Marktplatzangebote
16 Angebote ab € 0,40 €
  • Broschiertes Buch

'Eine dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Zahl 1673 geritzt ist - die Reste eines Photos aus dem 17. Jahrhundert? Humbug, völlig unmöglich. Niemand glaubt dem verkrachten Wissenschaftler. Im Jahr 2002 jedoch, bei den Aufräumarbeiten nach dem Elbhochwasser in Dresden, stößt er auf einen Druckbogen im Bleisatz. Schilderungen über einen gewissen Silvius Schwarz, hochbegabter Stillleben-Maler, Libertin und Atheist, der aus einer Camera obscura ein künstliches Auge baut - und der bald mit seiner Geliebten, der schönen, wilden Mathematikerin Sophie von Schlosser fliehen muss. Als Magier und…mehr

Produktbeschreibung
'Eine dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Zahl 1673 geritzt ist - die Reste eines Photos aus dem 17. Jahrhundert? Humbug, völlig unmöglich. Niemand glaubt dem verkrachten Wissenschaftler. Im Jahr 2002 jedoch, bei den Aufräumarbeiten nach dem Elbhochwasser in Dresden, stößt er auf einen Druckbogen im Bleisatz. Schilderungen über einen gewissen Silvius Schwarz, hochbegabter Stillleben-Maler, Libertin und Atheist, der aus einer Camera obscura ein künstliches Auge baut - und der bald mit seiner Geliebten, der schönen, wilden Mathematikerin Sophie von Schlosser fliehen muss. Als Magier und Blasphemiker gejagt, wird er auch noch verdächtigt, mit den geheimnisvollen Ritualmorden zu tun zu haben, die die höfische Welt erschüttern ...
Autorenporträt
Mathias Gatza wurde 1963 in Berlin geboren, hat nach zwei Jahrzehnten als Lektor und Verleger vor allem deutschsprachiger Gegenwartsliteratur die Seite gewechselt und schreibt. Mathias Gatza lebt in Berlin.
Rezensionen
"Gatzas Roman ist Thriller, Abenteuerroman und Wissenschaftssatire.", NDR 1 Niedersachsen, Margarethe von Schwarzkopf, 15.05.2012

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2012

Auf der Jagd nach einem Phantom

Welches Barock hätten Sie denn gern? Mathias Gatza reist in eine ferne Epoche - und findet dort nichts als Gegenwart. "Der Augentäuscher" ist vieles in einem: Briefroman, Thriller und Wissenschaftsfarce. Und ein großer Spaß.

Von Felicitas von Lovenberg

Was für eine Welt! Das Wissen explodiert, die Grenzen zwischen den Disziplinen verwischen, der Fortschritt ist schneller als die Einsicht, und China droht mit seinen Erfindungen und seiner Produktivität die alte Welt noch älter aussehen zu lassen, wie überhaupt der Globus beängstigend zusammenrückt. Es ist noch nicht lange her, da hat ein verheerender Krieg Europa in Trümmer gelegt, und die Erinnerung daran bleibt eine Wunde, auch wenn diejenigen, die diese Barbarei noch selbst erlebt haben, immer weniger werden. Die großen Städte sind gigantische Baustellen, wo die etablierten Marken mit Residenzen ihr Revier abstecken. Es ist eine Epoche der Selbstinszenierung, der Wissensrevolution und der ständigen Reizüberflutung. Wer die Kunst dieser Zeit betrachtet, sieht Blumen, Früchte und Totenschädel; wer aus den Bildern in die Welt schaut, entdeckt Prachtentfaltung und Barbarei - und eine so ansteckende wie gefährliche Illusionsbegeisterung.

