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Diese einzigartige Kombination aus Darstellung, Analyse und Reflexion erhellt beispielhaft, wie Katastrophenereignisse in der Geschichte immer wieder neu verarbeitet und gedeutet werden.
So auch die Eroberung Roms durch Alarich im Jahr 410, die schon die Zeitgenossen und dann die Nachwelt bis hin zur modernen Geschichtsschreibung zu großen, historisch wirkmächtigen Geschichtsbildern angeregt hat. Das reicht von den Deutungen eines entsetzten Zeitgenossen wie Hieronymus bis zu der Verherrlichung Alarichs in der deutschen Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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Produktbeschreibung
Diese einzigartige Kombination aus Darstellung, Analyse und Reflexion erhellt beispielhaft, wie Katastrophenereignisse in der Geschichte immer wieder neu verarbeitet und gedeutet werden.

So auch die Eroberung Roms durch Alarich im Jahr 410, die schon die Zeitgenossen und dann die Nachwelt bis hin zur modernen Geschichtsschreibung zu großen, historisch wirkmächtigen Geschichtsbildern angeregt hat. Das reicht von den Deutungen eines entsetzten Zeitgenossen wie Hieronymus bis zu der Verherrlichung Alarichs in der deutschen Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Autoren stellen die wichtigsten Interpretationen dieses epochalen Ereignisses vor und zeigen,wie wenig wir über das eigentliche Geschehen im Jahr 410 wissen.
Autorenporträt
Mischa Meier, geboren 1971, Studium der Klassischen Philologie und der Geschichte an der Universität Bochum. 1998 Promotion über das frühe Sparta; 1999 bis 2004 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Bielefeld. Seit 2004 Professor für Alte Geschichte in Tübingen. Wichtige Veröffentlichungen: 'Das andere Zeitalter Justinians', 2004; 'Justinian. Herrschaft, Reich und Religion', 2004. Steffen Patzold, geboren 1972, Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Journalistik an der Universität Hamburg. 1999 Promotion über 'Konflikt im Kloster' im ottonisch-salischen Reich. Seit 2007 Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften in Tübingen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2010

