Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 7,55 €
  • Gebundenes Buch

Eine junge Frau steht auf einem Bahnsteig und wartet auf ihren Zug. Sie will nach Osten reisen, nach Polen, in jene Stadt, die ihre Großeltern einst verlassen hatten und die für sie nur mehr eine ferne Abstraktion ist. Dort hofft sie, Licht in die von Leid geprägte und später verdrängte Geschichte ihrer Familie zu bringen. Doch bald schon melden sich in ihrem Innern die Stimmen der Vergangenheit und beginnen einen schmerzvollen Dialog mit der Gegenwart. In ihrer dichten, lyrischen Prosa beschreibt Cécile Wajsbrot das Schicksal einer Frau, die sich nicht damit abfinden will, dass ihren Fragen…mehr

Produktbeschreibung
Eine junge Frau steht auf einem Bahnsteig und wartet auf ihren Zug. Sie will nach Osten reisen, nach Polen, in jene Stadt, die ihre Großeltern einst verlassen hatten und die für sie nur mehr eine ferne Abstraktion ist. Dort hofft sie, Licht in die von Leid geprägte und später verdrängte Geschichte ihrer Familie zu bringen. Doch bald schon melden sich in ihrem Innern die Stimmen der Vergangenheit und beginnen einen schmerzvollen Dialog mit der Gegenwart. In ihrer dichten, lyrischen Prosa beschreibt Cécile Wajsbrot das Schicksal einer Frau, die sich nicht damit abfinden will, dass ihren Fragen nach früher stets mit Schweigen begegnet wird. »Aus der Nacht« ist ein eindringliches Buch über die Narben einer Generation, die von Tod und Vertreibung selbst verschont wurde und doch für immer davon geprägt.
Autorenporträt
Cécile Wajsbrot, geb. 1954 in Paris, studierte Literaturwissenschaften, arbeitete anschließend als Französischlehrerin und Rundfunkredakteurin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin abwechselnd in Paris und Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2008

Roman einer Heimatlosen

Cécile Wajsbrot, 1954 in Paris geboren, hat ein Buch über Entwurzelung geschrieben: "Aus der Nacht" erzählt von einer Suche nach der eigenen Geschichte

Eine Frau steht in Paris am Bahnhof und wartet auf den Zug, der sie nach Polen bringen soll, in die Stadt Kielce, aus der ihre Eltern stammen und die sie noch nie gesehen hat. Der Zug verspätet sich. Erst eine Viertelstunde, dann noch eine, dann noch mal um dreißig Minuten, und spätestens dann, die Ich-Erzählerin steht immer noch auf dem zugigen Bahnsteig, die Mitreisenden haben sich mittlerweile in Mitwartende verwandelt, spätestens dann hat einen der neue Roman von Cécile Wajsbrot in seinen Bann gezogen, und man weiß gar nicht so recht, wie das passiert ist.

Vielleicht liegt es am Tonfall. Der Text liest sich, als hätte die Autorin ihn beim Schreiben laut mitgesprochen - rhythmisch, dicht, ein Satz beginnt und zieht dann immer größer werdende Kreise - und mit ihnen die Gedanken der Ich-Erzählerin, aus deren innerem Monolog das Buch besteht. Das Ganze wirkt wie ein 219 Seiten langes Rezitativ, das immer wieder von einem Chor unterbrochen ist, der in verteilten Stimmen etwas einwirft, hinzufügt oder widerspricht. Es hat etwas von einem Requiem.

"Aus der Nacht", so der Titel von Wajsbrots Roman - es ist der vierte, der ins Deutsche übersetzt ist -, handelt von etwas, das nicht mehr ist. Von etwas Vergangenem, das vermisst wird, schmerzlich, das aber unwiederbringlich verloren scheint. Die Eltern der Ich-Erzählerin, polnische Juden, waren im Krieg aus ihrer Heimatstadt Kielce geflohen, um in Paris ein neues Leben zu beginnen. Ein radikaler Bruch, sie blickten nie mehr zurück, nur noch nach vorne, sprachen nie von früher, nie von Kielce, nie von Verwandten, die in Auschwitz ermordet wurden. Nicht einmal ihre Sprache gaben sie an das einzige Kind, ihre Tochter, die Ich-Erzählerin, weiter. Die wächst in Paris auf, ohne dort zu Hause zu sein. Ohne irgendwelche Wurzeln. Ohne ihre eigene Geschichte. Der Roman erzählt von ihrer Suche danach.

"Nicht alles ist autobiographisch", sagt Cécile Wajsbrot, die ich in Berlin treffe, wo sie zurzeit lebt, "aber viel." Und dann sprechen wir über die Fragen, um die der Roman kreist, und irgendwann sind wir unmerklich zu ihrer eigenen Geschichte übergewechselt und zu den Fragen, die sie, Cécile Wajsbrot, ihr Leben lang begleiten, und Antworten finden wir auch heute nicht.

