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Helmut Lethen über Bilder und ihre Wirklichkeit - eine Schule des Sehens.
Das Foto eines vertrauten Menschen kann uns berühren «_wie das Licht eines Sterns_» (Roland Barthes); die Bilder flüchtender Kinder führen die Schrecken des Krieges geradezu schmerzhaft vor Augen. Wie kommt es, dass Fotos eine so ungeheure Wirkung auf uns haben? Wie viel Wirklichkeit steckt in oder hinter den Bildern? Helmut Lethen geht diesen Fragen auf einem Streifzug durch die Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts nach: Er zeigt uns am Beispiel der berühm-ten Fotografien Robert Capas von der Landung in…mehr

Produktbeschreibung
Helmut Lethen über Bilder und ihre Wirklichkeit - eine Schule des Sehens.
Das Foto eines vertrauten Menschen kann uns berühren «_wie das Licht eines Sterns_» (Roland Barthes); die Bilder flüchtender Kinder führen die Schrecken des Krieges geradezu schmerzhaft vor Augen. Wie kommt es, dass Fotos eine so ungeheure Wirkung auf uns haben? Wie viel Wirklichkeit steckt in oder hinter den Bildern?
Helmut Lethen geht diesen Fragen auf einem Streifzug durch die Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts nach: Er zeigt uns am Beispiel der berühm-ten Fotografien Robert Capas von der Landung in der Normandie, wie aus Bildern Geschichtszeichen werden; er folgt gebannt den Performances von Marina Abramovic, in denen Kunst und Wirklichkeit verschmelzen; er vertieft sich in das ironische Zeichenspiel des Konzeptkünstlers Bruce Nauman, das jede Realität dahinter verschwinden lässt; er entdeckt in idyllisch anmutenden Bildern jene totale Verlassenheit, die ihn bereits als Kind erschreckte. Lethen erläutert, was Bilder sind und was sie vermögen, ohne dabei die Wirklichkeit hinter ihnen preiszugeben. Ein eindringliches Plädoyer und eine Schule des Sehens in einer unübersichtlichen Zeit.
Autorenporträt
Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch «Verhaltenslehren der Kälte» (1994) gilt als Standardwerk, «Der Schatten des Fotografen» (2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt erschien die vielbeachtete Autobiographie «Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug» (2020).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Die Grenzen der Bilder lernt Bernd Stiegler mit diesem in Leipzig ausgezeichneten Buch von Helmuth Lethen kennen. Was vermögen Bilder, was nicht. Dieser Frage geht der Autor laut Stiegler zusammen mit Texten Kracauers und Barthes' und mit einer Menge ikonografischer Arbeiten des 20 Jahrhunderts von Abramovic bis Nauman nach. Stiegler folgt diesen "Zickzackwegen" als einer Art Bildungsroman und staunt, wenn der Autor mal materialsatt und kenntnisreich, mal essayistisch autobiografisch die Wirklichkeit der Bilder gegen die Bildtheorien in Schutz nimmt und dabei das Reale zum Vorschein kommt. Für Stiegler ergibt das eine Theoriegeschichte der Gegenwart und eine wunderbar abschweifende Reflexion über Fotografie, weniger jedoch die vom Verlag versprochene "Schule des Sehens".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2014