Vier Tage im August
Ende einer Zivilisation: Am 23. August 410 eroberten die Westgoten unter Alarich Rom
Jahrestage und Jubiläen, so mechanisch ihre Wiederkehr anmuten mag, haben doch das eine Gute an sich, dass sie Dinge ins Gedächtnis rufen, an die man schon lang nicht mehr gedacht hat. Genau 1600 Jahre ist es diese Woche her, dass die Stadt Rom in die Hände der Westgoten fiel. Am 23. August 410 nahmen sie unter ihrem Führer Alarich die Stadt ein, plünderten sie, und am 27. August zogen sie wieder ab. Mehr als diese dürren Tatsachen, die kaum zwei Zeilen füllen, sind historisch nicht mit Sicherheit belegt, alle weiteren Angaben in der uferlosen Literatur, die von diesem Ereignis gezeitigt wurde, stehen unter Verdacht, tendenziöse Ausschmückung zu sein. Und dennoch gab es kaum je einen Zweifel, dass diese vier Tage im August Besonderes bedeutet haben.
Rom war damals schon lang nicht mehr jene stolze Stadt, die es geschafft hatte, sich den ganzen Erdkreis zu unterwerfen. Das Reich kam inzwischen ganz gut ohne sie aus, die Kaiser residierten seit mehr als hundert Jahren auswärts, in Konstantinopel, in Trier, Mailand, Arles oder Ravenna. Und obwohl viele Stadtrömer geflohen waren und Grauenhaftes zu erzählen hatten, ging das Leben in der Stadt danach offenbar wenig verändert weiter. 45 Jahre später war sie für die germanischen Eroberer (diesmal die Vandalen) jedenfalls immer noch attraktiv genug, um sie ein zweites Mal zu plündern.
Die unmittelbaren praktischen Folgen scheinen sich demnach im überschaubaren Rahmen gehalten zu haben. Aber die symbolische Wirkung des Ereignisses war ungeheuer. Noch immer galt Rom als das, was es faktisch nicht mehr war, als Zentrum der Welt und der Zivilisation. Den Westgoten gelang, was seit achthundert Jahren nicht mehr geschehen war: Auswärtige Feinde hatten die Stadt genommen. „Was ist noch heil, wenn Rom fällt?“ fragten die Zeitgenossen.
Dabei kann das Ereignis keine völlige Überraschung gewesen sein. Seit Jahrzehnten schon hatten germanische Völkerschaften, Goten, Franken, Vandalen, Sueben, Alemannen, Burgunder, ihre Raubzüge quer durch das ganze westliche Imperium unternommen. Alarich mit seinen Goten hatte sich schon zweimal vor Rom gezeigt, ohne es jedoch erobern zu können oder zu wollen. Im Grunde konnte sich jeder ausrechnen, dass es früher oder später den Barbaren zur Beute fallen würde.
Es ist ermüdend, die Geschichte jener Jahrzehnte zu lesen. Ermüdend und traurig, denn es kommt bei diesen überaus komplexen Vorgängen, deren Bild sich fast von Jahr zu Jahr ändert, so wenig anderes heraus, als dass es immer abwärts geht, aber nicht geradlinig, sondern in Spiralen; immer wieder taucht plötzlich noch ein Gegenkaiser oder halbbbarbarischer General auf, der den Eindringlingen die Stirn bietet, die Lage auf drei Jahre rettet, dann bricht ein neuer Trupp Germanen aus dem Norden oder Osten herein, oder die Armee meutert, oder der Hoffnungsträger wird von einem eifersüchtigen Höfling vergiftet.
Die Zeit ist erfüllt von ungeheuern Anstrengungen und Umschwüngen; doch die Gesamtbilanz bietet sich vor allem so dar, dass immer neue Landstriche in die Zerstörung hineingezogen werden und die aufgehäuften Früchte eines Jahrtausends Zivilisation in einem langsamen Brand zugrundegehen.
In dieser Lage mag es fast wie eine Erlösung erschienen sein, als das Unausdenkliche und doch Absehbare endlich geschah und der dumpfe Druck der Zeit sich in offenen Tränen entladen konnte. „Die Stimme stockt, und Schluchzen unterbricht die Stimme beim Diktieren“, schreibt der Kirchenvater Hieronymus, „eingenommen ist die Stadt, die den ganzen Erdkreis eingenommen hat (. . . ) Das strahlendste Licht aller Länder ist ausgelöscht, ja des Römischen Reiches Haupt abgeschlagen“.
Was war der Sinn dieser sinnlosen Zerstörung? Darum wurde sofort aufs Heftigste gestritten. Seit hundert Jahren hatte das Christentum die Stellung einer Staatsreligion inne, doch die alten Kulte, getragen von einer immer noch einflussreichen aristokratischen Oberschicht, blieben stark. Die Niederlage hatte Christen und Heiden gemeinsam getroffen; aber das Unglück vereinte sie nicht. Die Heiden sahen es nunmehr als erwiesen an: Seit Christus Rom beherrschte, war es nur noch bergab gegangen!
Die Christen brachte das in nicht geringe Verlegenheit. Immerhin war Rom die Stadt, in der die Apostelfürsten Petrus und Paulus begraben lagen. Warum hatten diese nicht eingegriffen? Da half nur die Vorstellung vom göttlichen Strafgericht; an hinreichend sündigem Verhalten hatten es ja weder Heiden noch Christen fehlen lassen. Alarich war kein selbständig agierender Feind, sondern göttliches Werkzeug der Züchtigung. Und er verfuhr dabei noch allzu milde. Waren nicht unmittelbar nach dem Abzug der Goten mehrere von ihnen verschonte Gebäude vom Blitz getroffen worden? Hier hatte die Hand Gottes sichtbar nachgebessert, weil die Barbaren zu lasch gewesen waren.
Das Argument des Strafgerichts aber bedurfte, um Kraft zu erlangen, noch einer anderen Fundamentierung. Dies begriff Augustinus, bedeutendster Theologe seiner Zeit und Bischof von Hippo Regius in Nordafrika. Dorthin waren viele stadtrömische Flüchtlinge gelangt, und Augustinus stand unter gewaltigem Druck, das Unerhörte zu deuten. Fünfmal predigte er in dieser Zeit zum Thema; und es lieferte ihm den Anlass für sein Hauptwerk, „De Civitate Dei – Vom Gottesstaat“. Geschulter Rhetoriker, der er war, trug er seine Sache in einem dialogischen Spiel vor.
