hohe Ton und diese preziösen Arrangements dazwischenführen! Aus Theaterkritikern wurden herablassende Lektoren, die versicherten, mit wenigen gezielten Strichen Strauß von seinem unnötigen, tiefgründelnden Ballast befreien und für die Lesbarkeit und das ironische Einverständnis retten zu können.
Tatsächlich ist das Mischungsverhältnis zwischen dem Leichten und dem Schweren bei Botho Strauß ein überaus exquisites und – zugegeben – oft anstrengendes. Der kulinarische Wunsch aber nach einer metaphysischen Diät, nach leichter Kost ohne schweres Öl, täuscht sich auch über das Leichte bei Strauß. Denn der hohe Ton, das Mythologische und das Preziose sind keine zusätzlich angeschraubten Intarsien, die gewissermaßen die Bauhausstrenge der ironischen Gesellschaftskomödie überformen und entstellen, sie sind vielmehr der Boulevard im höchsten Sinne selbst: Das Ineinander von menschlicher und göttlicher Komödie. Denn nur wo ein Gott dem Menschen das Bein stellt, ist sein Sturz komisch und sublim zugleich.
Vielleicht sind wir in unseren Lektürehaltungen zu sehr konditioniert: Nervös suchen wir jeden Text nach seinen subtilen Ironiesignalen ab – und haben wir diese einmal gefunden, so können wir mit so ziemlich allem leben. Er sei, hieß es bereits in der „Trilogie des Wiedersehens” von einer Figur, er sei „immer ein furchtloser Künstler gewesen, ein ganz und gar furchtloser”. Wir sind heute furchtlose Avantgardisten unter Vorbehalt: Jede künstlerisch kühne Abgedrehtheit können wir goutieren, solange diese sich gleichsam in Anführungszeichen setzen, durch ein Augenzwinkern relativieren lässt. Gänzliche Ironiefreiheit ist denn auch die rote Karte in unserem kritischen Besteck. Bei Strauß sucht man dieses Augenzwinkern vergebens. Das hat ihn aus der Mitte der Kunstgemeinde, die er in den achtziger Jahren mit „Paare, Passanten” so fraglos besetzte, an den Rand gedrängt.
Gut gelaunt genießen
Das neue Buch von Botho Strauß hat den vielleicht schönsten Buchtitel dieses Herbstes: „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich”. Es scheint das ganze Buch bereits in diesem Titel zu stecken: Das Figurenpersonal in der spannungsvollen Dreier-Konstellation eines Seitensprungs; die nächtliche Handlungszeit, wenn die Begierden und die Eifersucht am heftigsten sind; das Unerlaubte sowohl des Seitensprungs wie des spionierenden Umherschleichens; das Beobachten der Beobachter; die Marivaux-hafte Versteck- und Intrigenkunst. Gut gelaunt genießen, freut sich der Leser, ein frivoler Roman! Aber natürlich hat Strauß diesen Dreiecksroman so wenig geschrieben, wie er Boulevardkomödien zu liefern bereit war.
Auch der neue Botho Strauß ist wieder ein Buch der kompliziert ineinander geschalteten Sequenzen, der theaterhaft jäh ausgeleuchteten Augenblicksszenen, des Wechsels von Tag- und Traumwelten und des Aufbäumens von mythischen Dämonen unter den Masken des gesellschaftlichen Subjekts. Das alles macht die Lektüre nicht einfach, aber – so scheint es – drunter geht’s nicht. Nur in dieser poetischen Technik gelingt Strauß sein erstaunlicher Zugriff auf die Triebwelt der Menschen, die in jedem konventionellen, pfiffigen Erzählrahmen durch die Stereotypen der sozialen Rollen verdeckt und ummäntelt würde.
Botho Strauß ist der große Dichter der Anarchie der Gefühle. Er, der Konservative, glaubt an die Perversion wie nur je ein Marquis de Sade. In der Perversion blitzt die ursprüngliche Begierde undomestiziert von gesellschaftlichen Zurichtungen auf. In seinem Schauspiel „Der Park” von 1983 müssen Oberon und Titania, versetzt in die Gegenwart, erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass sie, wann immer sie ihren Mantel im Park aufschlagen und ihren nackten, stark beharrten Leib zeigen, als Exhibitionisten verjagt werden. „Irgendetwas machen wir am Ende falsch”, seufzt die ratlose Titania: „Wenn wir uns zeigen, sind sie nicht begeistert. / Ich hab noch keinem in ein freudiges Gesicht gesehen, / nicht einen Funken meiner Strahlen empfing ich je zurück. . . . Ist überhaupt Geschlechtlichkeit in ihnen?”