Was ein Porträt unserer Zeit sein könnte, ist tatsächlich ein Panorama des Barocks. Diesen Blickwechsel wagt nicht zufällig jetzt Mathias Gatza, der schon früher im scheinbar Entlegenen das überraschend Zeitgemäße hervorholte. Gatza ist neunundvierzig Jahre alt und hat die Literatur und ihren Betrieb über zwei Jahrzehnte als Leser, Lektor, Verleger und Schriftsteller aus ebenso vielen Perspektiven erkundet wie jetzt seinen historischen Romanstoff. Seine geistige und sinnliche Zeitreise in die Blüte des Dresdner Barock unternimmt er dezidiert aus der Gegenwart heraus - und das macht seinen Kunst-Liebes-Philosophie-Krimi "Der Augentäuscher" von einem schmissig-eleganten Mantel-und-Degen-Roman zu einer faszinierenden Folie unserer Gegenwart.

Briefroman, Thriller, Wissenschaftsfarce - Gatza jongliert mit beängstigend vielen Genres zugleich. Dabei ist ihm die Wahrscheinlichkeit der Handlung mit barocker Nonchalance im Grunde gar nicht so wichtig. Ähnlich wie in seinem erstaunlichen Debütroman "Im Schatten der Tiere" von 2008 legt er zwar auch hier für Trüffelsucher alle möglichen Fährten aus, doch ist diesmal nicht allein ein neugieriger Intellektueller und hochversierter Rechercheur am Werk, sondern vor allem ein lustvoller Erzähler. Und noch dazu einer mit Humor.

Präsentiert wird die aktionsgeladene Reflexion über unsere Sehgewohnheiten in einem dreifach gebrochenen Plot. Das Buch tritt uns auf den ersten Seiten entgegen als unentgeltlicher Download von der Internetseite eines namenlos bleibenden Herausgebers, der ohne Verlag, ohne Fürsprecher und ohne höhere akademische Weihen selbstbewusst verkündet, mit seinem Dokument "das Bild des deutschen Barocks, die gesamte Bildgeschichte und die Kunstgeschichte überhaupt" neu schreiben zu wollen. Die Mischung aus Größenwahn, erschreckender Offenheit - die Bemerkungen zu seiner Selbsteinschätzung, seinen Zwangshandlungen und seinem Kommunikationsverhalten sind geeignet, an jeder zweiten Biegung Scharen von Therapeuten auf den Plan zu rufen - und stolzer Skrupellosigkeit bei der Verfolgung seiner Mission nimmt der vermeintlich wissenschaftlichen Abhandlung alle Erdenschwere. Zwar geht es um nicht weniger als die Frage danach, was und wie wir sehen - aber das Nachdenken darüber führt vom Atelier des Goldenen Zeitalters bis zu den Promibildchen der "Gala", vom vatikanischen Archiv (kleiner Gruß an Dan Brown) zum zerwühlten Liebeslager.

Der Geist sei ihm wichtiger gewesen als der Buchstabe, hat Mathias Gatza zum neuen Buch zu Protokoll gegeben, und die Eigenwerbung ist triftig: So, wie die großartigsten Stillleben nicht eigentlich von Frucht und Fliege handeln, sondern von Philosophie und Feldforschung, entfaltet dieser Roman seinen Zauber, indem er einen früheren Zeitgeist zugleich nachempfindet und ihn nach Lust und Laune weiterspinnt. Denn was für die Malerei der toten Natur galt - je täuschend echter, desto größer die Kunst -, wäre literarisch banal.

Mathias Gatzas höchst unzuverlässiger Herausgeber-Erzähler ist einer ganz großen Story auf der Spur. Denn nachdem er unzählige Male am anderen Geschlecht und viermal an der Promotion gescheitert ist, entwickelt er eine fixe Idee: Er will eine Monographie verfassen über Silvius Schwarz, um 1670 zwischen Pillnitz und Dresden ansässig und einer der genialsten Maler seiner Zeit. Der Mann gilt als Phantom; es sind keine Gemälde von ihm überliefert, aber man weiß, dass es knapp vierzig gegeben haben muss, noch dazu mit zum Teil hocherotischen Sujets. Mit seiner Schwarz-Obsession vergrault der Herausgeber die x-te Lebensgefährtin, was ihn aber nicht weiter anficht. Jahrelang durchforstet er Archive - ohne Erfolg. Die Wende kommt, als der mittlerweile zum Sozialhilfeempfänger abgestiegene Forscher von der tristen Gestalt während des Elbhochwassers in Dresden im Einsatzgebiet Pillnitz einer Aufräumkolonne zugeteilt wird und einen alten Druckbogen aus einer Kläranlage fischt. Und siehe da: Das ertrunkene Papier erzählt vom Leben und Tod des Malers Silvius Schwarz.