„,Die Barbaren haben Rom geplündert, die Römer haben alles verloren!’ – ,Nun, etwa auch ihren Glauben? Oder ihre Frömmigkeit? Oder die Güter des inneren Menschen, der reich ist vor Gott?’ –
,Die Barbaren haben auch Christen gefoltert, um ihnen Beute abzupressen!’ – ,Wenn sie sich lieber foltern lassen wollten, als den ungerechten Mammon auszuliefern, waren sie eben keine guten Menschen.’ – ,Viele Christen sind gestorben!’ – ,Das ist zwar beklagenswert, aber doch das Schicksal all derer, die durch die Geburt ins irdische Leben treten.’“
Augustinus spricht mit einer Härte, die uns heute zynisch vorkommt. Aber man kann ihm nicht nachsagen, dass er den Stier nicht bei den Hörnern packt. Die Katastrophe nahm er als den Ausgangspunkt, um scharf die völlige Scheidung des irdischen und des himmlischen Gemeinwesens durchzuführen. Was immer dem Menschen auf Erden geschieht, es ist gleichgültig im Hinblick auf sein wahres Schicksal, das Heil seiner unsterblichen Seele. Indem die Ereignisse ihn zwingen, dies in völliger Unmissverständlichkeit zu formulieren, wird das Jahr 410 zum geistesgeschichtlichen Grenzstein, der die Antike vom Mittelalter trennt.
Es ist das Verdienst eines neuen Buchs von Mischa Meier und Steffen Patzold (August 410. Ein Kampf um Rom, Klett-Cotta, 260 Seiten, 19,90 Euro; SZ vom 16. 3. 2010), zu zeigen, wie ein Vorfall, von dem wir so gut wie nichts Genaues wissen, durch die Interpretationen erst der direkt betroffenen Zeitgenossen, dann der immer weiter entfernten Nachwelt in immer neuen Deutungsschichten zum epochalen Ereignis anwuchs. Meier und Patzold verfolgen das Skandalon des von den Goten geplünderten Roms durch Spätantike, Mittelalter und Neuzeit. Auf den Abscheu vor den Barbaren und die Fügung in den göttlichen Willen folgt der Gotenstolz der Spanier und Schweden, die sich rühmen, von den Plünderern Roms herzustammen, und die nationale Vereinnahmung durch die deutsche Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert.
Nicht ohne Ironie gehen die Autoren der Geschichte solcher Geschichtsschreibung nach bis in die Gegenwart und nennen ihr letztes Kapitel „Ein neuer Kampf um Rom“; sie behandeln darin die einander befehdenden jüngsten Deutungen der Völkerwanderungszeit durch die Historiker Herwig Wolfram und Michael Kulikowski. Diese beiden erzählen ihre jeweilige Geschichte.
Erzählen, daran lassen die Meier und Patzold keinen Zweifel, ist grundsätzlich eine gute Sache; aber es erzählt ein jeglicher die Welt, wie er sie sieht. Ganz nebenbei erklären sie damit die Trennung der Sphären von zu kritisierender „Quelle“ und Kritik leistender „Forschungsliteratur“ – eine Trennung, in die die historische Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert ihren ganzen Stolz gesetzt hatte – für tendenziell nichtig: Man möge sich keinen schmeichelhaften Illusionen von Objektivität und Dauer hingeben, die Sekundärliteratur von heute sei die Quelle von morgen; auch sich selbst nehmen sie da nicht aus. Vielleicht würde ja in fünfzig Jahren schon über sie geforscht.
Meier und Patzold haben ein ausgezeichnetes, ein so geist- wie gedankenreiches (und höchstens hier und dort ein wenig flapsig formulierendes) Buch geschrieben, das man jedem, der nicht nur die Geschichte einer bestimmten Zeit, sondern die Mechanismen kennenlernen will, durch die wechselnde Zeiten sich Geschichte anzueignen pflegen, empfehlen möchte.
Sie hätten es freilich nicht schreiben können, wenn nicht die Gunst der Stunde in Gestalt des Jubiläums ihnen einen Stoff beschert hätte, der Kraft auch in der Gegenwart besitzt. Zwei Aspekte daran haben heute besonderes Interesse.
Zum einen fasst die Plünderung von 410 brennpunkthaft das ganze fünfte Jahrhundert zusammen (viel stärker als der antiklimaktische Sturz des letzten Kaisers im Jahr 476). Das fünfte Jahrhundert aber bleibt die große Mahnung, dass es möglich ist, hinter einen global erreichten zivilisatorischen Standard, der über Jahrhunderte galt, zurückzufallen; dass alle wirtschaftlichen, politischen, geistigen und der Bequemlichkeit dienenden Errungenschaften wegbrechen können und dann für viele Generationen – im Fall Roms und des Mittelalters: etwa dreißig – nicht mehr zur Verfügung stehen. Da es schon einmal geschehen ist, kann es wieder geschehen.
Zum anderen haben auch wir ein vergleichbares Ereignis gerade, das heißt bloß neun Jahre, hinter uns. Auch der Angriff auf das World Trade Centre am 11. September 2001 war schrecklich als Faktum, schrecklicher aber durch das, was er symbolisiert: die Verletzlichkeit der vertrauten Welt im geschützt gewähnten Zentrum.
BURKHARD MÜLLER
Das Jahr wird zum
Grenzstein, der die Antike
vom Mittelalter trennt
Alle wirtschaftlichen, politischen,
und geistigen Errungenschaften
können wegbrechen
Eine Postkarte aus späteren Zeiten, die sich gern am Schauder über die Plünderung Roms erfreuen Foto: Mary Evans/Interfoto
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010