In „Die Nacht mit Alice” wird für eine Party eine junge Raverin mit dem „modischen Oralsexappeal” engagiert. Ein Moderator liest eine Zeitungsnotiz vor, nach der ein Mann, nachdem er sich an einer Bergziege vergangen habe, zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt worden sei. Was sie davon halte? „Gott sei Dank”, antwortet das „Popsternchen”, „hat das arme Tier das Zeug nicht schlucken müssen.” Und sie fügt hinzu: Sie würde nur eine Partei wählen, die sich für die Interessen der Tiere einsetze.
Ist das jetzt köstliche Ironie? Nein, aber es ist gerade in dem verbiesterten Ernst, mit dem Strauß hier die Gegenwart als anämisch oralsexuell denunziert, komisch und wahr. Natürlich hätte man lieber den gleichen Effekt – nur ohne die denunziatorische Watsche gegen die „Raverin”, das „Popsternchen”, aber man kann halt nicht alles haben.
Immer wieder geht es im neuen Botho Strauß um das ursprüngliche Ausdrucks- und Passionspotential, das die Menschen wie unter einem bösen Bann immer wieder verfehlen. Eine der schönsten Binnengeschichten handelt von Veit Billing, der Schauspieler ist. „Der Schauspieler ist der Mensch, der jede Belanglosigkeit mit kristallklaren Endsilben ausspricht.” Auch Veit Billing ist unfähig zu nuscheln, und er leidet darunter, denn über alles schlängelt sich „seine aalglatte Stimme”, dieses „hohltönende Organ” hinweg. Die perfekte Sprecherziehung als Vitalitätsnivellierer: „Lust. Schmerz. Bitternis. Über alles hinweg geht meine grausame Schönstimme, keinen Kratzer hat sie davongetragen. Niemals kann sie zum Ausdruck bringen, wie es wirklich mit mir steht.” So niederschmetternd ist es, dass er sich seine Stimmbänder wegoperieren lassen möchte. Doch vorher sucht er einen Freund auf. Der fängt an, ihn zu beleidigen und zu demütigen, er schüttet einen solchen Sturzbach an Bosheit über Billing aus, dass plötzlich dessen Stimme aus dem Leim geht: „Schön schartig klang sie, manchmal ein wenig nuschelig, schartig hier, nuschelig dort, undeutlich und klirrend, je nachdem. Genau wie es sich für einen ausdrucksfähigen und labilen Menschen gehört.” Das ist großartig in Szene gesetzt, und wie Strauß seine Worte setzt, der reine Sirenengesang.
Reserven der Fremdheit
Es ist die Zeit „nach dem Ende des Geschlechterkampfs”; Abstumpfung und Ermüdung sind eine grassierende Krankheit. Denn seit „die natürliche Befangenheit zwischen den Geschlechtern wie ein letzter Schleier davonflog”, hat nicht nur der Eros seine Wildheit verloren: Alle längeren Bindungen verlieren sich in Gleichgültigkeit. „Stille Reserven der Fremdheit” fehlen. „Schließlich kommt es bei einer solchen Geschichte darauf an, dass der andere nach vielen Jahren noch immer ein anderer ist.”
Diese Andersheit vermag die Bosheit hervorzukehren, manche von Straußens Figuren stürzen sich deshalb geradezu in Ekstasen der Bosheit. Dann sind sie wie von einem Gott besessen, und auch an ihren Körpern können sich die merkwürdigsten Metamorphosen vollziehen. Metamorphosen – und dies ist ein weiteres Motiv dieses Buches –, die mal dämonischer, mal wissenschaftlichen Ursprungs sind. Vereinfachend gesagt, herrscht hier ein Kampf zwischen den Dämonen und Göttern auf der einen Seite, die ihre alte Triebgewalt in den Menschen wieder erwecken wollen, und der biogenetischen Wissenschaft, die an der Kalmierung unserer Gemütsbewegungen arbeitet. Wie der Teufel um die Seele kämpfen diese beiden Parteien um den Körper des Menschen, der unentschlossen schwankt zwischen den Verheißungen biochemischer Zähmung seiner „Humoralsäfte” und dionysischem Frontalangriff auf – um es metaphorisch zu sagen – das Hinterteil der Ziege.
Auch im neuen Botho Strauß hat man nicht die eine ausbalancierte runde Geschichte. Aber dafür in berückender Verwirrung einen Knäuel herrlichster Imaginationen. Sie kreisen um das „Fleisch”, den „Stellvertreter des Herzens im Handgemenge der Liebe. Märtyrer unzähliger Schmähungen und Abweisungen. Stuntman eines Ichs, das letztlich immer von den Leistungen seines Doubles enttäuscht war.”
IJOMA MANGOLD
BOTHO STRAUSS: Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich. Hanser Verlag, München 2003. 150 S., 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2003