Wajsbrots Eltern stammen aus diesem Kielce, einer Stadt nordöstlich von Krakau, deren Bevölkerung früher zur Hälfte aus Juden bestand, die eng beieinander wohnten und Jiddisch sprachen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges lebte dort kein Jude mehr, wer nicht ermordet war, war geflohen. Nach und nach kehrten dann die ersten zurück, und 1946 kam es zu dem Vorfall, der der Stadt traurige Berühmtheit gebracht hat: Von antisemitischem Hass erfüllte Bürger aus Kielce ermordeten am 4. Juli 1946 41 Juden, weitere 80 wurden verletzt. Er ist der bekannteste Pogrom nach dem Zweiten Weltkrieg. Von Wajsbrots Familie war niemand betroffen - die Familie ihrer Mutter emigrierte schon in den frühen dreißiger Jahren nach Frankreich, ihre Mutter ist in Paris geboren; ihr Vater floh während des Krieges.

Obwohl die Geschichte aus einem osteuropäischen Schtetl in ein assimiliertes Leben in Paris führt, besteht Wajsbrot darauf, dass es keine jüdische Geschichte sei. "Das Wort ,jüdisch' kommt in dem Buch keinmal vor, und das war mir auch wichtig." Sie habe abstrakter, symbolischer vom Verlust von Heimat erzählen wollen, von der Leerstelle in der eigenen Identität.

Das tiefste Gefühl, das Wajsbrot kennt, ist das Gefühl der Entwurzelung. Das Gefühl, nirgends dazuzugehören, nirgends und zu niemandem. In Paris fühle sie sich schon wohl, sagt sie, aber sie sei doch keine echte Französin, obwohl ihr Pass das behauptet. Als Jüdin fühlt sie sich auch nicht, sie wisse zu wenig darüber, aber Nichtjüdin sei sie auch wieder nicht. Sie habe ihn immer schon stark gespürt, den Lockruf der Generationen, sie weiß auch nicht warum - "meine sechs Cousinen sind nicht so" - sie wusste, sie musste nach Kielce fahren. Was auch immer sie dort zu finden hoffte.

Eine "seltsame Erfahrung" nennt sie ihre zum Roman verarbeitete Reise. Zwei Erkenntnisse habe sie dabei gewonnen: 1. Die Stadt existiert tatsächlich und ist seither mehr für sie als nur ein Name. 2. Die Stadt hatte nichts mit ihr zu tun. Das Gefühl der Entfremdung war dort so stark wie anderswo. Hier gab es auch kein Zuhause für sie.

Momentan lebt Wajsbrot in einer Wohnung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, deren Stipendiatin sie ist, die sie möbliert übernommen hat und in der sie sich vorsichtig wie ein Gast bewegt. Einen Schrank findet sie besonders scheußlich, sie hatte ihn lange mit einem Tuch verhängt, aber nachdem jeder, der vorbeikam, als Allererstes wissen wollte, was sich hinter diesem Tuch verbarg, hat sie es wieder abgehängt. Egal, sie fühlt sich trotzdem wohl hier, sagt sie, und ein Lächeln huscht über ihr sonst meistens ernstes Gesicht.

Warum ausgerechnet Berlin?

"Mir gefällt es hier." Unter all den Menschen ohne Geschichte, an denen es in dieser immer neuen Stadt ja wirklich nicht mangelt, fühle sie sich wohl. Sie nennt Berlin eine "zweite Heimat", überlegt einen Augenblick, "oder sogar Heimat?" Vorsichtshalber formuliert sie es als Frage. Dann zitiert sie aus dem Roman "Ich - ein Anderer" von Imre Kertész: "Es ist etwas anderes, zu Hause heimatlos zu sein als in der Fremde, wo wir in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden können." In Berlin sei sie eine Fremde, natürlich, aber hier sei es richtig.

Und dann sprechen wir doch noch einmal über den jüdischen Teil ihrer Identität, und sie erzählt, dass sie so "satt" sei von dieser Geschichte - "immer schenken mir Leute Bücher über den Krieg. Und noch einmal und noch einmal, immer dieselbe Geschichte. Ich will nicht nur mit diesem Thema in Verbindung gebracht werden." Sie habe den richtigen Abstand dazu finden wollen, sagt sie. "Nicht zu nah, und nicht zu weit entfernt." Von Paris aus gesehen, liegt Berlin auf halbem Weg nach Kielce.

JOHANNA ADORJÁN

Cécile Wajsbrot: "Aus der Nacht". Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlag Liebeskind, 219 Seiten, 19,80 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Niklas Bender kann sich mit Cecile Wajsbrots Roman, in dem eine junge Journalistin, Enkelin von Schoa-Überlebenden, mit dem Nachtzug von Paris in ein kleines Nest nach Polen reist, um dort nach der totgeschwiegenen und verdrängten Geschichte ihrer Familie zu forschen, nicht recht anfreunden. Dass der Roman die Handlung ganz in imaginäre Dialoge der Reisenden mit Vater und Tante legt, während äußerlich kaum etwas geschieht, findet der Rezensent durchaus reizvoll. Allerdings moniert er bei aller Hochachtung für den "eleganten" Stil der Autorin, dass die Vergangenheitserforschung und -bewältigung allzu reibungslos und "glatt" vonstatten geht und so gehe dieser Roman als Erinnerungsarbeit einfach zu "restlos" in der Selbstfindung der Heldin auf.

© Perlentaucher Medien GmbH