Tränen über mein Lieblingshühnchen Roma

Ansichten einer Katastrophe: Mischa Meier und Steffen Patzold sammeln Nachrichten über den Untergang Roms.

Von Andreas Kilb

Am 24. August 410 eroberte ein aus Goten, Hunnen, Alanen und anderen Völkerschaften gemischtes Heer unter der Führung Alarichs die ehemalige Hauptstadt des Römischen Reiches und plünderte sie drei Tage lang. Ferdinand Gregorovius, der Autor der populären "Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter", hat das Ereignis geschildert: "Die Barbaren ergossen sich durch alle Viertel Roms, jagten die Schwärme der Flüchtlinge vor sich her und metzelten sie nieder . . . Indem sie in dem ersten Triebe nach Gold Paläste und Thermen, Kirchen und Tempel angriffen, entleerten sie Rom mit der Hast von Räubern wie eine Schatzkammer. Der trunkene Hunne hielt sich nicht bei der Betrachtung der Kunst auf, welche alexandrinische Meister für den feinsten Luxus der Frauen Roms verwandt hatten . . . Die Plünderer ergriffen diese Schätze, nachdem sie zuvor den zitternden Schlemmer Fabunius oder Reburrus niedergestoßen und die Besitzerin in ihrer brutalen Umarmung erstickt hatten. Kaum konnte in einer Stadt der Welt je eine reichere Beute dem Feinde zugefallen sein . . ."

An dieser Beschreibung, mit der Generationen deutscher Gymnasiasten und Rompilger aufgewachsen sind, ist nichts falsch - außer dass sie frei erfunden ist. Sie ist ebenso sehr Fiktion wie alle anderen Berichte über den Fall der Ewigen Stadt vor sechzehnhundert Jahren, die der Althistoriker Mischa Meier und der Mediävist Steffen Patzold in ihrer Studie über den "Kampf um Rom" Revue passieren lassen. Denn keiner der Geschichtsschreiber, die sich bei Meier und Patzold die Klinke der Überlieferung in die Hand geben, hat das Drama vom August 410 mit eigenen Augen gesehen. Selbst das, was die Zeitgenossen über Alarichs welthistorischen Coup erzählt haben, war von Anfang an Deutung, Ausschmückung, Imagination. Bis ins neunzehnte Jahrhundert, als Gregorovius sein grandioses Untergangspanorama dichtete, wuchs so ein babylonischer Turm von Romgeschichten und -bildern über einem unsichtbaren Fundament, einem im Abgrund der Zeit versunkenen Stück Wirklichkeit heran. Niemand wusste, was wirklich in Rom passiert war, aber jeder wollte es wissen. So bekam jede Epoche die Katastrophenstory, die ihr passte.