Ding unter Dingen
Helmut Lethen erzählt in „Der Schatten des Fotografen“ von den Bildern seines Lebens. Von ihrer schönen Vieldeutigkeit
und Porosität – und davon, wie Siegfried Kracauer ihm half, ihre Wirklichkeit zu retten
VON FRITZ GÖTTLER
Noch einmal, mehr als fünfzig Jahre später, macht sich einer an die Errettung der äußeren Wirklichkeit. 1960 war Siegfried Kracauers „Theorie des Films“ in Amerika erschienen, „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ war das Projekt betitelt. Das Kino sollte herausgeholt werden aus dem Limbus künstlerischer Gleichgültigkeit und Geringschätzung, placiert werden unter die alten Künste, und auch diese sollten profitieren, wenn man das physische Moment des Kinos zur Diskussion stellt. Ein missionarisches Unternehmen, ein Erlösungsbuch – „The Redemption of Physical Reality“ hieß es im Original, und ums Physische ging es in der Tat, in einer Zeit, die sich ganz dem Intellekt verschrieben hatte, um die Materie, die Körperlichkeit, die Präsenz. Auch um das Zusammenspiel von Imagination und Projektion. Es muss alles, nicht nur im Kino, durch den Körper gehen.
  Nun also Helmut Lethen, der Autor der großartigen „Verhaltenslehren der Kälte“, 1994, mit seinem Buch über „Bilder und ihre Wirklichkeit“. Die Wirklichkeit der Bilder, das ist ihre materielle Konsistenz. Das Buch führt den „Schatten des Fotografen“ im Titel, aber es geht immer auch um den des Schreibenden selbst, wie er sich reflektiert in seinem Blick, wenn er schaut, in seiner Welt, im Museum, im Kino, wenn er Erfahrungen sammelt und reflektiert.
  Helmut Lethen – sein Buch ist für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Sachbuch nominiert – schreibt einen Bildungsroman über die Zeit der Postmoderne, unter starkem körperlichem Bezug, einen Body-Bildungsroman. Mit erinnerungsstarker Offenheit und intellektueller Klarheit setzt er die markanten Punkte seiner Entwicklung, von seiner Jugend an: Alain Resnais’ KZ-Film „Nacht und Nebel“, im November 1957, die Neorealisten de Sica und Rossellini mit ihren Filmen „Fahrraddiebe“ und „Paisà“, Benjamin und Barthes, Kracauers Filmbuch, internationale Kunstschauen, schließlich die Wehrmachtsausstellung, der Skandal um die erste, 1995, der Purismus der revidierten zweiten, 2001. Eine typische Intellektuellenentwicklung der Siebziger, inklusive einer maoistischen Kampfkulturepisode, in einem Zeitraum, da die Diskussion zwischen den beiden Polen Politik und Semiologie sich heftig intensivierte. Lethen weiß um die Einwände, die er ausräumen muss, wenn es ums Wirkliche geht in der Zeit des Strukturalismus und der Postmoderne, des Imaginären und der Simulacra, aber auch Kracauer hat, als er sein Buch schrieb, gewusst, dass er den gängigen ästhetischen Konzeptionen in die Quere schrieb. Stellvertretend für deren Phalanx wird Pierre Bourdieu zitiert: „Dem Mythos des reinen Auges kann nicht nachdrücklich genug widersprochen werden.“
  Von der Reinheit des Auges handeln auch Kracauer und Lethen nicht. Aber in die rigiden Codes und Wahrnehmungssysteme der Semiologen und Kognitionswissenschaftler wollen sie einen Stoff wieder einbringen, der sich bewusster ästhetischer Steuerung entzieht – und den man durchaus als natürlich, vorbewusst, physisch bezeichnen kann. Eine Evidenz, die alles andere als naiv ist.
  Naiv ist allenfalls die Überlegenheit, in der der Betrachter sich wähnt, sie wird in einem Vorspiel des Buchs – „Das Portal“ – süffisant zertrümmert, in einer Performance in der Galleria Comunale d’Arte Moderna in Bologna, 1977. Eine Show, in der von Martina Abramovic und ihrem Partner Ulay dem Besucher die gewohnte Distanz vermasselt wird, er sich zum Körperkontakt mit seinem Objekt gezwungen sieht. Die Künstler stehen am Eingang zur Galerie sich nackt gegenüber, nur einen engen Spalt lassend all denen, die da eintreten mögen und dabei bella figura machen sollten. Von dieser verzwickten Konfrontation aus geht Helmut Lethen dann die Skala der figurativen Kunst ab, von der einfachen Technik des direkten Abdrucks – nachhaltig reflektiert von Georges Didi-Huberman – bis zu Fotografie und Kino.