Der süße, wüste Traum
Botho Strauß schleicht durch leere Städte und lange Nächte

Airy nothings, so nennt Shakespeare im "Sommernachtstraum" die Werke der Dichter: ein Nichts aus Luft. Wie fast immer, wenn bei Shakespeare von der Poesie die Rede geht, ist der Sinn der Worte zweideutig: Nichtig ist die Dichtung und doch zugleich das Höchste, was Menschenhand und Menschengeist vollbringt. Denn was wäre schwieriger, als der Luft Form und Inhalt zu verleihen? Wer es vermag, darf sich mit den Göttern messen.

Botho Strauß, der schon einmal, in seinem Schauspiel "Der Park" (1984), auf den "Sommernachtstraum" verwies, mißt sich nicht mit den Göttern. Er ringt mit der Leere, die sie hinterlassen haben. Von zwei Aufgaben hat er die größere gewählt.

Entstanden ist darüber ein Buch der airy nothings, ein flüchtiges Gebilde, schwer zu umreißen, schwerer noch zu deuten, anmutig und leichtfüßig, gebildet und gedankenschwer, das Werk eines schwermütigen Zauberers. Unsere Spiele sind vorüber, sagt Prospero und zerbricht seinen Zauberstab. Aber aufhören können wir mit ihnen nicht, sagt Botho Strauß und hebt einen Splitter wieder auf. In diesem Splitter, im magischen Fragment, haben wir den Kern dieses Buches und sein Formprinzip.

Bevor Strauß sich den entschwundenen Göttern zuwendet, geht es um Menschen, um Mann und Frau, geht es um Beziehungen, um Eros und Gewohnheit, um die Ehe und die Affäre, um Betrug und Vertrauen. Der Ich-Erzähler, ein Mann, den man sich etwa fünfzigjährig denkt, betreibt eine Schauspielervermittlung. Die Geschäfte gehen schlecht, sein Stadtviertel verödet. Endzeitstimmung. Kopfüber stürzt er in eine Affäre. Verheiratet ist er mit Julia, verfallen ist er Alice.

So nimmt das Geschehen seinen Anfang: "Mann und Frau gehen am Morgen den Boulevard hinunter." Er hat sie betrogen, sie, so glaubt er, weiß von nichts. Unversehens tritt die Geliebte aus einem Juweliergeschäft. Nun kann sich alles ereignen, die Katastrophe oder auch nur ein peinlicher Moment, der in Sekundenschnelle vorübergeht. Blicke treffen sich, zumindest ein Herz, das des Mannes, schlägt "bis zum Hals". Ein freundlicher Blick, ein kurzer Gruß. Das war's.

Das war's? Wohl kaum. Denn Blick und Gruß der Geliebten galten nicht ihm, dem Liebhaber für eine Nacht, sondern Julia, seiner Frau. Die Frauen kennen sich? Wer wußte was von wem, in dieser "Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich"? Und was ist überhaupt geschehen, was war Traum, was Wirklichkeit? Wie es zu der Affäre kam, wie sie geschehen konnte, was seine Frau davon weiß, das sind die Fragen, denen der Erzähler nun nachgeht. Aber die kurze Inhaltsangabe verweist lediglich auf einen Strang des Buches, nur auf die äußere Handlung. Sie ist die Klammer zwischen den Splittern, zwischen Binnenerzählungen, Abschweifungen, Traumsequenzen, Reflexionen und Sentenzen.