Was Meier und Patzold in diesem Buch tun, könnte man schlicht als Quellenkritik bezeichnen. Aber das würde ihrem ebenso simplen wie raffinierten Ansatz nicht gerecht. Denn statt wie die klassische Geschichtsschreibung zu versuchen, die Wahrheit durch vergleichende Lektüre aus den Quellen herauszufiltern, wechseln unsere beiden Autoren einfach die Blickrichtung und betrachten die allmähliche Verfertigung des Ereignisses in der historischen Erzählung. Dabei wird einerseits klar, dass es die eine und ganze Wahrheit über den Fall von Rom nie gegeben hat. Andererseits blickt man in ein Labyrinth von Narrativen und Spekulationen, das ebenso reich und rätselhaft ist wie das Geschehen selbst. Nicht die Goten und Römer, sondern die schreibenden Schlachtenbummler der Weltgeschichte sind die Helden dieses Bandes.

Die Konstruktion der Untergangserzählung beginnt schon vor ihrem eigentlichen Anlass - mit einem Panegyrikus, den der römische Dichter Claudian im Jahr 402 auf den germanischstämmigen Feldherrn Stilicho, seinen Gönner, verfasste. Darin verglich er die Taten Stilichos, der gerade die Scharen Alarichs aus Italien vertrieben hatte, mit den Werken griechischer Sagenhelden und kam zu dem für Eingeweihte keineswegs überraschenden Ergebnis, dass der spätantike Kriegsmann die klassischen Recken à la Jason weit übertroffen habe. Um diese Behauptung halbwegs plausibel zu machen, dehnte Claudian den Gotenkrieg Stilichos glatt auf dreißig Jahre aus. So wuchs das Format seines Förderers mit der Größe der Gefahr.

Doch bald verstummte der Dichter, Stilicho starb durch Henkershand, und Alarich kehrte zurück, so dass der Kirchenvater Hieronymus im Spätsommer 410 in seinem Jerusalemer Exil vor der Herausforderung stand, die Neuigkeiten aus Rom in einen heils- und unheilsgeschichtlichen Zusammenhang zu betten. Er fand ihn beim alttestamentlichen Propheten Daniel und bei Claudian, dessen Stilicho-Apotheose er ins Gegenteil verkehrte ("der Barbar ist an allem schuld"), ohne an seinem Gotenkriegsnarrativ ein Jota zu ändern. Ganz anders sah es dagegen der heilige Augustinus, der zur gleichen Zeit im nordafrikanischen Hippo seinen "Gottesstaat" zu schreiben begann. Für ihn war der Fall der Stadt ein Fanal für das Ende des antiken Heidentums: Gott hatte die Römer für ihre Laster gestraft, nicht für die Zerstörung der paganen Altäre.

Um diese Deutung historisch zu untermauern, beauftragte Augustinus seinen Freund und Schüler Orosius mit der Abfassung einer Weltchronik, die den Weg vom Götzen- zum Gottesdienst als konsequente Aufwärtsbewegung nachzeichnete. Orosius' "Historiae adversum paganos" wurden zu einem der einflussreichsten Geschichtswerke des Mittelalters. In die Erzählung vom Untergang Roms aber ging vor allem jene Anekdote ein, die vom Triumph einer glaubensstarken Nonne über einen raubgierigen Goten berichtete: Gerührt von Gottesfurcht wie vom Glanz liturgischer Geräte, hätten sich Römer und Barbaren zu einer Prozession quer durch die Stadt vereint. Orosius hat den Umzug erfunden, um ein geschichtsphilosophisches Argument zu bekräftigen. Bei seinen Nachfolgern wurde er zum blanken historischen Faktum.