  Es ist ein direkter Abdruck, den das fotografierte Objekt hinterlässt, Spuren seiner aktuellen Präsenz in der Emulsion – auch von der Errettung dieser Wirklichkeit handelt Lethens Buch. Bilder sind nie definitiv, eine Unschärfe bleibt beim Betrachten, eine Porosität, und mit jedem neuen Blick verändern sie sich. Auf Robert Capas berühmtem Foto vom Omaha Beach, bei der Eroberung der besetzten Normandie durch die Amerikaner, liegt ein junger amerikanischer Soldat am Strand, hinter ihm die Blockadewerke der Deutschen und zerstörte Landungsboote der Amerikaner. Der Fotoapparat liegt tief, auf der Höhe des Soldaten, es war eine mühevolle Operation, sagt das Bild. Ein verwaschenes Bild. Das Meerwasser sei daran schuld, das in die Kamera gekommen war, wurde den Lesern erklärt, als es am 19. Juni 1944 im Life Magazine erstmals gedruckt wurde. Man las im Bild seine Entstehung mit. Sehr viel später erfuhr man dann, das Malheur passierte nicht in der Kamera, sondern erst bei der Entwicklung, ein Laborassistent hatte die Negative überhitzt. Die Hektik, die Hitzigkeit des Geschehens an der Front hatte sich verlängert in den labortechnischen Prozess hinein. Intellektuell arbeitete dann Brecht an dem Bild weiter, klebte es in sein Arbeitsjournal, nahm es in seine Kriegsfibel auf, mit einem Vierzeiler: „In jener Juni-Früh nah bei Cherbourg / Stieg aus dem Meer der Mann von Maine . . .“ Bilder können, so hat es Brecht proklamiert, die kapitalistische Wirklichkeit nicht mehr darstellen, sie brauchen die Erklärungen. In der Wehrmachtsausstellung ist diese Dialektik erbittert durchgespielt worden.
  Etwas wird sichtbar in diesen Fotos, wenn Lethen ihre Geschichten erzählt, in denen Vorder- und Hintergrund sich immer wieder verschieben. Das Titelbild des Buchs zeigt eine junge Frau, sie geht durch einen Fluss, Kopftuch, den Rock geschürzt, den Blick nach vorn. Sonne und Wasser, aber die Haltung der Frau ist gespannt, der Kamerablick von oben, lauernd. In zahlreichen privaten Fotoalben deutscher Landser fand sich diese Idylle, die eine schriftliche Angabe auf der Rückseite plötzlich zerstört: „Die Minensucherin“, die Frau wurde Lebensgefahr ausgesetzt, um Minen im Fluss aufzuspüren.   
  Kracauers Filmbuch stellte, als Lethen es 1989 las, „die Falle der Seinsverlorenheit“ auf. Verlorenheit wurde zu einem Merkmal der neuen Rezeption. „Kracauer sehnt sich nach einer Zone des Daseins, in der keine vermittelnde Instanz erschwert oder verhindert, dass wir das Materielle der Wirklichkeit spüren . . .“ Es ist eine Sehnsucht, in der viele ihm folgten, Barthes und Lacan, Merleau-Ponty und Kristeva, und sie alle gingen weit über Kracauers Ambition hinaus, hin zu Subversion und Revitalisierung der Gesellschaft. Kracauer „vermeidet, in diesen Untergrund Potenzen zu projizieren, die anderswo nicht mehr zu haben sind. Er zielt schlicht darauf, die Körperhaftigkeit der Menschen spürbar zu machen, der sich um im Medium des Films plötzlich als Ding unter Dingen erkennen kann.“ Der neue Intellektuelle muss unstet bleiben. „Bilder, auch die der Verlassenheit, sind Nomaden, die ihre Zelte in verschiedenen Medien aufschlagen. Dieser Satz von Hans Belting begleitet mein Unternehmen. Woher die Bilder kommen, ist rätselhaft. In jedem Fall zirkulieren sie durch heißere und kühlere Zonen unserer Einbildungskraft.“
Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit. Rowohlt Berlin, 2014. 272 Seiten, 19,95 Euro.
Nein, um den Mythos des
reinen Auges geht es nicht in
Kracauers „Theorie des Films“
Eine junge Frau watet in einem
Fluss. Eine Idylle für Landser?
Oder ein grausames Spiel?
Einen Bodensatz des Lebens berührten die Filme des italienischen Neorealismus (hier eine Szene aus Rossellinis „Paisà“), sie erschütterten selbst exakte Theoretiker wie Kracauer oder Helmut Lethen.
Foto: action press/everett collection
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2014