Ganze sieben Seiten benötigt Botho Strauß für die Exposition. Dabei wechselt er, von Absatz zu Absatz, zwischen zwei Ebenen. Neben die knappe Schilderung der Ausgangssituation tritt die Reflexion über den Traum und sein Verhältnis zur Wirklichkeit. Die Ehe mit Julia: Routine, aber gefestigt. "Keine Ausbrüche mehr, keine Erschütterungen, weder im Glück noch im Streit." Der Traum: Die "Schmiede des Unverstehens", die "heimliche Rückversicherung", die "anarchische Reserve". In der Nacht mit Alice wälzt der Erzähler den Kopf in den Kissen und "träumt von den tausend Unbekannten, die alle auch noch in sein Leben treten wollen". Eher Alb- als Lusttraum. Hier ächzt ein Gelegenheits-Casanova in die Federn, gejagt von den Furien der schieren Möglichkeit, geängstigt von den tausend Zufällen, die noch auf ihn warten mögen, gekettet jedoch an den einen Zufall, von dem er nicht lassen kann und will, seine Frau.

Daß Botho Strauß über das Geschlechterverhältnis so genaue Beobachtungen, treffsichere Sentenzen und glänzende Sottisen wie kein zweiter deutscher Schriftsteller zu formulieren versteht, wissen wir seit vielen Jahren. Ihnen verdanken wir einen großen Teil unseres Vergnügens an der Lektüre seiner Bücher. Unsere Bewunderung aber gehört Sätzen wie diesen: "Allein das menschliche Gesicht ist wüst und unlesbar wie ein Traum. Selbst wo wir ein pfiffiges Lächeln, ein breites Grinsen, gewisse banale Regungen und Absichten unmittelbar erfassen können, bleibt es in seinem ganzen Anschein doch immer undurchschaubar." Wie hier Traumlandschaft und Gesichtslandschaft, Physiognomik und Traumdeutung ineinander verschränkt werden, das entspringt einer Beobachtungsgabe höherer Ordnung. So wesentlich der Themenkomplex der Geschlechterverhältnisse für das Werk von Botho Strauß zweifellos ist, oft dient er dem Autor nur als Sprungbrett: zurück in den Mythos, hinauf in die Transzendenz.

Die Rede vom Traum durchzieht das ganze Buch, bis, zehn Seiten vor dem Ende, dem Erzähler ein Licht aufgeht: "Mittsommernacht! Daran hatte ich nicht gedacht." Shakespeares magische Nacht also, in der Puck Elfen und Menschen Streiche spielt und Titania sich in einen Eselskopf verliebt. Zwei Motive zieht Shakespeare hier ins Lächerliche: Die Liebe auf den ersten Blick und die Vermutung, daß Liebe blind macht. Strauß nimmt beides ernst, vor allem den Zauber des ersten Blicks. Ihm gilt die letzte Reflexion des Buches. Wieder sind es nur sieben Seiten, die Strauß benötigt, um das Schlußfragment zu setzen, und wieder sind es sieben Seiten, auf denen ihm mehr gelingt als anderen auf siebzig.

Zunächst ist von Blicken die Rede, die zwei tauschen, die schon lange "miteinander" sind, dann erinnert sich der Erzähler an seine erste Begegnung mit Julia. Wenn zwei, die sich lange kennen, sich doch immer wieder anblicken wie Unbekannte, hat das einen einfachen Grund: Das Unbekannte am Anderen geht "aus der Gewöhnung und der Dauer der Zeit hervor, seinem unbegreiflichen Bleiben". Erst nach Jahren begann der Erzähler, Julia heimlich zu mustern und sich zu wundern, "daß sie anwesend war und keine Erinnerung".