Am Ausgang der Antike wuchsen die Orosius-Anekdote und die Greuelbilder des Hieronymus mit der Gotengeschichte zusammen, die der Byzantiner Jordanes um 550 aus seiner Lektüre eines heute verschollenen Werks von Cassiodor und eigenen obskuren Quellen destillierte. Zugleich wurde, bei Zosimos, Philostorgios und anderen Chronisten, jener Topos vom Versagen des Westkaisers Honorius populär, dem das brillante Schandmaul Prokop seine endgültige szenische Form gab: Als Honorius erfahren habe, Roma sei gefallen, habe er zunächst den Tod seines gleichnamigen Lieblingshühnchens beweint, bevor er zu seiner Beruhigung erfuhr, dass nicht der Gickel, sondern die Stadt gemeint war. Auch dieses fiktive Charakterbild bereitet den Verächtern spätrömischer Dekadenz bis auf den heutigen Tag viel Freude.

So machte der Fall der Stadt in den Chroniken des Abendlands Karriere - als Etappe in der historischen Versöhnung von Römern und Westgoten (bei Isidor von Sevilla), als Beleg für das Walten Gottes in de Geschichte (Otto von Freising), als Beweis für die moralische Überlegenheit der Germanen (Franciscus Irenicus). Als Johannes Magnus im sechzehnten Jahrhundert die alte Jordanes-These von der skandinavischen Urheimat der Goten akutalisierte, fiel sein Vorstoß auf fruchtbaren geschichtspolitischen Boden: Noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein ließ sich jeder schwedische Monarch offiziell als "König der Schweden, Vandalen und Goten" anreden.

Es versteht sich, dass bei einer Tour de force durch die Historiographie, wie sie Mischa Meier und Steffen Patzold unternehmen, nicht jede Station zur Oase der Erkenntnis wird. In den Kapiteln über Edward Gibbon und Gregorovius, die beiden Vollender der klassischen Ereignisgeschichte, wünschte man sich weniger Anekdotisches und mehr Analyse, während dem Überblick über die alldeutsche Gotenverehrung von Felix Dahn bis Wilhelm Capelle ein stärkeres zeitgeschichtliches Kolorit gutgetan hätte. Auch der Schlussteil, in dem der deutsche Ethnogenese-Forscher Herwig Wolfram und der amerikanische Historiker Michael Kulikowski gegeneinander antreten, gerät etwas flach. Und dass die jüngsten Rom-Studien von Peter Heather und Bryan Ward-Perkins nicht ausführlicher behandelt werden, dürfte auch den Autoren selbst schon bald als Versäumnis erscheinen.

Aber das sind lässliche Schwachstellen bei einem Projekt, das für die zeitgenössische Geschichtswissenschaft in jeder Hinsicht ein Gewinn ist. Wie man den "Schichtkuchen" der Quellen aufschneidet, ohne dass er in sich zusammenfällt, das haben Meier und Patzold mit diesem Buch auf faszinierende Weise gezeigt. Am Ende bleibt ihnen die Einsicht, dass auch ihr eigenes metahistorisches Schreiben sich nicht aus dem Griff der Fiktion befreien kann: "Auch Clio dichtet." Und Rom war immer ihr schönstes Gedicht.

Mischa Meier/Steffen Patzold: "August 410 - Ein Kampf um Rom". Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010. 260 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wenig erwärmen kann sich Rezensent Gustav Seibt für dieses Buch über den Untergangs Roms, das die Historiker Mischa Meier und Steffen Patzold vorgelegt haben. Eingehend rekapituliert er die Nachwehen dieses Ereignisses, das Historiker durch die Jahrhunderte fasziniert und das Geschichtsdenken des Mittelalters begründet hat. Den Autoren hält Seibt vor, sich mit der Schilderung der Interpretationen von Roms Fall zu begnügen, das historische Geschehen aber in einem "verallgemeinernden Erkenntnisrelativismus" aufzulösen. Damit bleiben sie für ihn hinter den seit den siebziger Jahren von Arno Borst und Georges Duby geführten Debatten zur "Konstitution von historischen Ereignissen" zurück.

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