Ein Zufall kommt nicht allein, und so gerät der Herausgeber über russische Umwege an einen weiteren Bogen des offenbar stummen Setzers Leopold, der die Wahrheit über den bewunderten Künstler unmittelbar nach dessen Tod Nacht für Nacht emsig für die Nachwelt in Blei goss; vier weitere Bögen werden auf ähnlich verschlungenen und meist nicht ganz koscheren Wegen zu der Berliner Herausgeberparodie gelangen. Die größte Sensation enthüllt er bereits auf Seite 26: seinen Zufallsfund eines Werks von Silvius Schwarz, eine angelaufene Metallplatte aus dem Jahr 1673 - für ihn der Beweis, dass die Fotografie keineswegs im neunzehnten Jahrhundert erfunden wurde, sondern bereits im Barock. Wenn er das belegen könnte, wäre er ein gemachter Mann, finanziell, akademisch und womöglich sogar gesellschaftlich rehabilitiert.

Da allerdings muss der Selbstverleger feststellen, dass er eine Konkurrentin hat, noch dazu eine, die ihm in jeder Hinsicht überlegen scheint: Professor Sandra Kopp ist so schön wie klug, finanziell unabhängig und außerdem ist die Kunsthistorikerin im Besitz eines Briefwechsels zwischen Silvius und seiner Cousine Sophie - eine Trophäe, die der mittlerweile in Methoden der nichtwissenschaftlichen Aneignung geübte Herausgeber an sich zu bringen weiß. Aber Sandra Kopps unfreiwillige Beteiligung an seiner Schatzsuche fängt mit diesem Diebstahl erst an.

Frei nach Schnauze präsentiert der Spinöse seine Puzzlestücke zu Silvius Schwarz. Zum Vorschein kommen die Karikatur eines Kunstkrimis, die historische Chronik des Setzers sowie die Korrespondenz zwischen Silvius Schwarz und seiner Geliebten Sophie, Mathematikerin, Gambenspielerin und Freidenkerin.

Zum Glück versucht Gatza gar nicht erst, in den ausgegrabenen Dokumenten ein irgendwie authentisch anmutendes, letztlich zur Künstlichkeit verdammtes Barockdeutsch à la Grimmelshausen oder Gryphius nachzuahmen. So kann Silvius seiner Angebeteten mit Verve von seinem Atelier in der Amsterdamer Kalverstraat berichten, wie er der Karriere des Farb- und Feinmalers Frans van Leyden durch joviales Schulterklopfen ein ungewolltes Ende setzte, von den Gerüchten um die Malweisen Vermeers, den Einflüsterungen Spinozas und von seinen Experimenten mit der "neuen englischen Camera": "durch Spiegel und Linsen bringe ich ein seitenrichtiges Bild auf eine plane Oberfläche". Unermüdlich sucht Schwarz die begrenzten Möglichkeiten der Darstellung seiner Zeit zu erweitern: "Aber selbst ein Blumenstrauß, den ich in der camera male, ist unvollkommen, denn in der Zeit, die es braucht, ihn genau nachzuzeichnen, verwelkt er schon. Das beste Ergebnis erreiche ich mit toten Gegenständen. Selbst da macht die Unmöglichkeit, das Licht unverändert zu halten, einen Strich durch die Rechnung. Man müsste sehr schnell malen. Das zu denken bedeutet, einen neuen Kontinent in der Zeit zu entdecken."