Die Frau, die er sieht, ist jedoch nicht mehr die Frau, in die er sich verliebt hat. Sie darf es nicht sein: "Stille Reserven der Fremdheit. Schließlich kommt es bei einer solchen Geschichte darauf an, daß der andere nach vielen Jahren immer noch ein anderer ist." Aber genauso wichtig ist es, daß der andere immer derselbe bleibt. Und nichts kann den Zauber der ersten Begegnung, das im Herzen fixierte Bild des ersten Anblicks je zerstören: "Welche Verdüsterung, welche Grimassen und Exaltationen auch später dieses Gesicht entstellen werden: Falls die Begrüßung der wirkliche Anfang eines Zusammengehens war, dann werden sie über das erste Antlitz dahinhuschen wie Nachtmahre oder ein elbisches Schattenspiel."

Ist damit die romantische Vorstellung gemeint, nach der die Liebe über alles siege, auch über die Zeit? Nein, und auch die Magie des Anfangs könnte in die Irre führen. Denn nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Aber einen Anfang muß es gegeben haben, eine Zeit, als die Götter noch nicht fern waren, eine Zeit, bevor das Messen und Ringen die einzige Form des Umgangs mit ihnen war.

Strauß setzt noch immer hartnäckig voraus, daß die Welt besser gedacht, besser gemeint war, als sie seit langem ist, daß sie, wenn sie Besseres auch nicht mehr verdient hat, doch Besseres zumindest einmal kennengelernt haben müsse - und sei es nur in besseren Träumen, als sie uns heute gegeben sind.

Aus diesem Glauben, der die Werke dieses Autors in mancher Gestalt und mit vielen Nuancen durchzieht, beziehen seine Bücher ihre Fallhöhe und ihre Melancholie, jenes Aroma des Verlusts, das sie über bloßer Zeitkritik weit hinaushebt. Bei aller Schärfe der Diagnose, bei aller Unerbittlichkeit der Beobachtung und des Urteils, bei aller Kunst der Beschreibung und des Dialogs: Was die einzelnen Splitter unsichtbar verbindet, was zwischen ihnen nistet und nicht auszuloten ist, das müßte benennen, wer Botho Strauß auf einen Punkt bringen wollte. Aber was wäre damit gewonnen? Die Welt mag von einem Punkt aus aus den Angeln zu heben sein, auf den Punkt bringen läßt sie sich gleichwohl nicht. Das Fragmentarische, dessen sich Strauß bedient, ist als Metapher für die Zerrissenheit der Moderne ein alter Hut. Strauß hat es einer anderen Form zugeführt. Es soll nichts abbilden. Es ist das lecke Gefäß, in das er seine Sehnsucht nach dem Ganzen gießt.

Über viele dieser Splitter ließe sich lange sprechen. Der "Amselmeister", dem der Erzähler im Kellergelaß seines Bürohauses begegnet, ein Wesen, das im Schwarm der Vögel verschwunden und aufgegangen ist, ein Wesen, das sich allenfalls im Umriß der von den Amseln eingenommenen Formationen noch mitteilt, ist - ein Traum, was sonst? Lavinia, mit der der Erzähler eine seltsame Reise durchs Land unternimmt, nachdem er wegen lange zurückliegender, heute politisch inkorrekter Äußerungen ein Institut verlassen muß - eine Allegorie, was sonst? Sie ist eine Rächerin, eine Brandstifterin, die am Ende, in einem der beeindruckendsten Bilder des Buches, einsam eine Straße entlanggeht, wie ein Kind hat sie einen Fuß auf dem Gehweg, den anderen im Rinnstein. Dabei trägt sie ein eng anliegendes Kleid aus Flammen.

Andere Episoden sind kürzer, erinnern in Tonfall und Gestus an die weniger bekannten, hermetischen Märchen der Brüder Grimm und natürlich an Ovids "Metamorphosen". All dies liest sich wie hingeworfen, skizzenhaft, Rohdiamanten, die schleifen mag, wem es um den Glanz zu tun ist. Auch in der Summe airy nothings, für die gilt, was Shakespeare im "Sommernachtstraum" seine Hippolyta sagen läßt: "Doch diese ganze Nachtgeschichte / Mit ihren Folgen, dieser wunderbaren / Verwandlung ihrer Seelen, zeugt von mehr / Als Dichtungen der Phantasie, und wächst / Zu etwas, das zusammenhängend ist; / Und doch darum nicht minder unbegreiflich."

Botho Strauß: "Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich". Hanser Verlag, München 2003. 150 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Nachhaltig beeindruckt zeigt sich Martin Lüdke von Botho Strauß' neuem Büchlein, dass zwar "unaufgeregt, manchmal schon putzig" daherkomme, aber Geschichten mit der Wirkung einer "Splitterbombe" berge. Beeindruckt versucht Lüdke die Vielfalt der kleinen, kurzen Erzählstücke zu beschreiben, die alle mehr oder weniger um die titelgebende Szene gruppiert sind. Von "kühnen Bildern" über Sittengeschichten bis zu "übelsten Wissenschaftsphantasien" - alles da. Das Erzählerische behalte dabei immer die Oberhand über das Essayistisch-Reflektierende , und trotzdem erweist sich Strauß wieder einmal als glänzender Phänomenologe". Die Sprache findet der Rezensent zwar manchmal etwas prunkend und bisweilen sogar angestrengt, nichtsdestotrotz schaffe sie es, die einzelnen Stücke zusammenzuhalten. Angeregt und zufrieden resümiert Lüdke: "Alles da, proper serviert, gut abgehangen. Interessant."

© Perlentaucher Medien GmbH
"... der Gedanken- und Bilderreichtum übertrifft das meiste des derzeit Geschriebenen. Unter den namhaften Schriftstellern der Gegenwart bleibt Botho Strauß einer der wenigen, die eine literarische Alternative bieten, eine Alternative zu jenem arglosen Narzissmus, in dem sich viele deutsche Erzähler gefallen, und zu jenem omnipotenten Realismus, mit dem immer wieder die Amerikaner verblüffen. Den emphatischen Anspruch, den man an Literatur stellen muss, dass sie uns nämlich eine andere Welt des Wahrnehmens und Denkens eröffne, verkörpert Botho Strauß mit anhaltender Kraft." Ulrich Greiner, Die Zeit, 28.08.03

"Botho Strauß ist der große Dichter der Anarchie der Gefühle." Ijoma Mangold, Süddeutsche Zeitung, 30.08.03

"Botho Strauß ist und bleibt der große Zeitgenosse unter den deutschen Gegenwartsautoren, nicht nur sein Theater, auch seine seismografische Prosa fängt scheinbar mühelos die Erschütterungen des Heute und die Vorbeben des Zukünftigen ein." Volker Hage, DerSpiegel, 01.09.03

"Die Lektüre ist ein Genuss ... Vielleicht der Beginn einer Göttlichen Komödie des 21. Jahrhunderts." Sabine Dultz, Münchner Merkur, 29.08.03

"In seinen Prosaskizzen und Momentaufnahmen der Vergeblichkeit erweist Botho Strauß sich als Virtuose, fokussiert grell, mit ständigen Perspektivwechseln Gefühls- und Lebensfragmente. Präzise, wie gewohnt. Unangestrengt und Mythen-entlastet wie selten zuvor." Susanne Kunckel, Welt am Sonntag, 24.08.03

"... das Ehrgeizigste, das man in der deutschen Literatur derzeit lesen kann." Gregor Dotzauer, Der Tagesspiegel, 29.08.03

"Ein kleines Buch, aber ein Hauptwerk des Autors ... Es ist ein Hyper-, ein Cybertext, der problemlos zwischen den Mysterienspielen des Mittelalters und futuristischen, naturwissenschaftlich-fantastischen Szenarien hin und her schaltet." Helmut Böttiger, Tages-Anzeiger Zürich, 30.08.03

"Dass Botho Strauß über das Geschlechterverhältnis so genaue Beobachtungen, treffsichere Sentenzen und glänzende Sottisen wie kein zweiter deutscher Schriftsteller zu formulieren versteht, wissen wir seit vielen Jahren. Ihnen verdanken wir einen großen Teil unseres Vergnügens an der Lektüre seiner Bücher."
Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.09.03

"..subtilster Analytiker, der sensorisch hochbegabte Physiognomiker erzählt mit jenem anmutigen und zugleich scharfsinnigen Einfallsreichtum, der sein Markenzeichen ist." Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung, 04.05.2004
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