Bilder, die uns Angst machen

Was ist es, das uns an manchen Fotos und Filmen so stark berührt? Helmut Lethen spürt der Macht des Unheimlichen nach.

Dies ist keine Medientheorie, auch keine Theorie der Fotografie, des Films oder der Medienkunst. Von alledem ist bei dem Germanisten Helmut Lethen zwar die Rede, aber der Autor ist auf einer anderen Spur: "Irgendwie scheint dieses Buch dem Muster eines Bildungsromans zu folgen, wenn es die verschiedenen Stadien meines Nachdenkens in den letzten drei Jahrzehnten durchläuft." Ein richtiger Bildungsroman ist es dann glücklicherweise auch nicht geworden, denn der hat ja an sich, dass er viel mehr Sinn transportiert, als das Leben bereithält. Nennen wir das Ganze also eine Sammlung von Erzählungen. Ihr gemeinsames Motiv ist die Frage, was uns an Bildern berührt.

"Vom Mordgerücht zum Film, von der Geschichtsschreibung zur Ausstellung - Medien bildeten für mich den Königsweg zum Unheimlichen." Lethen erzählt von der Fähigkeit bloßer Indizien, Angst zu erzeugen. Fotografien sind solche Indizien dafür, dass sich zugetragen hat, was sie zeigen. Dabei weiß Lethen durchaus, dass es sich immer um "Unheimlichkeiten aus zweiter Hand" handelt. Die meisten Medientheorien nähren den Verdacht, dass hinter den Bildern oder in ihrer Tiefe ihr eigentliches Wesen versteckt sei, dass man aber andererseits nicht so naiv sein dürfe zu glauben, "es gäbe sie, die Wirklichkeit, wirklich".

Die Erzählungen des vorliegenden Buches kreisen um diese Verdachtskultur einerseits und die Sehnsucht nach Wirklichkeit, wie sie sich etwa in Siegfried Kracauers "Theorie des Films" und in Roland Barthes' letztem Buch "Die helle Kammer" ausdrückt. Lethen erinnert sich an Fotografien wie Filme, die tiefen Eindruck auf ihn und andere gemacht haben, und geht ihrer Entstehung nach. Wie konnte es sein, dass die Werke des italienischen Neo-Realismus (de Sica, Rossellini, Visconti) für eine ganze Generation erschlossen, was Italien sei - obwohl sie doch nur ein halbes Prozent der italienischen Filmproduktion jener Jahre ausmachten? Wie entsteht der Eindruck, "So ist es gewesen", durch Fotografien, die in der Dunkelkammer falsch entwickelt wurden, wie Robert Capas berühmtes Bild von der Landung der Alliierten 1944?

An einer Performance der Künstlerin Marina Abramovic aus dem Jahr 1977 in Bologna zeigt Lethen, was Berührung durch Kunst im Extremfall heißen kann. Abramovic hatte sich mit ihrem Freund nackt in die schmale Eingangstür zur Galerie gestellt, so dass für das Publikum beim Eintritt die Berührung ihrer Körper unvermeidlich war. Lethen zeichnet nach, wie die Erwartungen von Künstlerin und Publikum hier sowohl erfüllt wie enttäuscht wurden, weil Letzteres sich längst auf der Höhe der medientheoretischen Reflexion befand und entsprechend verhielt Was den Autor zu dem Seufzer bringt: "Oh, diese Kunstfreaks! Seltsame Routiniers."

Denn für Lethen soll Kunst nicht nur Reflexion sein, sondern Realitätskontakt, ihn bestimmt eine Suche nach der "Schwerkraft des Wirklichen", wie er sie früh in den "Mythen des Alltags" von Roland Barthes fand. Seine Wiederholungslektüre kommt zu der überraschenden Feststellung, Barthes habe hier keineswegs ausschließlich das Geschäft der Ideologiekritik und der "Routinen der Entzauberung" anhand kultureller Artefakte vom Striptease bis zum Beefsteak betrieben. Der große Zeichenleser, selbst ein Angehöriger der Verdachtskultur, hat offenbar gleichzeitig große Sehnsucht nach der Wirklichkeit. "Als Strukturalist, der die Eigendynamik der Zeichen kennt, versucht Barthes die Ordnungsmacht der Medien ,anatomisch' zu erfassen", schreibt Lethen. "Als Schriftsteller lässt er den Dingen ,ihr Gewicht', auch wenn sie unter diesem Blick opak werden und nur in literarischer Form angemessen beschrieben werden können." Lethen nennt diese Strategie treffend "Barthes' Pendel".

Freilich gilt das berühmte "Es ist so gewesen" (Barthes) als implizites Urteil aller Fotografie allenfalls für ihre analoge Variante. Inzwischen werden die Bilder mehr als nur "entwickelt" oder "bearbeitet". Aber darum geht es nicht. Es geht, so Lethen, um "die Sehnsucht, das Netz und die Ökonomie der symbolischen Ordnung der Medien zu zerreißen, Spuren von etwas zu finden, das tatsächlich einmal da war". Historisch da war, aber beispielsweise auch erotisch da war. Lethen zitiert die Wendung "Netzhautsex" für die Magie, die der Film auf den Körper ausübt. Das hat aber nichts Erbauliches, und auch die Lust ist unheimlich, weil sie Angstlust enthält und zuweilen Angst jener Wirklichkeitskontakt ist, der gesucht wurde.

Der Anfang des "tiefen Tals", das Lethen durchschreitet, um die Wirkung von Bildern zu beschrieben, liegt im Jahr 1957, als der Obersekundaner zusammen mit seinen Mitschülern den Film "Nacht und Nebel" von Alain Resnais sieht. Da er danach glaubt, alles über die Verbrechen der Väter zu wissen, kümmert er sich wenig um die weiter Aufklärung, bis ihm die erste Wehrmachtsausstellung von 1995 Anlass gibt, sich zum ersten Mal "mit den Steintafeln des Entsetzens zu befassen".

Diese erste Ausstellung stieß nicht nur auf rechtsradikale Empörung, sie geriet auch in die Kritik der Historiker, unter anderem, weil einzelne Fotos nicht richtig zugeordnet waren und anderes zeigten, als sie angeblich vor Augen führten. Die zweite, "sachlichere", überarbeitete Ausstellung wurde Ende 2001 eröffnet. Lethen analysiert, worin der eigentliche "Skandal", das heißt die schockartige Wirkung der ersten gelegen hatte: "Die Ausstellung schleppte tabuisierte oder unbekannte Bilder in den Austausch der Erinnerung zwischen den Generationen. Solange keine Bilder des Mordes ,auf freiem Feld' vorgelegen hatten, konnten die Bildhaushalte des Kriegs einerseits und des Verbrechens andererseits säuberlich voneinander getrennt werden, parallel nebeneinander bestehen. Der Skandal der Ausstellung lag in der Überschreitung dieser Trennungslinie. Sie lenkte den Blick auf das Handwerk von Tätern mit den individuellen Physiognomien einer Vätergeneration."

Vielleicht am faszinierendsten ist die knappe Analyse des Fotos, das auf dem Cover des Buches zu sehen ist, eine scheinbare Idylle mitten im Krieg: Eine Frau schreitet mit gerafftem Rock durch einen Fluss. Auf der Rückseite des Bildes steht "Die Minenprobe". Es ist diese Art Schock, der Lethen nachspürt. Gegen Ende, als Lethen das tiefe Tal wieder verlassen hat und sich mit einer Wiener volkskundlichen Ausstellung über Unterwäsche aus der Sowjetunion beschäftigt, finden sich diese Sätze: "Die grotesken Erzählungen des Katalogs prägen sich ein; wie Erzählungen offenbar immer die strapazierfähigsten Evidenzcontainer sind. Sie bleiben, im Gegensatz zu den medienkritischen Wahrnehmungsmodellen, die aufgeboten werden, um neuen Strömungen zu entsprechen, dauerhaft interessant und weltaufschließend." Das gilt auch für die Erzählungen dieses Bandes.

JOCHEN SCHIMMANG

Helmut Lethen: "Der Schatten des Fotografen". Bilder und ihre Wirklichkeiten. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 256 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].

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Interessant und weltaufschließend findet Jochen Schimmang die hier versammelten Erzählungen von Helmut Lethen. Wenn Lethen darangeht, Fotos und Filme zu analysieren, auf ihren Wahrheitsgehalt und ihren Verweis auf ihr "eigentliches Wesen" hin, fühlt sich Schimmang an einen Bildungsroman erinnert, so tief steigt der Autor hinab in die (eigene) Vergangenheit. Mehr als ein Bildungsroman ist das Buch dann doch oder wenigstens etwas ganz anderes. Was war am italienischen Neo-Realismo so durchschlagend, was an Capas missbelichtetem Kriegsbild? Solche Fragen erkundet kein Bildungsroman, meint Schimmang, dieser Band aber sehr wohl.

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