Schon der temperamentvollen Liebesbriefe wegen lohnt die Lektüre. Doch da will auch noch der Krimi zu seinem Recht kommen, und so zieht sich über den verliebten Episteln die aus Aberglauben und Furcht geflochtene Schlinge um Silvius' Hals immer weiter zu. Denn 1673 ist in Dresden ein Serienmörder am Werk: Dreizehn Kastratensänger des Opernhauses werden brutal ermordet, verstümmelt und auf den Kopf gestellt gekreuzigt. Das Prinzip der Bildumkehr führt zu Silvius Schwarz und seinen den Zeitgenossen ohnedies sinister erscheinenden optischen Experimenten. Der Maler wird wegen Ketzerei zum Tode verurteilt.

Der Künstler sucht Ewigkeit - doch seine lichtempfindlichen Werke verblassen. Hier führt Gatza das Vanitas-Motiv des Barocks konsequent weiter - bis in eine Gegenwart, die sich nicht nur in der "Gala" immerzu verjüngen und verewigen will. Gatzas Herausgeber kommt sich in dieser Tragikomödie von der Suche nach dem perfekten Bild zuletzt selbst abhanden. Wie sagt Silvius Schwarz? "Ich begriff, am kostbarsten und mächtigsten sind die Dinge, die vergehen."

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.03.2012

Die Phantome des Bildermachers
Mathias Gatzas Roman „Der Augentäuscher“ über einen Maler des Barock reanimiert das Mantel-und Degen-Genre mit Niveau und Spaß
Es gibt zwei vollkommen konträre Beweggründe, sich für die Epoche, die wir „Barock“ nennen, über das durchschnittliche Maß hinaus zu interessieren: Man kann in ihr den Vorschein der Moderne suchen, verblüffende Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit der Gegenwart entdecken – oder etwas ganz anderes, aus heutiger Perspektive durchaus Fremdartiges, das unwiederbringlich entschwunden ist, doch in den schönen Künsten aller Sparten so bildkräftig und sinnbetörend überlebt hat, dass empfängliche Gemüter sich davon angesprochen fühlen wie vom Nachklang einer fernen Erinnerung.
Bei Mathias Gatza, dem Verfasser des Romans „Der Augentäuscher“, scheinen beide Motive einander zu durchdringen und zu komplementieren. Der ehemalige Verleger und Lektor, der vor vier Jahren mit „Der Schatten der Tiere“ sein vielbeachtetes Debüt als Romancier vorlegte, ist bekennender Barockliebhaber, und spätestens seit den zweijährigen Recherchen im Vorfeld seines neuen Buchs ist er auch ein Fachmann – zumindest für die Zeit zwischen 1620 und 1690, auf die er sich bei seinen Forschungen kaprizierte, und insbesondere für die in dieser Periode zur Hochblüte gelangte StilllebenMalerei. Das Stillleben repräsentiert aus Gatzas Sicht „die Schnittstelle zwischen Philosophie und Weltentdeckung“. Sowie zwischen Realität und Fiktion, könnte man hinzufügen, denn die Gattung stand bis zur Erfindung der Fotografie für das höchste erreichbare Maß an Wirklichkeits-Imitation.
Kein Zeitalter hat auf der Grenzlinie zwischen Tatsache und Täuschung so formvollendet getanzt wie das Barock, und darin liegt gewiss ein Hauptgrund für die Anziehung, die es auf uns Heutige ausübt: Während bei uns die Verwechselbarkeit von Lüge und Wahrheit dazu benutzt wird, die Welt immer trister und hässlicher zu machen, verstand man es damals, diese irdische Grunderfahrung in Schönheit und Eleganz zu verwandeln. Es war eines der unverschämtesten Illusionsprojekte der Geschichte, doch in seinen Auswirkungen so erhebend, dass wir bis jetzt davon zehren.
Mit den Kategorien von Täuschung und Wirklichkeit, Wahrheit und Lüge, Maskerade und Entlarvung treibt Mathias Gatza im Roman sein Spiel, aber es geht ihm dabei weniger um intellektuelle Spitzfindigkeiten als um den Spaß, das Mantel-und-Degen-Genre auf höherem Niveau wiederzubeleben. Und darin möglichst viel von dem unterzubringen, was sich in der erzählenden Prosa gerade gut verkauft: das Forscher- und das Künstler-Epos, die Wissenschafts- und Mediensatire, den Kunstkrimi, den Klosterthriller, das historische Kulissengemälde und das tragikomische Porträt eines akademischen Prekariers im frühen dritten Jahrtausend, eine Liebesgeschichte selbstredend inbegriffen.
Er reanimiert damit zugleich eine literarische Mode der Postmoderne, denn Umberto Ecos „Der Name der Rose“ und Patrick Süskinds „Das Parfum“ haben deutliche Spuren hinterlassen. Auch das unbekümmerte, mehr oder weniger ironische Jonglieren mit echten und erfundenen Figuren, mit authentischen und fingierten Quellen, mit narrativen Versatzstücken aus Vergangenheit und Gegenwart auf verschiedenen Erzählebenen war eine postmoderne Errungenschaft, und Gatza greift begeistert darauf zurück.
Die Vita seines Berliner „Herausgebers“ verzeichnet das Geburtsjahr 1953, zwanzig Semester Kunstgeschichte und vier abgelehnte Dissertationsprojekte, zwei davon bei einem Professor Kampendonk, was, gewollt oder nicht, den Maler fast gleichen Namens evoziert, der ein wichtiger Vorlagenlieferant für Wolfgang Beltracchi war, den größten Kunstfälscher unserer Tage. Das fiktive Dresdner Stillleben-Genie Silvius Schwarz, dem Gatzas Ich-Erzähler nun seine Forschungsenergie widmet, ist hingegen weder ein Fälscher, noch ein „Augentäuscher“ bloß im Sinne des barocken Trompe-l’Œil, des höchsten Raffinements malerischer Naturnachahmung: Er befasst sich um 1670 mit geheimen optischen und chemischen Versuchen, deren Resultate darauf hindeuten, dass er schon eineinhalb Jahrhunderte vor Nièpce, Talbot und Daguerre die Fotografie erfunden hat. Da er überdies durch Libertinage und Blasphemie auffällt, wird er als Magier und Ketzer verfolgt und als Urheber mysteriöser Ritualmorde verdächtigt. Sein Ende liegt im Dunkeln; unter Kunsthistorikern, heißt es im Roman, gilt er als Phantom, mit dem man Studenten hereinlegt.
Es gibt für diese Figur ein reales Beinahe-Vorbild, den Niederländer Johannes van der Beeck alias Torrentius (1589-1644), einen seinerzeit hochberühmten Stillleben-Meister, der nachweislich mit der Camera obscura experimentierte, der wegen Gotteslästerung und Unzucht verurteilt, dann vom englischen König freigekauft und als Hofmaler engagiert wurde. Er soll vor Gericht behauptet haben, er male ohne Pinsel; kurioserweise sind die meisten seiner dokumentierten Bilder spurlos verschwunden. Gatza hat sich von diesem Fall anregen lassen, ihn hemmungslos umgedeutet, weitergesponnen und in einen kunstreich verschachtelten Plot eingebettet.
Der Herausgeber und Ich-Erzähler, ein unterhaltsam verwahrloster, leicht größenwahnsinniger Zwangsneurotiker mit Sozialhilfeanspruch, stößt unter abenteuerlichen Umständen auf insgesamt sechs Druckbögen von der Hand eines stummen Setzers namens Leopold, Zeitgenosse von Silvius Schwarz, der die Biographie des sagenumwobenen Malers und die unheimlichen Geschehnisse im Dresden des Jahres 1673 in Blei gegossen hat. Der Berliner Phantomjäger findet ferner bei einem Antiquitätenhändler eine dunkel angelaufene Metallplatte, signiert im nämlichen Jahr vom nämlichen Silvius, und ist überzeugt, die erste Fotografie der Geschichte vor sich zu haben.
An dieser Trophäe zeigt indes auch Sandra Kopp, eine auf Frauenliteratur des Barock spezialisierte Professorin, lebhaftes Interesse, ist sie doch im Besitz eines galanten Briefromans, der die Liebesbeziehung zwischen Schwarz und seiner rebellischen Cousine Sophie von Schlosser, ihres Zeichens Mathematikerin und Gambenvirtuosin, in erotischen wie lebensweltlichen Details vergegenwärtigt. Der dilettierende Forscher verabredet sich mit der etablierten Gelehrten und stiehlt ihr das Dokument; die schöne, arrogante Frau Professor aber wird nun zu seiner zweiten Obsession, was besonders komische Züge annimmt, wenn er ihr Privatleben im Boulevardmagazin Gala verfolgt und die Fotos im Sinne barocker Emblematik als an ihn adressierte Botschaften deutet.
Die Handlung verteilt sich also auf die Druckbögen, den Briefwechsel und die „Anmerkungen des Herausgebers“, und es erfreut das Auge, dass Barock und Gegenwart durch zwei verschiedene Schrifttypen markiert sind. Dass Mathias Gatza nicht versucht hat, den „historischen“ Schreibern ein imitiertes Barockdeutsch unterzujubeln, ist eine nachvollziehbare Entscheidung – andererseits hätte man sich, aus atmosphärischen Gründen, ein wenig mehr stilistische Differenzierung doch gewünscht. So wie Musiker heute die Idiome verschiedener Epochen lernen und charakteristisch wiedergeben, müsste idealerweise auch ein Schriftsteller sein Instrument, die Sprache, in Bauform und Klangfarbe dem vorgetäuschten Hintergrund anpassen können, um der stärkeren Wirkung willen. Gatza wollte Kunstgewerbliches vermeiden, hat jedoch gleichermaßen auf eine Vertiefung in den Geist der Zeit verzichtet.
Dafür entschädigt er uns mit seinem Erfindungsreichtum und mitreißenden Schilderungen, etwa eines verbürgten barocken Feuerwerks und eines erlogenen barocken Mondflugs. Die Musik übrigens spielt eine wichtige, wenn auch sinistre Rolle: Bei Opfern des Serienmörders, die alle merkwürdig ausgeweidet und rituell gekreuzigt werden, handelt es sich um Sänger (wobei der Terminus „Eunuch“ für den im musikalischen Kontext gebräuchlichen „Kastraten“ ein wenig stört) und Sängerinnen in höfischen Diensten. Hier spielt Gatza wieder mit Namen, erwähnt einen gewissen „Hubert Scholl“ und das „Fribourger Barockorchester“, und wahrscheinlich enthält der Text noch mehr Andeutungen dieser Art. Nur dass sich hinter dem hoch gebildeten Adligen Dietrich von Dietersdorff, mit dem die unkonventionelle Sophie eine Geschwisterehe führt, der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen verbergen könnte, wäre wohl eine allzu kühne Vermutung. Andererseits verlockt ein Roman wie dieser dazu, noch das Abwegigste für möglich zu halten.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
MATHIAS GATZA: Der Augentäuscher. Roman. Graf Verlag, München 2012. 383 Seiten, 19,99 Euro.
Wie schon Eco und Süskind
spielt der Autor mit
historischen Versatzstücken
Galanter Briefroman,
Klosterthriller und Kunst-Satire
locker in einem Buch vereint
Mathias Gatza ist ein bekennender Barockliebhaber, und spätestens seit den zweijährigen Recherchen im Vorfeld seines neuen Buchs ist er auch ein Fachmann – zumindest für die Zeit zwischen 1620 und 1690 und insbesondere für die in dieser Periode zur Hochblüte gelangte StilllebenMalerei. Das Stillleben repräsentiert aus Gatzas Sicht „die Schnittstelle zwischen Philosophie und Weltentdeckung“. Sowie zwischen Realität und Fiktion, könnte man hinzufügen, denn die Gattung stand bis zur Erfindung der Fotografie für das höchste erreichbare Maß an Wirklichkeits-Imitation. Unser Bild zeigt Juan Sánchez Cotáns um 1600 entstandenes „Stilleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke“.
Abb.: oh
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr